klar, dass es sich hier um keine Kleinigkeit handelt, sondern um zweierlei: erstens um eine Beobachtung von möglicherweise grundsätzlicher und weitreichender Bedeutung, zweitens um ein Problem. Zuerst stellt sich die Frage, ob sich entsprechende Beobachtungen wiederholen lassen und, wenn ja, ob es sich dann um mehr oder weniger seltene Einzelfälle handelt, um besondere Ausnahmefälle also, die darum keiner besonderen Erklärung bedürfen, weil es dafür schon bekannte Erklärungen gibt.
Seit Anfang 1993 achtete ich systematisch auf die Biografien meiner anderen Patienten, auch auf meine eigene und die der mir nahestehenden Menschen, und ich stieß dabei immer wieder auf genau dieselben Phänomene berechenbarer zeitlicher Bezüge, die auf den ersten Blick völlig unerklärlich waren. Und da ich schließlich bei dieser Sichtweise überhaupt keine Ausnahme von der genannten Regelhaftigkeit biografischer Zusammenhänge mehr fand, hieß das: Ich hatte mit einem Problem zu tun, das mich in der Tat in ganz erhebliche, geradezu existenzielle Erklärungsnot brachte. Denn einerseits handelte es sich bei diesen Phänomenen um gesetzmäßige Wirkungen, aber andererseits konnte es sich nicht um die Wirkung bekannter Kräfte handeln. Das war für mich höchst beunruhigend, zumal es nicht um irgendwelche Äußerlichkeiten ging, sondern um das, was uns Menschen im Innersten bewegt.
Was mich allerdings beruhigte, war die Beobachtung der günstigen Wirkung, die mein spontaner Erklärungsversuch auf das Paar gehabt hatte. Es war die in ursprünglicher Frische auftauchende, belebende Erfahrung, dass in einer guten Erklärung ein therapeutisches Prinzip wirksam werden kann. Aber war meine Erklärung denn wirklich gut? Oder erschien sie lediglich einem gutgläubigen Paar gut? - Immerhin hatte ich nicht behauptet, dass es keine andere Erklärung als die meinige geben könne, sondern hatte die meinige lediglich als eine vorläufig denkbare, dabei mit aller Vorsicht zu betrachtende Erklärung angeboten.
Konkret: Ich hatte damals im Gespräch mit dem Paar gesagt, dass man bei der Betrachtung ihrer Familienbiografie den Eindruck gewinnen könne, als seien Mann und Frau nicht von dem bewegt, was sie selbst als gut anerkennen, sondern von Impulsen getrieben, die sich auf ihnen fremde, längst vergangene Mangelzustände beziehen. Die Dinge so zu sehen, erwecke den Eindruck, als seien sie in dem blinden Bestreben, eine Umkehrung des Vergangenen und einen Ausgleich für Unausgeglichenes zu erwirken, nicht ganz bei sich selbst, sondern sozusagen in die Vergangenheit entrückt und außer sich. Aus diesem Grunde zöge ich es vor, die beiden einmal ganz direkt zu fragen, was sie denn tun würden, wenn ein jeder von ihnen sich erlaubte, wirklich bei sich zu sein und nach eigenem Urteil zu handeln bzw. nicht zu handeln
Diese Frage wurde von ihnen nicht im Gespräch beantwortet sondern praktisch gelöst: Sie blieben zusammen. Der Mann klärte einige berufliche Probleme, die er vor sich her geschoben und seiner Frau angelastet hatte. Und die Frau klärte einige Probleme im Umgang mit den Kindern, die sie zuvor ihrem Mann angelastet hatte. Ich bekannte dem Paar gegenüber selbstverständlich, dass ich ganz unsicher sei, ob sich das Leben wirklich so abspiele, wie es mir in diesem Zusammenhang erscheine. Beide griffen meinen Erklärungsversuch aber wider Erwarten zustimmend auf und fanden im Zuge der weiteren Arbeit eine Lösung für ihr Paarproblem, nachdem sie davon entlastet worden waren, einander wechselseitig für jene Gefühle verantwortlich zu machen, die ihnen aus der Vergangenheit ihrer Familien nachhingen.
Ich selbst aber folgerte in den Wochen danach aus den Erfahrungen, die ich in anderen therapeutischen Sitzungen machte: Wenn man beobachtet, dass sich Lebensereignisse immer in dieser oder ähnlicher Weise abspielen, als seien sie - in offenkundigem Gegensatz zu den Lebensinteressen der Beteiligten und blindlings - auf einen virtuellen Ausgleich des längst Vergangenem bezogen, dann muss man die Art und Weise, wie dieser Bezug in Erscheinung tritt, möglichst präzise beschreiben. Nur dann nämlich hat man die Chance, zu einer Erklärung zu gelangen, durch die unser Anspruch auf Vernünftigkeit des menschlichen Gesprächs nicht beleidigt sondern gewürdigt wird.
Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang daran, dass ja kein Mensch weiß, was es mit der Schwerkraft, der wir alle unterliegen, auf sich hat, wie nämlich die Schwerkraft es eigentlich macht, dass wir fallen. Ebenso wenig weiß irgend jemand, wie es eigentlich kommt, dass sich Energie von einer Form in die andere verwandelt. Schließlich weiß auch niemand, warum Masse und Energie ineinander umwandelbar sind. Was wir wissen, hat sich einzig aus genauen Beschreibungen dessen, was wirklich geschieht, ergeben. Und alle Gesetze, die wir aus den Naturwissenschaften kennen, sind lediglich begriffliche Zusammenfassungen unserer Erfahrungen. Das Wunder, dass solche begrifflichen Zusammenfassungen möglich und hilfreich sind, ist selbst nur hinzunehmen, nicht aber in seiner Tiefe zu ergreifen. Vielmehr sind wir in unserem gesellschaftlichen Leben von der Möglichkeit dieses Wunders abhängig und werden von dem Wunder dieser Möglichkeit selbst ergriffen.
Man darf also zurecht sagen, dass wo immer von wirksamen „Kräften“ die Rede ist, im Grunde nur das Gesetz gemeint ist, dessen unumschränkte Geltung wir durch gezieltes Anstellen und Analysieren unserer Beobachtungen zum Bewusstsein gebracht haben. Darum sollte mich auch nichts daran hindern, denselben Weg im Zusammenhang mit biografischen Phänomenen zu beschreiten. Was mich ebenfalls unterstützte, war die Gewissheit, dass keines der durch Beschreibung des wirklichen Geschehens erforschten Naturgesetze am Fortbestand unserer Verantwortung als Menschen etwas geändert hat. Die Entdeckung der Fallgesetze beispielsweise hat bislang noch niemanden gezwungen, fortan beständig auf die Nase zu fallen, sondern nur die Freiheitsgrade unserer Fortbewegungsarten beflügelt. Ganz ähnlich war es ja bei dem Paar gewesen, dem ich meine Deutung ihres Verhaltens angeboten hatte: Es hatte sich fortan die Freiheit genommen, auf einen ohnehin verspäteten, nur neues Scheitern hervorrufenden Ausgleichsversuch zu verzichten und sich stattdessen auf das ihnen Mögliche, vor allem auf das für sie selbst, füreinander und ihre Kinder Gute zu beschränken.
Meine Erfahrungen mit jenem Paar ermutigten mich zur ausdrücklichen Formulierung der Gesetzesannahme, die in jener vorläufigen, hypothetischen Beschreibung des Bindungsgeschehens zum Ausdruck gekommen war. In wenige Worte gefasst, lautet das Gesetz, das ich damals implizit meiner Deutung zugrunde gelegt habe:
Das Paar ist gleichsam mit seiner Bindung unter dem Eindruck des Verlustes der beiden Mütter in die Pflicht genommen, eine Ausgleichsbewegung zu vollziehen, welche dem Unglück in der Beziehung zwischen den beiden Großelternpaaren durch ein umgekehrtes Unglück auf fatale Weise die Waage hält. Der Zwang zum Ausgleich hat seinen tieferen Grund in einem vergangenen Mangel. Die resultierende Ausgleichsbewegung erfolgt blindlings. Und sie wird getragen von bewussten Begründungen, gerechtfertigt von vorgeblichen Motiven, mit Anlässen verknüpft, welche selbst die Gesetzmäßigkeit des Vollzugs jedoch nicht wirklich erklären können sondern nur zu verschleiern vermögen.
Hypothetisch handelte es sich demnach also um ein biografisches Gesetz, das eine dem spontanen Bewusstsein übergeordnete Stellvertretungsfunktion der Nachfahren für ihre Vorfahren regelt und das - wie bei einer Waage - ein Gewicht auf der Seite des Vergangenen durch ein Gegengewicht auf der Seite des Gegenwärtigen schicksalhaft auswiegt. Aus diesem Gesetz der aufwiegenden bzw. aufwiegelnden Stellvertretung folgt ein zeitlich exakt determinierter Druck bzw. Sog, wodurch ein Kind in eine merkwürdige Position verrückt wird: Die damit ausgelöste Bewegung entspricht der Bedeutung, welche dem Kind von seinen Eltern zugewiesen wird. Die Zuweisung erfolgt offenbar unwillentlich, allein durch ein (wiederum nur blindes, aber doch exakt erspürtes) Mangel- bzw. Unrechtsgefühl der Eltern.
Genau genommen, darf man hier gar nicht von einem Gefühl sprechen, sondern nur von einer Gesetzmäßigkeit, die sich unter anderem auch im Wandel der Gefühle, im Auftauchen und Untertauchen von Gefühlen der systemisch Beteiligten offenbart und verbirgt. Die Bedürftigkeit der Eltern nach Ausgleich - in dem Beispiel: die Unrechtserfahrung der Mütter in Bezug auf die Ehe der Großeltern - wirkt als Programm des Lebenslaufs der Kinder, von einigen Autoren als „Skript“ bezeichnet. Die Bezeichnung „Skript“ ist zwar nicht anschaulicher als die üblichere Bezeichnung „Rolle“, aber nicht weniger treffend. Im Grunde besagt sie dasselbe. Denn in der Schriftrolle, die ein Schauspieler in früheren Zeiten vom Autor bzw. Regisseur erhielt, ist seine Funktion im zu spielenden Stück, sind Worte, Taten und Leiden vorschrieben. Bevor aber das Stück aufgeführt ist, bleiben die Charakteristika der vom Schauspieler zu verkörpernden Person verborgen - wie die Schrift in dem zusammengerollten Pergament.