lässt sich also, wenn man diese Wendung im Denkens über Verantwortlichkeiten einmal probeweise vollzieht, formulieren:
Die Versagenszustände und Ohnmachtgefühle eines Menschen werden vielleicht nur verständlich, wenn man sie als Ausdruck der Unerfüllbarkeit von Aufgaben im Dienst an (aus Liebe zu) den Eltern auffasst. Genau das ist mit der Feststellung gemeint, dass die Versagenszustände eines Menschen vor allem Ausdruck einer fortbestehenden Priorität von ebenso unbewussten wie unerfüllbaren Diensten gegenüber den jeweiligen Eltern seien. Im Vergleich zu den bewussten und erfüllbaren Aufgaben dieses Menschen genießen die ersteren einen auf den ersten Blick unbegreiflichen, aber in jeder Symptomatik möglicherweise sichtbar werdenden Vorrang.
Es ist klar, dass die Hierarchie der Verantwortlichkeiten, die sich auf Seiten der Eltern damit radikalisiert, zunächst nicht jedermann unbedingt einleuchtend, manchem sogar unsinnig erscheint. Die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, wären auch nicht treffsicher, solange man sich bei der Betrachtung symptomatisch gewordener Beziehungen allein im Gegenwärtigen aufhält. Hier liegt dann auch das ganze Problem des Umdenkens begründet: Dass man jenes „Unsichtbare“ aus dem Sinn verliert, das, wie der „Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry betont, das Wesentliche ist. Wenn ich die obige allgemeine Hypothese durch eine weitere ergänze, so avanciert diese weitere damit freilich zum Herzstück dieser ganzen Auffassung:
Was für ein Kind gegenüber seinen Eltern einmal unerfüllbar gewesen ist, das prägt sich ihm als verbleibende Schuldigkeit ein. Eine nicht erfüllte Verpflichtung, die sich aus der Bedürftigkeit seiner Eltern ergibt, wird von dem Kind nicht nur unter den jeweiligen Umständen, die eine Erfüllung aktuell unmöglich machen, als seine eigene „Schuld“ genommen, und sie wird nicht nur synchron an einem fremden Ort, dem die Eltern fernbleiben, mit den Gefühlen der Machtlosigkeit empfunden, sondern darüber hinaus zu einem späteren Zeitpunkt mit Ohnmachtgefühlen bezeugt, wenn das Bedürfnis der Eltern gar nicht aktuell fortbesteht und diese sich längst anderweitig haben behelfen müssen, ohne auf Abhilfe durch das Kind rechnen zu können. Das ist besonders tiefgreifend, nämlich und endgültig der Fall, sobald die Eltern nicht mehr leben.
In dieser Form werden meine Behauptung über die Gesetzmäßigkeit, Entschüsselbarkeit und Wandelbarkeit von Schicksalsbindungen überhaupt erst für Überprüfungen zugänglich. Und tatsächlich findet sich bei gezielten Untersuchungen eine merkwürdige Rhythmik des Lebenslaufs, in der die Themen ehemaliger Schuldigkeit wiederkehren (Schützenberger, 1993) und nach irgendeiner Lösung verlangen, gleichsam damit „die liebe Seele Ruh`“ haben möge. Ich sehe mich aber aufgrund meiner Erfahrungen mit Kranken veranlasst, noch weiter zu gehen und zu behaupten:
In den Beziehungen zwischen den Menschen geht von dieser Rhythmik der frustranen kindlichen Dienstbarkeit die Kraft der spontanen Gebundenheiten aus. Die Kraft der Gebundenheiten wirkt bei einem Kinde so innig, dass sie sich über den realen Unterschied hinwegsetzt, der zwischen den Eltern und den jeweils anderen Anwesenden besteht. Vielmehr setzt sich die Dynamik des Stellvertretertums, die bereits das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern beherrscht, in den Beziehungen zu Dritten fort. Die jeweilige Veranlassung zur Dienstbarkeit wird gesetzmäßig geschaffen und erlitten. Und das unentrinnbare Gesetz dieser Dienstbarkeit führt die Kinder dazu, dass sie - als spontan Unterworfene - die Qualität ihrer Gebundenheiten in Abhängigkeit von zeitlich näher zu bestimmenden Relationen auf (an-)geeignete weitere Personen übertragen und mit deren Hilfe - symptomatisch oder asymptomatisch - gleichnishaft zur Darstellung bringen.
Anders gesagt: Die Unsterblichkeit jener Sehnsüchte, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern unerfüllt bleiben, prägt den Lebensläufen der Menschen die wechselseitigen Zeitgestaltungen und die Bedeutungen ein und macht eine grundlegende biografische Gesetzmäßigkeit aus: Aus ihr resultiert der Symbolismus der Lebensläufe. Dass einem Ereignis Bedeutung zukommt, heißt nichts anderes, als dass dies Ereignis im Leben eines Menschen funktionell auf ein anderes Ereignis im Leben anderer Menschen hin ausrichtet oder in der Art seiner Funktionalität auf das andere hinweist und insofern mit jenem anderen in einer dynamischen Beziehung steht. Aber jede dynamische Beziehung gibt sich in Resultaten eines Wirkens zu erkennen. Inwiefern also mit Bezug auf das Bedeuten von einem Wirken gesprochen werden darf, ist zunächst ja nicht klar. Falls es sich um das Zuweisen einer Richtung handelt, bleibt ja gerade unbestimmt, auf wessen Akt hin die Ausrichtung erfolgt sein sollte, da diese doch ohne sichtbaren Akteur erfolgt. Das wäre ja eine seltsame Art von „Entdeckung“, wenn es nach dem Fortziehen der Decke gar nichts zu sehen gibt. Zu sagen, dass das eine Ereignis dem anderen Ereignis Bedeutung übermittle, hieße ja, dass das ursprüngliche Ereignis aktiv gegenüber dem letzteren Ereignis sei. Aber die Art dieser Aktivität des Bedeutung gebenden Ereignisses ist zunächst so rätselhaft, dass auch beim Versuch, zu verstehen, was da stattfindet, die Art der Passivität des Bedeutung empfangenden Ereignisses von derselben Rätselhaftigkeit angekränkelt ist.
In dieser Lage tut man offenbar gut daran, sich zu erinnern, um was es bei der Zuweisung von Bedeutung geht: Das Bedeutsame im vorangegangene Ereignis ist ja das, was darin gefehlt hat. Aus dem Ausbleiben des im ursprünglichen Ereignis nicht Fehlenden oder Ausgebliebenen keimt die orientierende Kraft, von der das nachfolgende Ereignis seine Bedeutung empfängt. So klingt es zwar paradox, ist aber zutreffend, wenn gesagt wird, die Entdeckung des Ursprungs von Bedeutung macht nur derjenige, der von einem Unsichtbaren die Verhüllung entfernt. Er bekommt nur den Mangel zu Gesicht, nicht aber das, was fehlt. Eine Kriegsverletzung zeigt auf, dass der Frieden fehlt. In Anbetracht des Ausmaßes der Verwundung wird deutlich, wie heftig der Frieden vermisst worden ist.
Damit ist ausgesprochen, dass jene richtende „Kraft“, die aller Bedeutungsübermittlung zugrunde liegt, nichts anderes ist als das Leiden des Nächsten: Aus dem Mangel an Glück, aus der Fülle des Leidens leiten sich Gewicht, Richtung und Ziel einer durch Übertragung wirksamen Bedeutung ab; Bedeutung tritt überhaupt nur in Gestalt des Fortwirkens von Leiden in Erscheinung . Bedeutung als das Aufscheinen eines Gesetzes zu erkennen, in der sich eine richtende „Kraft“ zur Geltung bringt, kommt darum einer Würdigung des vergangenen Leidens gleich. Aber diese Würdigung ist nur demjenigen möglich, der von der Nachwirkung und Fernwirkung des Leidens in Mitleidenschaft gezogen wird und der darin stattfindende Verurteilung standhält. Die Erfahrung, von vergangenem Leiden ereilt zu werden und in dessen Bann zu stehen, die Erfahrung, für bloße Ohnmacht gegenüber dem Unmöglichen verurteilt zu sein, ist der einzige Weg, um Bedeutung verstehen zu lernen. Und Verständigung zwischen Menschen beinhaltet die gegenseitige Bereitschaft, die Konsequenzen der Übermittlung vergangenen Leidens zu tragen. Deutung genügt nicht zum Verstehen und zur Verständigung. Im Unterschied zum Verstehen ist die Deutung nur die gesehene, nicht die erlebte Bedeutung. Denn Deutung ist bloßer Fingerzeig für den Anderen. Die nackte Deutung eines Symptoms wirkt als Appell, der Kranke möge das ihm übertragene Leid allein tragen. Wer aber versteht, ist gleichsam in der Position eines Wundarztes, der sich kraft seiner Einsicht in die tieferen Ursachen einer schweren Verletzung für Frieden einsetzt.
Bedeutung wird also verständlich als eine wandelbare Erscheinungsform jener richtenden „Kraft“, die sich durch die spezifischen Wirkungen des Leidens zu erkennen gibt. Bildhaft gesprochen: Bedeutung ist für die Erkenntnis wie der unsichtbare Inhalt, der sich im körperlichen Geschehen verbirgt und offenbart. Das Körperliche ist dessen Form: Die Wunde ist die Form des Schmerzes. Und der Schmerz gleicht dem Wein, der in unterschiedlichen Fässern und Schläuchen enthalten sein, transportiert werden und reifen oder versauern kann. Wenn also in Bezug auf Übertragung und Verwandlung von Bedeutungen Erkenntnis entstehen soll, wenn das Feld der Bedeutungen überhaupt als Wissensgebiet gefasst werden darf, dann muss es gelingen, die Gesetzmäßigkeiten der Formwandlungen angemessen zu beschreiben, die bei Umfüllung, Lagerung und Genuß eines zumindest begrifflich identifizierbaren Gehaltes stattfinden. Diese Beschreibung aus Erfahrung zu leisten, wäre Voraussetzung, um die besondere „Dynamik“, die besondere Art von „Kraft“ zu begreifen, welche in den Ereignissen des Lebens als Bedeutung wirkt.
Meines Erachtens lässt sich sehr einfach benennen, was im Leid Geltung erlangt: Es ist die versäumte Trauer, die noch nicht getrauerte Trauer. Sie ist es, die als Widerstand für das freie Fließen der Liebe zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern in Erscheinung tritt. Mit dem abstrakten Wort „Kraft“ kann man den Grund dieser hintergründigen Art des