die Frage „Warum gerade hier?“ lässt sich nun leichter beantworten, als dies ohne genographische Analyse möglich wäre: „Weil der Großvater im Krieg gefallen ist und darum seinen Sohn, den Vater des Patienten, nicht instand gesetzt hat, einem Sohn gegenüber Verantwortung wahrzunehmen.“ Freilich sind in Bezug auf die Frage nach Ort und Art der Erkrankung weitere Kenntnisse erforderlich, die sich sowohl auf die Stellvertretungsordnung in Familien als auch auf die Symbolik und Stellvertretungsordnung des Körpergeschehens beziehen.
Die Erkenntnis, dass der erste und einzige Sohn unter anderem Stellvertreter jenes Großvaters ist, bildet eine erste Grundlage zur Deutung des Krankheitsgeschehens. Es gibt aber darüber hinaus, wenn ich meine Erfahrungen verallgemeinern darf, auch eine - für die Theorie der Medizin höchst interessante Stellvertretungsordnung der verschiedenen Organe innerhalb eines Leibes, auf die ich im nächsten Kapitel noch kurz eingehen werde. Dem rechten Bein eines Kindes entspricht nämlich der Standfestigkeit, die ein Kind ganz leibhaftig vom Vater erhält - wie das linke Bein die Funktion der Mutter übernimmt, wenn es gilt, selbständig durch das Leben zu gehen. Ein Mensch braucht die Fürsorge von Mutter und Vater, um seine volle Selbständigkeit ohne ungewöhnliche Einbrüche zu erlangen. Dass ein Vater zu einem bestimmten Zeitpunkt seinen Vater verloren hat, kann bei seinem Sohn zur Überlastung des rechten Beines führen, sobald dieser ein Alter erreicht, in dem er das Gewicht seines Vaters stellvertretend für den Großvater zu tragen hat. Die Dysfunktion der Stellvertretung des Kindes für die Eltern scheint sich symptomatisch in einer symbolisch zu verstehenden Störung in der Stellvertretungsfunktion der Organe zu verraten: Es ist, als würden sich die Eltern in einer universellen Sprache der Organe bei dem Kind beklagen, „weil“ dies Kind ihnen nicht dazu verhilft, ihren Schmerz zu lindern, ihre Wunden zu heilen und ihnen die Arbeit der Trauer zu ersparen.
Der sprachlich hergestellte, etymologische Bezug zwischen der zeitlichen „Weile“ und dem begründenden „Weil“ ist offensichtlich. Die Zeitverhältnisse werden in der Umgangssprache wie selbstverständlich für den Grund eines Geschehens genommen.
Die dritte Frage „Warum gerade so?“ ist nicht mehr allzu schwer zu beantworten, wenn man die Symbolik des Leibgeschehens und die Problematik des Stellvertretertums über den Rahmen des Familienlebens hinaus weiter verfolgt, ohne unsere leibliche Verbundenheit mit unseren Vorfahren aus den Augen zu verlieren. Dann zeigt sich: Der Bruch erfolgte beim Fußballspiel, und zwar dadurch, dass ein gegnerischer Spieler unfair nachtrat. Im damaligen Geschehen fand also ein stellvertretender und symbolischer Ausgleich insofern statt, als einerseits der Stellvertreter des Großvaters trotz des „Fallens“ am Leben geblieben ist und erfolgreiche ärztliche Hilfe erhielt, andererseits der Gegner vom Platz gestellt und einige Monate lang für jedes weitere Spiel gesperrt wurde. Das ist ein - nicht nur in Friedenszeiten - annehmbarer Ersatz für die Todesstrafe, die die Familie des Patienten dem Kriegsgegner des Großvaters als Strafe vermutlich hätte abverlangen mögen.
Mit anderen Worten: Wir haben es bei dem Beinbruch meines Patienten mit einer Inszenierung zu tun, die zwischen zwei Menschen unbewusst vonstatten gegangen ist und die als solche nicht aufklärbar wäre, wenn die „Perspektive dritter Ordnung“, wie ich sie oben bezeichnet habe, nicht zur Verfügung stünde. Aus Erfahrungen mit anderen Personen wage ich die Behauptung, dass eine genografische Analyse des Platzverweises auf Seiten des zweiten Beteiligten ein korrespondierendes Ergebnis erbracht hätte.
