Alexander Reiter

Das Schöpfer-Gen


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lehnte sich neben mir an einen Tisch, atmete tief durch und sagte: „Trink aus. Und dann sollten wir vielleicht abwarten. Denn wenn das alles wirklich so gelaufen ist, wenn alle das gesehen haben, ist hier gleich eine ganze Menge los, glaub mir. Du kannst raten, ob erst die Bullen kommen oder das Fernsehen. Und wenn nicht, sollten wir uns unbedingt einweisen lassen.“

      Downing Street Nr. 10, Westminster, London/10.30 Uhr (GMT)

      Andernorts war hingegen an Tee nicht zu denken. Karen Stanley, die Bürochefin des englischen Premierministers Matthew Harper, führte ein Telefonat nach dem anderen. Die Informationen überschlugen sich regelrecht, aber es war meistens mehr wissenschaftliches Blabla, nicht die konkreten Erklärungen, die sie – und ihr Chef – sich dringend wünschten. Sie hätte am liebsten den Kopf in die Hände gestützt und in Ruhe darüber nachgedacht, was hier eigentlich vor sich ging, aber diesen Luxus konnte sie sich heute nicht leisten. Sie nahm die letzten Blätter aus dem Drucker, zupfte sich das Kostüm zurecht, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und auf in den Kampf. Im Arbeitszimmer des Premierministers war der ganze Krisenstab zusammengekommen. Mit einem Wort: Ausnahmezustand.

      „Wir müssen jetzt handeln, unbedingt eine Presseerklärung herausgeben, Sir“, ertönte es von einer Seite des Raumes.

      „Wir sollten den nationalen Notstand ausrufen, Prime Minister“, hallte es von der anderen. Als Karen den Raum betrat, wurde sie von den Anwesenden kaum beachtet. In diesem Moment hörte sie gerade aus dem Lager der Royal Army verlauten: „Wir müssen jetzt unsere Truppen mobilisieren, Sir, jede Minute zählt.“

      Premierminister Harper stand etwas abseits und blickte aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. In der Ferne sah er Rauchsäulen aufsteigen, von mehr als nur einem Feuer.

      „Prime Minister, wir müssen unsere Truppen mobilisieren“, wiederholte der General.

      Jetzt drehte sich Harper um und verschränkte die Arme. „General, meine Herren, gegen wen sollen wir denn mobilmachen? Gegen eine unbekannte Frau? Was wollen Sie bekämpfen, General, von welcher Bedrohung reden wir denn hier? Wir müssen erst herausfinden, was genau geschehen ist! Also: Wenn jemand unter ihnen sein sollte, der mir sagen kann, wie ein Loch am Covent Garden entstehen kann und Augenblicke später wieder verschwindet, höre ich gerne zu. Und kann mir jemand erklären, warum scheinbar jeder Mensch auf der Welt diesen Wahnsinn vor seinem inneren Auge wahrgenommen hat?“

      Nur Schweigen antwortete ihm. Die Mitarbeiter des Krisenstabs sahen ihn hilflos an.

      Harper breitete die Arme aus. „Wir müssen erst einmal verstehen, womit wir es zu tun haben, dann können wir handeln.“

      Die meisten nickten, nur General Mason schüttelte trotzig den Kopf. Karen seufzte lautlos. Für Mason gab es nur Angriff oder Niederlage, so kannte sie ihn.

      Sie nutzte den Moment der Stille, trat auf den Premierminister zu und überreichte ihm die Mappe mit den Informationen, die sie bisher gesammelt hatte. „Sir, es gibt Neuigkeiten bezüglich des Mannes auf dem Balkon.“

      „Danke, Karen, das ist sicher sehr nützlich. Schießen Sie los, wir sind ganz Ohr.“

      „Ich, Sir?“

      „Aber natürlich, es sind ja Ihre Recherchen.“

      Karen wurde rot. Sie wusste, dass Harper ihre Arbeit schätzte, aber noch nie hatte er sie so in den Vordergrund geholt. Sie räusperte sich. „Der Mann, den wir alle auf dem Balkon gesehen haben, heißt David Cole. Er ist zweiunddreißig Jahre alt und arbeitet als Barkeeper in einer Bar, dem Drunken Pony. In Croydon aufgewachsen und zur Schule gegangen. Vater unbekannt, die Mutter Rosa ist 2010 verstorben. Cole war nach seiner Schulzeit bei der Horseguard und hat anschließend vier Jahre gedient. Während dieser Zeit wurde er einmal gerügt, wegen ungebührlichen Verhaltens. Man hat ihn sozusagen in flagranti mit einer Frau erwischt“, sie lächelte schief in die Runde, „und das auch noch während seiner Wache.“

      Niemand lachte. Die Situation war zu ernst.

