welche Bedeutung dem Tod und den Toten in verschiedenen Entwicklungsstufen bisheriger biografischer Forschung eingeräumt worden ist.
Das achte und letzte Kapitel ist eine kritische Bestandsaufnahme jenes biografischen Wissens, das sich unter Beachtung familialer, transgenerationaler Gebundenheiten ergibt. Die Leitfrage lautet: Wodurch erheben sich Krankengeschichten über jede mögliche naturwissenschaftliche Darstellung von Wirkzusammenhängen? Sigmund Freud hat zwar eine heiße Spur des Leibhaftigen verfolgt, als er mythischen Gestalten, wie Narziss und Ödipus, eine zentrale Bedeutung verlieh. Er hat jedoch mit der psychoanalytischen Triebtheorie die leibliche Haftung in einer Weise ausgeschaltet, als wollte er das theologische Dogma endgültiger Getilgtheit der menschlichen Erbschuld allzu umstandslos bestätigen, indem er es durch materialistische Heuristik ersetzte. Demgegenüber entfalte ich einige Schlussfolgerungen, die sich aus dem biografischen Forschungsansatz für das Schuldproblem ergeben. Würde man das letzte Kapitel des Buches schlicht philosophisch nennen, so wäre ich nicht einverstanden, denn ich teile die Kritik Viktor von Weizsäckers an der philosophischen Tradition: Diese wolle allzu oft ewige Weisheit erlangen, ohne sich dem Leiden am konkreten historischen Prozess der Menschheit zu stellen, und das eben sei nicht möglich.
Alle acht Kapitel kreisen um die Frage nach dem Gesetz, das dem Leben der Menschen vorgibt, was in dieser Welt und in diesem Zusammenleben eines Menschen mit dem Anderen als Ordnung (Kosmos) oder was als Unordnung (Chaos) zu verstehen ist. Die Ordnungsprinzipien von Raum und Zeit lassen sich nicht auf anatomische und physiologische, d.h. auf Kategorien materieller, an sich bedeutungsloser Veränderungen reduzieren, ohne dass die Würde des Lebens, die Schönheit der Welt, die Wahrheit der Geschichte und die Güte des Menschen verloren ginge. Das zu erkennen, ist der Kern der notwendigen Kritik an der Vorläufigkeit bisheriger therapeutischer Terminologien, wie sie aus der Psychoanalyse Freuds direkt und indirekt erwachsen ist. Und die Überwindung dieser falschen Denkrichtung ergibt sich erst dann, wenn die leibliche Teilhaftigkeit des Lebens unter den Gesichtspunkten leiblicher Ordnungsprinzipien erkannt wird. Diese Prinzipien erschließen sich in ihrer symbolischen Tiefe, d.h. gewissermaßen „tiefenpsychologisch“, wenn man sie anhand geschichtlicher Bezüge zwischen den großen Verbindungen und den großen Trennungen im Leben eines jeden einzelnen Menschen wahrnimmt.
Die Fragen, die diesem wissenschaftlichen Programm einer ärztlich orientierten Biografik entsprechen, sind von Viktor von Weizsäcker erstmals mit allem Nachdruck gestellt worden. Er fragte angesichts existenzieller Lebensereignisse, vor allem angesichts von Erkrankungen: „Warum gerade jetzt?“, „Warum gerade hier?“ und „Warum gerade so?“ (Ges. Schriften Bd. 7, 366 ff) Es geht dabei um die Klärung zeitlicher, räumlicher und formaler Ordnungen, die dem inneren und äußeren Frieden dienen. Dieser Frieden nämlich zeigt sich bereits in der Gestalt von Erkrankungen gestört. Und es erweist sich als hilfreich, Erkrankungen überhaupt als Erscheinungen unserer Leibhaftigkeit, der Haftung und der Verhaftetheit unserer Leiber aufzufassen. Darin liegt kein Ansatz zum Bruch naturwissenschaftlicher Gesetze, sondern ein Ansatz zur Vertiefung unseres Verständnisses für die Gesetzmäßigkeit des Lebensstroms, in dem wir uns bewegen, in dem wir zwar treiben und getrieben werden, in dem wir aber auch zu schwimmen, ja sogar zuweilen Grund unter die Füße zu bekommen lernen.
Die drei großen Fragen Weizsäckers betreffen sowohl die beiden formalen Kriterien als auch das inhaltliche Kriterium, um die familienbiografischen Zusammenhänge von schicksalhafter Verstrickung und Krankheit aufzuklären:
Die Frage „Warum gerade jetzt?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die Relationalität der am Krankheitsgeschehen Beteiligten bezieht und deren Altersrelationen errechnet.
Die Frage „Warum gerade hier?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die als Stellvertretungsfunktion der am Krankheitsgeschehen Beteiligten bezieht und deren virtuelle Positionen innerhalb der Stellvertretungsordnung ihrer Familien bestimmt.
Die Frage „Warum gerade so?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die Komplementarität bezieht, die den am Krankheitsgeschehen Beteiligten auferlegt ist, und den nachwirkenden Mangel aufspürt, dessen frustranem Ausgleich die Symptomatik gewidmet ist.