Versagensängste
Eine weitere Krankengeschichte mag beispielhaft jene Phasen der Forschung beleuchten, in denen der Boden, den ich mit meiner Sicht der Dinge betreten hatte, zu schwanken schien und in denen ich der Auffassung zuneigte, dass ich es bei meinen biografischen Funden lediglich mit einer - freilich immer noch erklärungsbedürftig auffälligen - Häufung ähnlicher Ereignisse, nicht aber mit einem wirklichen Gesetz zu tun hätte, das keine Ausnahmen duldet:
Ein 35-jähriger Patient kam zur Therapie, weil er sich isoliert und nutzlos fühlte, nachdem er gerade erst erneut seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Er leide unter „Kommunikationsproblemen“, und es sei ihm aufgefallen, dass er in seinem Leben niemals das gemacht habe, was er selbst wollte, sondern sich in unangenehme Rollen, lästige Aufgaben und berufliche Fehlentscheidungen habe hineinzwängen lassen, aus denen er nur entweder krankheitsbedingt oder mit tiefer Empörung ausgestiegen sei. (Vgl. Abb. 2.4)
Abb. 2.4: Versagensängste (1984)
Aus seinem Familienstammbaum ging hervor, dass der Großvater väterlicherseits starb, als der Vater 22 Jahre alt war. Auf meine Frage, was sich in seinem Leben Besonderes ereignet habe, als er selbst 22 Jahre alt war, fiel ihm auch bei verstärktem Nachdenken nichts ein: Er erinnere sich gut an jene Zeit, weil sie gerade relativ gleichmäßig, nämlich sehr langweilig verlaufen sei. Da er nach dem frühen Tod des ersten Bruders geboren wurde, war der Patient der einzige lebende Sohn seiner Eltern. Insofern verwirrte mich seine Antwort. Ich hätte aufgrund meiner bereits jahrelangen Erfahrungen mit genografischer Analyse meine Hand dafür ins Feuer legen mögen, dass dies Lebensalter von außerordentlicher Dramatik hätte sein müssen - auch wenn ich nicht zu sagen wagte, ob es sich bei dem von mir Erwarteten um ein erfreuliches oder unerfreuliches Ereignis handeln werde.
Ich wollte dies - ohnehin für die Therapie nicht vordringlich scheinende - Thema schon wechseln und hatte mir vorgenommen, meine Analyse am Abend für mich allein im Stillen fortzusetzen, um meinen Irrtum zu ergründen, während ich ihm noch erklärte, dass ich selbstverständlich an seinem Wohlbefinden in höherem Maße interessiert sei als an meiner Theorie und mich durch Tatsachen sehr wohl bewegen lasse, von vorgefassten Meinungen abzugehen - da änderte ich meinen Entschluss und fragte ihn, was denn in seinem Leben geschehen sei, als er 21 Jahre alt wurde. Seine Antwort kam ohne jedes Zögern: Genau damals habe sein Problem begonnen. Er habe auf eigenen Entschluss die Fachoberschule verlassen, die er - mit innerem Widerstreben - nur zwei Monate lang besucht hatte. Er habe gegen den dort herrschenden Leistungsdruck rebelliert und sich auf das konzentrieren wollen, was ihm Spaß machte. Das aber sei ihm fortan nicht mehr gelungen.
Mit dieser Bestätigung der Korrektur meines Ansatzes, die ich gerade erst hypothetisch eingeführt hatte, kamen wir unverhofft auf das Kernproblem der Therapie: Das erste Kind seiner Eltern, sein älterer Bruder, war fast genau ein Jahr vor ihm geboren worden und nach einem Tag gestorben. Dieser erste Sohn war zugleich der ursprüngliche Stellvertreter des Großvaters väterlicherseits und wäre zu der Zeit 22 Jahre alt gewesen, als der Patient erst 21 Jahre alt war. Damit wurde anscheinend die schwere Aufgabe der Stellvertretung für ihn um ein Jahr vorverlegt. Nicht genug also, dass der Patient den Großvater zu repräsentieren hatte - er hatte dies auch noch stellvertretend und ein Jahr zu früh zu tun. So wurde die grundlegende Hypothesen in erweitertem Maße sinnträchtig. Erst anschließend erfuhr ich, dass ein Jahr darauf doch noch etwas Wichtiges passiert war: Der Vater des Patienten war genau zu der Zeit als Frührentner aus dem Berufsleben ausgeschieden, als der Patient 22 Jahre alt war.
Ich greife hier wiederum dem übernächsten Kapitel vor, wenn ich bemerke, dass der zweite Sohn Stellvertreter seines eigenen Vaters ist, was im Ergebnis oft dazu führt, dass der Vater schicksalhaft eine Ausgleichsbewegung vollzieht, die er damit dem Sohn erspart. Es scheint dann unter den Gesichtspunkten der Stellvertretungsordnung, als wäre der Vater Stellvertreter des Sohnes. In Wirklichkeit erinnert hier das Alter des Sohnes den Vater unbewusst an dessen eigene Stellvertretungsaufgabe im Dienst der Großeltern, auf die dann das Geschehen symbolisch eingeht.
Lebensbedrohliche Schilddrüsenüberfunktion
Bei den obigen Beispielen habe ich Wert darauf gelegt, dass es sich um Probleme handelt, die scheinbar völlig verschiedenen Bereichen des Lebens entnommen sind. Die Beziehungskrise eines Paares wurde neben den Ausbruch der schweren seelischen Krise eines Mannes gestellt, und es folgten die biografisch orientierte Betrachtungen eines Unfallhergangs sowie einer chronifizierten Versagensangst. Die familienbiografischen Bemerkungen über die letzteren Beispiele, in denen sowohl systemische als auch psychoanalytische Gesichtspunkte schon sehr viel konkreter berücksichtigt und neu vermittelt worden sind, sollen mir als Vorbereitung für die - diesmal ungleich ausführlichere - Demonstration der Untersuchung einer weiteren,