Alexander Reiter

Das Schöpfer-Gen


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Jahren stand ich hinter dem Tresen, zapfte Bier, mixte Drinks und beglückte die Ladies mit selbsterfundenen Kreationen mit mehr oder weniger Zündstoff. Ein cooler Job – und mal davon abgesehen, dass mir Paul manchmal auf die Nerven ging, wenn es um meine Arbeitsmoral ging, war er mein bester Freund.

      Ich brachte also unter seinen kritischen Blicken die Bude auf Vordermann und stellte auch noch schnell ein paar Aschenbecher auf die Terrasse. Die Sonne strahlte, und es dauerte nicht lang, da kamen die ersten Gäste und verlangten Seelentröster oder einfach ein Steak mit Fritten und einem Bier. Pauls Laune besserte sich, der Laden brummte und ich sackte eine Menge Trinkgeld, nicht nur von den Chicas, ein. Alles war wie immer. Doch plötzlich änderte sich alles!

      Zuerst hörte ich nur einen Aufschrei der Menge auf dem Platz. Eigentlich nichts Besonderes, denn wenn die Künstler gut waren, ging es hier schon mal ab. Aber dann stürzten die ersten Gäste geradezu brüllend von der Terrasse zu uns in den Gastraum. Ich warf das Handtuch, mit dem ich gerade ein Glas polierte, auf den Tresen und drängte mich durch die Flüchtenden nach draußen. Was hatte die Leute nur so erschreckt? Ein Amokläufer? Doch es waren keine Schüsse zu hören.

      Die Gäste rannten panisch umher, Stühle und Tische stürzten um, es herrschte das reinste Chaos. „Fuck! Was ist denn hier los?“, schrie Paul, fast gleichzeitig erreichten wir die Brüstung, blickten auf den Platz und – die Hölle tat sich vor uns auf.

      Ich weiß nicht, wie lange wir schweigend dastanden, das war aber auch egal. „Wir sind im Arsch“, war das Einzige, was Paul über die blutleeren Lippen kam.

      Da hatte jemand, oder etwas, ein etwa dreißig Meter breites Loch in den Platz gerissen, das alles in seinem Umkreis verschlang, zerfetzte und zermalmte. Wenn man hineinblickte, sah man – wie soll ich es beschreiben? – einen grässlichen, blutgetränkten Höllenschlund, und das Grauen, das er ausstrahlte, kroch mir durch Mark und Bein. Da war ein Loch in den Platz gerissen oder vielmehr in unsere Welt. Nicht durch eine Explosion, es war einfach nichts mehr da. Nur durch das Entfernen des Raumes, in dem sich gerade eben noch munter die Menschen an den Straßenkünstlern erfreuten. Es fehlte schlicht ein Stück der Welt, der Realität, wie wenn man ein Fenster von der anderen Seite geöffnet und dabei ein Loch in unsere Existenz gerissen hätte. Ich krallte mich am Geländer fest, mein Mund wurde trocken, ich brachte nur ein entsetztes Krächzen heraus. Das da unten, das war nicht die Welt, die ich kannte. Der Platz war dunkelrot vor Blut. Von den meisten Leuten, die darauf gestanden hatten, war nicht mal mehr genug übrig, dass man sie hätte identifizieren können. Doch das war noch nicht das Schlimmste. Es war der Blick in dieses Loch, der Blick auf das, was sich darin befand – ein Blick in eine andere Welt, der die Kälte des Todes ausstrahlte. Der Himmel, die Pflastersteine auf dem Platz, die Häuser, die ihn umrahmten: alles nur noch Kulisse in einem Theater des Wahnsinns. Doch nicht allein dieser Anblick war es, der mich erschauern ließ, da war noch mehr, ein Gefühl das sich in mir breitmachte und mich zu erfüllen begann.

      Die Schreie verstummten, und es wurde langsam still. Nur vereinzelt war noch Schluchzen zu hören. Die Überlebenden auf dem Platz standen da wie versteinert. Es gab ja auch keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnten, denn irgendwie war das alles … endgültig. Eine Welle von Hilflosigkeit und Ehrfurcht überflutete mich, gepaart mit einer Art Urangst die mich erschauern ließ.

      Als wäre das alles nicht genug, erschien inmitten dieser grauenhaften Gegenwelt eine Frau. Sie schwebte über dem Loch, zumindest sah es so aus, als würden ihre Füße den Boden nicht berühren. Sie trug ein langes, weißes Kleid, ihr Gesicht war blass, ihr schwarzes Haar hing ihr bis auf den Rücken hinab, und sie musterte die Menschen um sich herum mit einem fast belustigten Ausdruck. Ich beugte mich vor, versuchte mehr zu erkennen, da wandte sie sich in unsere Richtung, als hätte sie meine Bewegung bemerkt.

