Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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dass er nicht müde wurde, gegen die schwache Strömung anzuschwimmen, sich treiben zu lassen, um dann wieder zu schwimmen. Beverly war sich sicher, dass er auch heute Nacht wunderbar schlafen würde.

      „Was wollten die Kerle eigentlich von dir?“, fragte sie dann. Sie wusste nicht, ob Mike darüber reden wollte, oder ob es ihm vielleicht unangenehm war, aber er zögerte nicht lange mit einer Antwort.

      „Das sind Schläger. Ich weiß nicht, ob sie einen bestimmten Grund dafür brauchen, jemanden zu ärgern, der schwächer ist als sie. Streber haben ja auch keinen Grund, gute Noten zu schreiben. Sie tun es einfach, weil es ihre Art ist. Vielleicht liegt es daran, wer seine Eltern sind oder wo man auf die Welt kommt und wie man erzogen wird.“ Er zuckte mit den Schultern. „Manche Menschen werden mit einem Schicksal geboren und können nichts dagegen tun, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang versuchen, dagegen anzukämpfen. So, wie man auch nichts dagegen machen kann, dass man dunkle Haare hat oder fünf Finger an jeder Hand.“

      „Haben sie dich denn schon öfter …“ – sie suchte nach Worten.

      „Verprügelt?“, half er ihr. „Du kannst es ruhig aussprechen, weil es nichts Anderes ist. Ja, haben sie, aber das letzte Mal war schlimm.“ Sein gezwungenes Lächeln konnte Beverly nicht über die wahren Gefühle, die hinter seinem Gesicht waren, hinwegtäuschen. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was passiert wäre, wenn du nicht aufgetaucht wärst. Sie hätten mich nicht umgebracht – zumindest glaube ich das – aber sie waren auch noch nicht mit mir fertig.“

      „Du hast ihnen nichts getan?“

      „Ich bin einfach anders als sie. Und weil ich dick bin und damit langsamer als andere Kinder, tun sie sich leichter, mich zu isolieren. Das ist wie in diesen Dokumentarfilmen über Löwen in Afrika: sie isolieren die Kranken und Schwachen von der Herde und fressen sie dann auf.“

      „Ich mag solche Menschen nicht“, sagte Beverly traurig. „Ich glaube, die Welt wäre viel einfacher, wenn es solche Menschen nicht geben würde.“

      „Die Welt wäre traurig und langweilig, wenn wir alle gleich wären.“

      „Interessant“, musste Beverly zugeben. „Wenn man es so betrachtet hast du vielleicht recht.“ Sie blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte und seufzte dann. „Ich hab Lust auf ein Eis.“

      „Sollen wir eins essen gehen?“

      „Willst du denn überhaupt eins? Oder willst du bloß mit, weil ich das jetzt gesagt hab?“

      Er schaute sie schräg an. „Ist das jetzt dein Ernst? Du frägst mich , ob ich ein Eis will?“

      Sie verdrehte die Augen. „Schon klar. Dann los – gehen wir! Belle!“

      Sie erreichten die Stadt nach etwa zwanzig Minuten. Es gab eine Menge Stellen, an denen man sich Eis kaufen konnte, aber Mike bestand auf eine ganz Bestimmte.

       „Du kannst mir glauben: der Umweg wird sich lohnen, ganz ehrlich. Das ist das beste Eis der ganzen Stadt. Ich weiß, wovon ich rede!“

      Sie gingen durch das Stadtzentrum und einige hundert Meter am Stadtpark entlang, ehe sie in eine kleinere Seitenstraße abbogen, in der nicht besonders viele Geschäfte waren. Sie befanden sich fünf Querstraßen oberhalb der Schule, die im Augenblick verlassen dalag und nur der Hausmeister und einige fleißige Handwerker dabei waren, alles für das neue Schuljahr vorzubereiten. Zu den Hauptaufgaben gehörten in diesem Sommer das Auswechseln von defekten Glühbirnen und das Verlegen eines neuen Bodens in der Turnhalle – ein ziemlich schweres Geschäft, wenn man bedachte, dass in der Halle gut und gerne dreißig Grad herrschten.