      „Es gibt noch eine Anzeige wegen Körperverletzung“, fuhr sie fort, „die aber im anschließenden Verfahren fallengelassen wurde. Er ist in der Bar bei einem Ehestreit dazwischen gegangen und hat den Mann von der Terrasse über den Platz baumeln lassen, was der Richter als leicht übertrieben eingestuft hat. Es kam nur zu einem kleinen Bußgeld.“

      Jetzt ertönte vereinzelt Gelächter.

      „Cole lebt in einem Apartment in der Balcombe Street am Dorset Square. Aus Sicht der Nationalen Sicherheit gibt es keine Bedenken – er ist sauber.“

      Der Premierminister nickte ihr zu. „Vielen Dank, Karen, wir sollten Mr Cole unverzüglich in die Downing Street einladen, um herauszufinden, was er damit zu tun hat. An seinem Lebenslauf kann es nicht liegen, vermute ich. Dennoch ist dieser Mann im Moment unsere einzige Option. Wir müssen feststellen, was hier vor sich geht. Ich will nicht, dass so etwas noch einmal passiert. Wir haben schließlich eine Verpflichtung gegenüber unserer Bevölkerung!“ Jetzt wandte er sich an den jungen Mann, der neben General Mason stand. „Blake, ich möchte unsere besten Wissenschaftler so schnell es geht hier haben. Und kümmern Sie sich darum, dass Callahan sofort eingeflogen wird.“

      „Jawohl, Sir.“ James Blake, der persönliche Assistent, der mitverantwortlich war für die Sicherheit des Staatschefs, nickte.

      „Und Blake, den Angehörigen der Opfer sprechen Sie bitte unser tiefstes Mitgefühl aus. Helfen Sie ihnen, wo es uns möglich ist. Stellen Sie sich ein Team zusammen und delegieren Sie, wenn nötig.“ Jetzt sah Harper alle Anwesenden der Reihe nach eindringlich an. „In fünfzehn Minuten werde ich eine Pressekonferenz geben, die Menschen brauchen Zuspruch. Karen, Sie bringen mir diesen Cole sofort hierher. Blake, geben Sie ihr die nötige Sicherheitsfreigabe.“

      Blake sah Karen zweifelnd an. „Aber Sir, das verstößt gegen die Vorschriften …“

      Harper hob die Hand. „Mr Blake, ich bin mir sicher, Sie werden das hinbekommen.“

      Blake presste die Lippen zusammen. Karen wusste, dass sie in ihm keinen Freund hatte. Was daran liegen mochte, dass er sie mehrfach gebeten hatte, mit ihr auszugehen, und sie mehrfach abgelehnt hatte. Blake war seine Karriere wichtiger als alles andere, Karen wusste, dass er nur eine Trophäe in ihr sah.

      „Ich sehe, wir verstehen uns“, sagte Harper jetzt, und ein stählerner Unterton schlich sich in seine sonst so sanfte Stimme. „General Mason, ich möchte, dass Ihre Truppen unsere Polizeikräfte unterstützen, um auf unseren Straßen wieder Ordnung herzustellen. Ziehen Sie öffentlich auf keinen Fall irgendwelche Schlüsse, spekulieren Sie nicht, sondern warten Sie die Konferenz ab, bevor Sie sich irgendwie äußern. Das gilt für alle hier! Das Meeting ist beendet. Wir treffen wieder zusammen, wenn wir mehr Informationen vorliegen haben. Gott schütze Britannien.“

      Karen warf Blake einen auffordernden Blick zu. „Können Sie mir die Freigabe jetzt gleich erteilen? Ich kümmere mich selbst um einen Wagen und zwei Sicherheitsleute, die mich begleiten.“

      Blake sah sie einen Moment an, als müsse er sich daran erinnern, wer sie war. „Natürlich“, erwiderte er kühl. „Sie erhalten das Dokument sofort über das Intranet.“

      Covent Garden,London/11.15 Uhr (GMT)

      Ich drehte die Teetasse in den Händen und starrte ins Leere. Das innere Zittern wollte einfach nicht nachlassen. Mach dich bereit, hatte sie gesagt. Paul fing an, die Aschenbecher einzusammeln und die Stühle hochzustellen, so dass Betty morgen leichter durchwischen konnte. Würden wir morgen öffnen? Oder überhaupt jemals wieder? Ich stemmte mich hoch, stellte die Tasse zu den gebrauchten Gläsern auf dem Tresen und ging noch einmal hinaus auf die Terrasse. Mittlerweile war die Polizei vor Ort, riegelte alles ab und hatte in Windeseile eine Art Plane über den ganzen Bereich gezogen. Doch ich würde das Bild vor meinem inneren Auge nie wieder vergessen, auch wenn sie den Platz neu betonieren würden.

      „Dave, wir haben Besuch.“ Pauls Worte rissen mich aus meinem Gedanken. Sie wirkten zwischen den Tischen völlig deplatziert: