Paares mit Trennungsproblematik
Legende: Quadrate = männl. Personen; Kreise = weibl. Personen; durchgezogene Linie = Ehe; * = Geburtsjahr; + = Todesjahr; Pfeile = Sogrichtung der Stellvertretungsaufgaben
Die erste Graphik (Abb. 1.1) soll die Sogrichtung der Bedürftigkeit der jeweiligen Mütter nach ausgleichender Stellvertretung oder nach stellvertretendem Ausgleich durch die beiden Kinder als Pfeile darstellen. Der Sog, das soll die Graphik hauptsächlich verdeutlichen, wird auf die Ehepartner durch eine Bedürftigkeit ausgeübt, die hier jeweils von einem Vakuum im Leben der betreffenden Mütter ausgeht: vom „ungelebten Leben“ der Großeltern. Mit dieser Formulierung knüpfe ich bewusst an dem Weizsäckerschen Satz an, wonach das „ungelebte Leben das Wirksame“ sei. (Weizsäcker 1967, 249 ff)
Eine so genannte endogene Depression
Einmal gefasst, ließ mich die Idee einer an der Bedürftigkeit der Eltern orientierten Ausgleichsbewegung im Lebensschicksal der Kinder nicht mehr los. Kurz darauf kam ein Patient zu mir wegen einer seit zwei Jahren anhaltenden und in jüngster Zeit stark zunehmenden depressiven Symptomatik: Schlafstörungen, Fühllosigkeit, Initiativelosigkeit, Verstummen, Gefühl der Verlorenheit, Grübeln, Freudlosigkeit, Angst. Seit Jahren leide er unter arteriellem Hochdruck bei Fettleibigkeit. Beruflich fühle er sich seit etwa 5 Jahren überfordert durch eigentlich unerfüllbare Aufgaben im Außendienst einer Versicherung und durch Schikanen seines Vorgesetzten. Vor einigen Monaten sei der ältere Bruder seiner Mutter gestorben.
Der Mann, dessen Stammbaum ausschnittsweise in Abb. 2.2 wiedergegeben wird, war zu jenem Zeitpunkt 47 Jahre alt, verheiratet, hatte eine 18-jährige Tochter und eine 25-jährige Stieftochter aus der ersten Ehe seiner Frau. Er war das einzige Kind seiner Eltern, die 1944 heirateten. Sein Vater (Jahrgang 1900) war 20 Jahre älter gewesen als die Mutter und kurz vor Geburt des Sohnes (1945) aus der Wohnung in Oberschlesien zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppt worden. Wie ein heimkehrender Mitgefangener später berichtete, sei er dort 1947 an Typhus verstorben.
Von seiner Mutter hat der Mann erfahren, dass sie selbst bei der Flucht nach dem Westen so entkräftet gewesen sei, dass sie ihren neugeborenen Jungen nicht mehr tragen konnte und auf den Eisenbahnschienen habe liegen lassen. Eine andere Frau habe ihn aufgenommen und dafür gesorgt, dass die Mutter ihn letztlich doch behielt. Die entscheidende, auf der Theorie der Stellvertretung beruhende Deutung der Symptome dieses Falles ist die folgende:
Der Patient verkörpert in seiner Beziehung zur Mutter von Geburt an seinen Vater, deren Ehemann. Diese Stellvertreterfunktion wird durch die kleine Szene, die er - wie beiläufig - in der ersten Therapiesitzung erzählt, bereits deutlich:
Abb. 2.2: Genogramm des Pat. mit „endogener Depression“ (1992)
Nachdem sie den Ehemann verloren hat , weil er von den russischen Soldaten verschleppt wurde, gibt sie im Gegenzug auf der Flucht ihren Jungen verloren. Dieser wird durch eine andere Frau gerettet, was die Mutter als gnädigen Wink des Schicksals auffasst und als Zeichen, dass sie doch nicht auf alles verzichten muss, was sie mit ihrem Mann verbindet. Sie lebt anschließend mit ihren Eltern zusammen und heiratet nicht mehr. Der Patient. lebt während der ersten 47 Jahre seines Lebens das ungelebte Leben seines Vaters. Er tut dies für seine Mutter und anstelle seines Vaters, also in gewissem Sinne auch für den Vater. In einem Alter, in dem der Vater verschleppt wurde, beginnt plötzlich seine Depression, für die er keine Erklärung findet und für die es auch keine Erklärung aus den Lebensumständen des Patienten gibt. Was er selbst als Grund betrachtet, zeigt sich bei näherem Hinsehen als unspezifisch, denn seine berufliche Unzufriedenheit ist wesentlich älter als die Symptomatik. Ein Psychiater alter Schule wäre also schon zu diesem frühen Zeitpunkt gezwungen gewesen, eine sog. „endogene“ Depression zu diagnostizieren und eine „Therapie“ mit Antidepressiva zu beginnen. Das befürchtete dieser Mann jedenfalls und überspielte seine Beschwerden mit großer Energie und Beharrlichkeit.
