Maggi Lidchi-Grassi

Der Große Herr und die Himmlische Frau


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Er gab es auf und lehnte den Kopf gegen die Wand zurück. Seine Augenlider senkten sich. Die Antworten konnten in die Schlitze zwischen seine Gedanken geworfen werden. Was er morgen wissen mußte, würde morgen zu ihm kommen.

      Das war die Botschaft. Sie war so stark, daß er die Augen öffnete, um zu sehen, ob sie jemand gehört hatte. Alles war unverändert, außer daß Robert, der Junge aus dem Süden, dessen strohblondes Haar über sein rechtes Auge fiel, aufgewacht war und sich, auf den linken Ellenbogen gestützt, Nase und Kinn rieb, als wollte er sehen, ob sie noch lebendig waren. John wandte den Kopf um und sah Impi, der mißmutig auf das Fenster starrte, an dem der Regen in Strömen hinablief. Er schloß wieder die Augen.

      II

      Es regnete noch immer. Stunde um Stunde kam es herunter und schien die Welt davonzuwaschen. Die Männer froren bis auf die Knochen, und es fiel John schwer, mit Handschuhen zu zeichnen. Es hatte die ganze Patrouille hindurch geregnet. Die Wollkappen unter ihren Helmen waren durchnäßt worden, und das Wasser hatte die schwarze Schmiere in ihren Gesichtern verwischt. Der Vordermann und der Hintermann waren kaum sichtbar, und jeder befand sich in einem kleinen dunklen Bereich voll Furcht und Kälte. Sie wateten durch schlüpfrigen Matsch zum Niemandsland und schauten nach Handzeichen aus, die man erraten aber nie wirklich sehen konnte. Stimmen klangen wie Regen, der wie Stimmen klang. Dann kam etwas, das ein Befehl gewesen sein konnte, doch war es ein Fluch, der sich Koch entrungen hatte. Sie zogen ihn aus dem Granattrichter. Sie hatten einen leeren deutschen Schützengraben durchquert und waren schlitternd, krabbelnd und rennend in die warme Küche zurückgekehrt. Drummond hatte dem Hauptmann Bericht erstattet. Was konnte er ihm gesagt haben?

      Jetzt, zwei Tage später, wo er Impis Kopf zeichnete, stellte sich John noch immer diese Frage. In Texas hatten die Feldübungen für ihn auch keinen Sinn ergeben, aber hier und jetzt war alles unmittelbar bedrohlicher. Sie waren in die dunkle, feinderfüllte Nacht hinausgegangen, ohne zu wissen, was sie taten. Drummond wußte, was zu tun war. Jeder hatte sich darauf verlassen.

      “Aber Kelly, wir alle verlassen uns auf das, was jemand sagt. So ist das Leben überall. ‚Mä, mä, schwarzes Schaf ... Aber nichts für den kleinen Jungen, der am Ende der Gasse lebt.’[4]. Aber nichts für den kleinen Jungen, der am Emde der Gasse “ Blom machte große Augen.

      “Was sagt der da?” gähnte Impi. “Hey, Kelly, das dauert lange. Bin ich so ein interessanter und schwieriger Gegenstand?”

      Er betrachtete Impi, der den Kopf gegen die Wand zurückgelehnt hatte, und seine Sorgen verschwanden. Die Masse dieses Kopfes, der sich nur halb von den Schatten abhob, war das Problem, das er lösen mußte.

      “Hältst du das Stück Kohle richtig, Kell?” Impis Kopf bewegte sich.

      “Holzkohle. Bitte nicht bewegen.”

      “Nur ein Ire schleppt Kohle und Dichtung in seinem Rucksack mit sich herum.”

      “Hör auf, dich zu bewegen.” Er hatte die Augen fertig und fing an, die kleinen Lachfältchen einzuzeichnen, die um sie herum lagen. Die Schattierung belebte Impis zart geschnittenes Gesicht auf dem Papier. Die Blässe der Wange, die gegen den Bart abstand, wiederholte sich in den Schatten und der Wand. Die regenüberströmte Außenmauer, die im rechten Winkel zum Fenster entlanglief, die windgepeitschten Bäume, die fetten Regentropfen, die auf dem Fensterbrett explodierten, und die endlos dahintreibenden Wolken, die ihre Schatten in den Raum warfen, zogen sich vor seinem Blick zusammen. Eine Stille hatte Zeit und Raum durchquert, um dieser in Unordnung geratenen Welt eine Ordnung zu bringen.

      Liebe Kathy,

      endlich, nach zwei Tagen vollständiger Verwirrung, in denen Du mir als das einzig Wahre und Bleibende erschienen warst, fühle ich mich wieder etwas gesammelter. Ich glaube, die Schwierigkeiten begannen, als mir der Führer unseres Trupps – ein netter Kerl, aber eine regelrechte Kassandra – von den deutschen Verteidigungsanlagen erzählte, gegen die wir antreten müssen. Die erste Patrouille, die wir machten, führte uns über unsere eigenen Linien und ins Niemandsland, und wir haben tatsächlich einen leeren deutschen Schützengraben durchquert. Keiner wußte, ob das tatsächlich unsere Aufgabe war. Aber alles hier scheint so sinnlos. Die ganze Patrouille war verrückt. Ich hatte Angst, aber an einem Punkt fühlte ich mich zum Lachen. Es war kalt und regnete, und wir konnten nichts sehen. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie sind wir nicht verlorengegangen. Ab und zu erhellte sich der Himmel mit Explosionen wie beim Feuerwerk am Unabhängigkeitstag. Ich fragte mich immer wieder, was ich hier tat. Was in aller Welt machte ich mit meinem geschwärzten Gesicht? Ich benahm mich wie ein Pfadfinderjunge oder so etwas, und der Regen tropfte mir in den Rücken, und der Schlamm zog an meinen Stiefeln und ließ mich alle paar Minuten auf den Knien landen. Und weißt du, was die einzige Antwort war, die mir kam? Ich versuche, mich nicht töten zu lassen. Das muß das Ziel jedes einzelnen Mannes in unserem Trupp sein, in unserem Zug, und in der ganzen Armee. Es ist das Ziel der ganzen Welt. Aber wie sind wir dann in diesen Krieg hineingekommen? Es macht einen nachdenklich. Alle müssen das gleiche denken, aber keiner redet davon. Weißt du, was uns der Typ am Vorposten sagte, als wir in das Niemandsland hinausgingen? “Paßt auf, Jungs, kommt diesen Weg zurück und gebt uns Betty Grable[5] laut und deutlich, wenn ihr am Leben bleiben wollt. Wir sind furchtbar nervös.”

      Ich habe Impi gezeichnet. Ich hatte nie zuvor gesehen, was für ein hübsches Gesicht er hat. Es hat gewöhnlich einen amüsierten oder scherzhaft-panischen Ausdruck. Er redet die ganze Zeit wie ein Maschinengewehr und spielt den Clown. Doch hat er sich in diesem Moment gegen die Wand geflezt. Um seine Augen liegen Lachfältchen, doch lassen sie ihn jetzt erscheinen, als würde er weinen.

      Der Brief entspann sich in seinem Kopf. “Hey, Kelly, ich bin noch keine Leiche. Ich kann nicht ewig so bleiben.” Plötzlich sprang Impi auf, war mit zwei großen Schritten an seiner Seite und starrte auf die Zeichnung. “Hey, du kannst zeichnen. Du bist großartig. Kein Wunder, daß die auf mich stehen. Ich glaub’, ich werde das am Eingang aufhängen und sie für mich Schlange stehen lassen. Was meinst du, Kell?” Er setzte sich die Wollkappe auf und schob an den Enden den Bart unter. Dann hüllte er sich in eine Decke. Er beugte eine imaginäre Partnerin zurück. “Giovanna sagt, ich wirke wie Rudolf Valentino. Ich bin der Scheich von Arabien[6].” Er tanzte Tango. “Entschuldige, du schöne Kreatur, aber ich muß durch die Wüste reiten. Lawrence von Arabien wartet auf mich. Das heißt, ich bin Lawrence von Arabien.” Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, er zog sich die Decke über die Nase und galloppierte, sie hinter sich her fliegen lassend, bis zur Tür.

      “Wirst du gefälligst aufhören!” rief Koch.

      John sah, daß er ein christusartiges Gesicht gezeichnet hatte.

      “Mann, seit dieser verrückte Italiener da ist, ist das ein Irrenhaus!”

      “Hör auf, Imp!” Ein Stiefel, ein leerer Proviantkarton und ein Buch regneten auf Impi herab, der anhielt und drohend einen Arm erhob.

      “Hütet euch!” rief er. Dann zog er sich wieder die Decke über die Nase und tanzte in seine Ecke zurück. Von der Decke gedämpft hörte man, wie er einen Schlager pfiff.

      Die Tür öffnete sich mit einem Knall, und Metter trat, eine Hand erhoben, in den Raum; zwischen seinem Daumen und Zeigefinger glänzte etwas.

      “Kelly und Imperiello! Ich hab’ was für euch.”

      “Ein Zwei-Wochen-Paß?” fragte John.

      “Post von meinem Frauenfanclub.”

      John trat vor, und Metter hielt ihm ein Paar in Silber gefaßte Gewehre auf blauem Untergrund hin.

      “Was ist das?”

      “Abzeichen für Frontsoldaten. Kriegt man nach fünf Tagen.”

      Sie hatten die ersten fünf Tage geschafft. Die gekreuzten Gewehre ließen ihn vor Zufriedenheit strahlen. Kowalski trat heran, stützte sich auf seine Schulter und lächelte breit