Es ist nicht völlig zu vermeiden gewesen, dass manche Gedanken und Betrachtungen aus den ersten Kapiteln erst im letzten Kapitel in ihrem Zusammenhang und Wert verstanden werden können. Wäre ich umgekehrt vorgegangen, dann hätte ich schon von Anbeginn einen Erfahrungsreichtum voraussetzen müssen, wie er aus meiner Darstellung erst von Kapitel zu Kapitel wachsen soll. Wer jedoch weniger Geduld mit Einzelheiten aufbringt und es vorzieht, vorab logisch zu erkunden, ob die von mir entwickelte Begrifflichkeit genügend Tragfähigkeit aufweist, um überhaupt Erfahrenes in sich zu fassen, der soll sich nicht davon abhalten lassen, mit dem letzten Kapitel zu beginnen. Ein solches Vorgehen birgt eigene Vorteile für das Verständnis. Und vielleicht dient es einer kreativen Auseinandersetzung, dass ich das Ergebnis meiner Spurensuche in aller Kürze den folgenden Ausführungen über das „Leib-Haftige“ bereits hier vorausschicke:
Wenn es aus der Perspektive der menschlichen Kreatur so etwas wie das Grundunrecht unseres Lebens, das Kernproblem der Sünde, gar das Grundübel der Schöpfung, die Wurzel alles Bösen geben sollte, so handelt es sich um die Tatsache, dass ein jeder Mensch zunächst zum Ersatz für andere Menschen geboren zu sein scheint und dann doch darunter zu leiden hat, dass er ebendieser Ersatzfunktion nicht gerecht zu werden vermag. Darin liegt zweifellos eine grundlegende Paradoxie, auf die sich die unschuldige „Schuld“ oder die schuldige Unschuld des menschlichen Lebens gründet. Wie wir damit umgehen, ist das existenzielle Problem, das wir nicht mehr abschütteln können, nachdem wir erst einmal ungefragt gezeugt und geboren sind. Statt uns aber wie Kaninchen zu verhalten und darauf zu starren, als seien wir jenseits von Eden auf die Schlange gestoßen, also statt die Infragestellung unseres Seins als ein Übel zu betrachten, ist es auch möglich, dass wir einander beistehen, um sie gemeinsam als die Ironie unseres Schicksals verstehen zu lernen. Das verlangt freilich Einigkeit im Humor, ist also mit harter Arbeit verbunden.
Wie immer aber diese Arbeit jedem einzelnen von uns gelingt - in jedem Fall ist unser Leben einer unvollendbaren musikalischen Improvisation vergleichbar: Ihre Themen ergeben sich aus dem ungelebten Leben unserer Vorfahren; die Rhythmik ergibt sich aus der zeitlichen Relation unseres jeweiligen Lebensalters zur Lebenssituation der Vorfahren , die Instrumentalisierung aus der Zuordnung zu unseren Stellvertretungsaufgaben; die Komposition folgt dem Prinzip der Komplementarität. Und alles zusammen hat, wie es nun einmal der Improvisation beim Musizieren eigen, etwas traumartig Schlafwandlerisches.
2 Kindheit und Kindschaft
2.1 Vier Kinderszenen
Eine Patientin kam mit einem Säugling, der ein halbes Jahr alt war, zur Therapiesitzung. Das Gespräch kam auf den Vater des Kindes. Sobald sie sich über diesen Mann beklagte, fing es an zu schreien. Das wiederholte sich mehrmals. Ich wies die Patientin darauf hin. Anfangs glaubte sie mir nicht, sondern hielt den zeitlichen Zusammenhang für „zufällig“. Schließlich akzeptierte sie die Übereinstimmung unter großer Überraschung und war auch bereit, meine Deutung anzunehmen. Ich sagte ihr, das Kind ergreife in diesem Raum Partei für den Vater und tue, was er hier nicht tun könne, weil er abwesend sei: Es äußere Protest gegen dessen Abwertung.
Eine andere Patientin kam mit ihrem Sohn im Alter von anderthalb Jahren. Auch in ihrer Ehe gab es Spannungen, und sie erwog die Trennung. Als sie darauf zu sprechen kam, erhob sich das Kind, das zunächst friedlich am Boden gespielt hatte, ging zur Tür des Therapieraums und versuchte, sie zu öffnen und das Zimmer zu verlassen. Ich teilte ihr meine Beobachtung mit und erläuterte sie mit der Bemerkung, anscheinend drücke das Kind auf seine Weise aus: „Bevor der Vater gehen muss, gehe lieber ich.“ Die Patientin war zwar erschrocken, wehrte sich aber nicht gegen diese Deutung, die ihr einleuchtete.
Eine weitere Patientin war mit ihrem ersten Sohn, der schon fast drei Jahre zählte, zur Therapie gekommen. Ich kannte ihn gut und hatte in früheren Sitzungen sein Vertrauen gewonnen. Da ich während der Arbeit, die den Problemen der Mutter galt, zuweilen mit ihm Ball gespielt hatte, kam er sonst gern mit und zeigte sich immer sehr geduldig, wenn sie ihn nicht anderweitig unterbringen konnte. Diesmal war die Situation zum ersten Mal anders. Er quengelte von Anfang an und ließ seiner Mutter keine Ruhe, sondern