Zwei Jahre später jedoch, in einem Alter, in welchem der Vater starb, nimmt seine Depression einen Schweregrad an, den der Pat. mit den Worten kennzeichnet, er fühle sich „wie tot“, und vor dem er seine Waffen strecken muss. Die äußeren Lebensumstände sind auch noch nicht geeignet, diese Depression zu erklären; keineswegs erklären sie nämlich deren Verschlimmerung zu ebendiesem Zeitpunkt.
Was ich seinerzeit infolge mangelnder Übung in der Krankengeschichte noch gar nicht gesehen, bei der nachträglichen Betrachtung aber sogleich entdeckt habe, ist der folgende Zusammenhang: Fünf Jahre zuvor, als die übermäßige Belastung des Pat. begann und als er erstmals Anlass zu Klagen hatte, war seine Stieftochter so alt wie sein Vater bei der Geburt seiner Mutter. Und bei Ausbruch der schweren Depression war die Stieftochter so alt wie seine Mutter bei seiner eigenen Geburt bzw. bei der Verschleppung des Vaters. Hier liegen tiefere Verstrickungen, die auf eine besondere Dynamik des im Patienten wirksamen Verhältnisses zwischen den Eltern verweisen. Solchen würde ich - im Unterschied zu damals - inzwischen nachspüren. Auf den ersten Blick aber ist erkennbar, dass der Bruder der Mutter gestorben ist, als der Sohn mit 47 Jahren genau so alt ist wie der Vater (also der Ehemann der Mutter) bei dessen Tod. Die Depression ist aus dieser Sicht auch als seine „Unfähigkeit“ zur Unterscheidung zwischen dem Vater und dem Onkel zu deuten. Immerhin diente der Onkel seiner Mutter als ein anderer, nämlich erwachsener Stellvertreter des Vaters.
Der Patient betonte ausdrücklich, dass er seine Frau und seine Tochter liebe, und dass er auch seine Stieftochter sehr gern möge. Und es fiel ihm selbst auf, dass die beruflichen Schwierigkeiten schon ein Stück älter waren als seine Beschwerden. Diese ließen jedoch schlagartig binnen Tagen nach, als er sich von dem Schock der Konfrontation mit meiner Deutung, d.h. mit der bewussten Erinnerung an den Tod seines Vaters sowie an den Schmerz und Verlust, der das Schicksal seiner Mutter bestimmt hat, erholte. Es war freilich noch einige therapeutische Arbeit erforderlich, um ihm zu einem stabilen inneren Gleichgewicht zu verhelfen.
2.3 „Semantische Felder“ als „Kraftfelder“ leiblicher Bindung
Wenn wir tatsächlich annehmen dürfen, es handelte sich sowohl bei den anfangs geschilderten Kinderszenen als auch bei den zuletzt wiedergegebenen zwei Krankengeschichten um Beispiele für die Wirkung einer Gesetzmäßigkeit, dann ließe sich das zugehörige Gesetz in weiterer Annäherung versuchsweise folgendermaßen formulieren:
Sobald ein Kind ins Leben gerufen wird, bewegt es sich in der Welt zunächst als ein abgespaltenes Organ seiner Eltern. Die Dienstbarkeit des Kindes beginnt mit der Zeugung und wirkt unmittelbar gegenwärtig: Sie ist mit der Bedürftigkeit seiner Eltern synchronisiert.
Die dem Leibe eines jeden Kindes inhärente Wirkung seiner Dienstbarkeit wird zwar jederzeit erkennbar, d.h. in aller zeitlichen Gegenwart ablesbar. Dennoch ist sie - was vielleicht paradox erscheinen mag - relativ unabhängig von der räumlichen Gegenwärtigkeit der Eltern. Wo der Dienst vom Kind nicht erfüllt wird, da bleibt er nur darum unerfüllt, weil er - aus welchen Gründen auch immer - gegenwärtig unerfüllbar ist.
Jedenfalls bliebe es angesichts der wirklichen Hierarchie zwischen Eltern und Kindern unbefriedigend, sich mit der Bemerkung zu begnügen, dass im Ablauf der Beziehungen zwischen Eltern und Kind eine gegenseitige Abhängigkeit bestehe. Immerhin stammt das Kind von den Eltern, ist deren Spross. Insofern sind die Eltern primär gegenüber dem Kind. Und da das Kind auf die Eltern folgt, ergibt sich logisch: Dass das Kind der Eltern bedarf, folgt auf die Bedürftigkeit der Eltern, die sich in ihrer Liebe zueinander nach dem Kind gesehnt haben. Dazu eine kurze Bemerkung: Wenn Eltern auf die Symptomatik ihrer Kinder verzweifelt reagieren, zeigt sich am Ende, dass sie lediglich die wirkliche Hierarchie der offenbar werdenden Problematik nicht verstehen, sondern die Rangordnung der Verantwortlichkeiten verkehren. Diese Beobachtung zunächst einmal als Basis für eine weitere Hypothesenbildungen festzuhalten, bedeutet zweifellos eine radikale Abkehr vom heute vielfach üblich gewordenen Denken. Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aus meiner Sicht schlage ich dennoch vor, die alternative Ausgangsbasis, die insbesondere durch die Demonstrationen Bert Hellingers (1993, 1994) bereits Aufmerksamkeit erregt hat, praktisch zu prüfen. Sie ist meines Erachtens einfach besser geeignet, die - häufig