      Ihr Blick durchbohrte mich, und ich umklammerte mit zitternden Händen das Geländer. Ihre Lippen bewegten sich nicht, doch jetzt erklang ihre Stimme in meinem Kopf. „Mach dich bereit!!“, sagte sie. Und sie meinte ganz eindeutig mich. Nicht Paul, der wie vom Blitz getroffen neben mir stand, nicht das Mädchen, das unterhalb der Terrasse im Staub kniete, nicht einen der Menschen, die sich an die blutbesudelten Häuserwände pressten – nein, mich. Ganz klar mich.

      Wofür? Wie? Wieso ich? Fragen rasten durch meinen Kopf, doch bevor ich nur eine einzige davon stellen konnte, war die Erscheinung verschwunden. Der Riss schloss sich geräuschlos, zurück blieben Angst, Verzweiflung und blutgetränkter Beton. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte.

      Als Paul neben mir seine Stimme wiederfand, klang er erstaunlicherweise weder verstört noch ängstlich. Er zündete sich eine Benson an und steckte mir auch eine in den Mund. Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und spähte mir ins Gesicht. „Dave, du Penner, was für eine verdammte Scheiße hast du da wieder am Arsch? Ich sag dir, es ist echt nicht leicht, mit dir befreundet zu sein.“

      Ich sog gierig an der Zigarette, sie war das, was mich in der Realität festhielt, und wartete, bis die Welt um mich herum aufhörte, sich zu drehen. Mit schleppenden Schritten ging ich von der Terrasse in den Gastraum und ließ mich auf den erstbesten Stuhl fallen.

      „Hast du … hast du das auch gehört?“, fragte ich und erkannte meine Stimme kaum wieder.

      Paul nickte. „Ich mach uns erst mal eine Tasse Tee! Mit Schuss, denn ich glaub, das ist jetzt auch schon egal. Und dann erklärst du mir bitte, warum und worauf du Vollhonk dich vorbereiten sollst. Ich kenn dich jetzt echt schon lange, und soweit ich das einschätzen kann, sind deine einzigen Talente Saufen und Weiber Klarmachen.“

      „So viel Blut und so viel Tod, Paul“, flüsterte ich und presste die Hände auf die Knie, damit sie aufhörten zu zittern. „Hat sie wirklich mich gemeint? Was mach ich denn jetzt?“

      „Ruhig, Dave, bleib ruhig, okay!“ Paul hantierte hinter der Theke mit dem Wasserkocher. „Fakt ist, Dave, da draußen ist die Kacke am Dampfen, wenn ich auch keine Ahnung habe, was ich da gerade gesehen habe, und ja, scheinbar hängst du da irgendwie mit drin.“

      „Ach du Scheiße, das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“

      „David Cole, du warst gerade in meinem Kopfkino, und das ist ein Ort, wo ich dich eigentlich nie im Leben sehen wollte, comprende? Ich hab dich, also uns beide, mit ihren Augen gesehen, verstehst du? Das war vollkommen abgefahren! Und ja, sie sagte was von wegen du sollst dich vorbereiten.“ Paul schenkte Earl Grey in zwei große Tassen und gab einen großzügigen Schuss Rum hinein. Er kam um den Tresen herum, drückte mir eine Tasse in die Hand.

      Ich beugte mich darüber, atmete tief ein, der Bergamotte-Duft und die Wärme drangen in meine Nase, wanderten in mein Hirn, und so langsam begann ich wieder zu fühlen, wer ich war. Ich war Dave Cole, ein ganz normaler Barkeeper ohne Ambitionen als Filmstar. Mehrere Schlucke Tee später holte ich mein Handy hervor und wählte die Nummer meiner momentanen Flamme.

      „Hey Claire, alles klar bei dir?“

      Sie schrie ins Telefon: „Dave, verdammt noch mal! Was läuft denn bei dir, um Himmels willen? Du warst in meinem Kopf, David, also eigentlich in allen Köpfen, um genau zu sein. Alle meine Kollegen … was war das?“

      Also hatte sie es auch gesehen … Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. „Geh heim, Claire, und schließ die Tür ab, ich ruf dich wieder an, sobald ich weiß, was hier los ist, okay?“

      „Dave, ich konnte es sehen! Wir alle konnten es sehen! Sie hat uns so viel Leid, so viel Schmerz gezeigt …“

      Jetzt weinte sie, ich konnte die Hoffnungslosigkeit und Hysterie in ihrer Stimme hören. „David“, sagte sie schließlich. „Ich kann das nicht!“

      „Was meinst du?“, fragte ich.

      „Ich weiß nicht, in was du da hineingeraten bist, aber ich kann das einfach nicht! Es ist aus mit uns.“

      „Hey, easy Claire, keine Ahnung, was hier läuft, aber ich werde es rausfinden, okay??“

      Sie schluchzte leise: „Mach ’s gut, Dave!“ Die Leitung erstarb.

      „Scheiße, ich glaub, ich brauch ’ne neue Freundin“, sagte ich zu