      Als sie durch die Straßen gingen, fielen Beverly die Schilder und Werbeflyer auf, die überall aufgestellt worden waren und in der leichten Brise flatterten. Auf allen war vom „Großen Stadtball“ die Rede, der in wenigen Wochen stattfinden würde. Es war das Highlight des Jahres, was öffentliche Veranstaltungen in der Stadt anbelangte. Jeder, der etwas auf sich hielt, ließ sich dort blicken – wenn schon nicht in der Halle und auf der Veranstaltung selbst, dann aber zumindest am späten Abend vor der Halle, wenn das Feuerwerk losging und die ganze Stadt in einen mystischen Schein hüllte. Beverly hatte es letztes Jahr von ihrem Zimmer aus gesehen und verträumt zum Fenster hinausgeschaut. Ihr Vater hatte ihr verboten, selbst daran teil zu nehmen. Sie hoffte inständig, dass er dieses Jahr vergessen würde, es ihr zu verbieten. Erlauben würde er es ihr sicher nicht, aber so lange er es ihr nicht verbot, war es vermutlich in Ordnung, sich hin zu schleichen.

      In einer weiteren Seitenstraße war schließlich die Eisdiele. Der Laden war nicht viel größer als ein Toilettenhäuschen, zumindest hatte es von außen den Anschein. Draußen standen nur drei kleine Tische mit jeweils zwei Stühlen, außerdem ein mickriger Schirm, der gerade einmal genug Schatten für einen einzigen Tisch warf. An der kleinen Theke, die zur Straße zeigte, standen gerade zwei Mädchen, die etwas älter waren als Beverly, und kauften sich jede ein Eis. Mike und Beverly stellten sich dahinter an, als ihr plötzlich etwas einfiel und ihr die Farbe aus dem Gesicht trieb.

      „Ich hab überhaupt kein Geld dabei!“, stöhnte sie und schlug sich die Hände vor das Gesicht. „Mein Gott – daran habe ich überhaupt nicht gedacht!“

      Belle, der neben ihr Platz genommen hatte, schaute sie mit großen Augen an.

      Mike winkte ab und grinste. „Das geht auf mich.“

      „Das …“

      Er unterbrach sie mit einer hektischen Handbewegung. „Ich bin dir doch was schuldig, weil du mir das Leben gerettet hast.“ Er grinste. „Und wenn es nur ein Eis ist: mit irgendetwas muss man anfangen, richtig?“

      Sie wollte widersprechen, aber da waren sie auch schon an der Reihe und Mike schob sie sanft nach vorne, damit sie eine Wahl treffen konnte. Sie entschied sich für eine Kugel Schokolade, Mike für Erdbeere.

      „Haben Sie auch eine Schale Wasser für unseren Hund hier?“, fragte er dann, als er bezahlte und deutete auf Belle, der artig neben ihnen sitzen geblieben war. „Ihm ist furchtbar heiß!“, sagte er übertrieben theatralisch und tat so, als wischte er sich selbst den Schweiß von der Stirn. „Das liegt an seinem dichten Fell, wissen Sie?“

      Die Frau hinter dem Tresen nickte und verschwand im hinteren Teil des Ladens. Dann kam sie mit einer großen Plastikschale voll mit Wasser zurück. Mike bedankte sich und stellte die Schale etwas abseits von ihnen auf den Boden, wo sich Belle sofort daran zu schaffen machte. Sie selbst setzten sich neben ihn auf zwei der Stühle und schleckten genüsslich ihr Eis, während die Sonne vom Himmel strahlte.

      „Und?“, fragte er erwartungsvoll und deutete auf ihr Eis. „Wie findest du es?“

      Beverly fand, dass es wie jedes andere Eis auf der Welt schmeckte, aber sie streckte trotzdem den Daumen nach oben. „Super!“

      Er nickte zufrieden. „Sag ich doch!“

      Dann deutete er auf einer der Flyer, der sich im Wind hin und her bewegte und, da war Beverly sich sicher, bald das Weite suchen würde, so schlampig wie er befestig worden war.

      „Der Stadtball“, sagte er. „Hast du das Feuerwerk letztes Jahr gesehen?“

      „Mhm. War wunderschön.“

      „Dieses Jahr soll es noch größer werden, hast du das gewusst?“

      „Nein! Wieso denn?“

      Mike lehnte sich etwas im Stuhl zurück. „Das erste Mal, dass dieser Ball stattgefunden hat, liegt dieses Jahr genau fünfzig Jahre zurück. Und weil die Stadt viel Wert auf solche Traditionen legt und noch Geld übrig hat, wollen die Oberen das gebührend feiern. Meiner Meinung nach könnten sie das Geld auch für andere Dinge ausgeben – ich denke da an deinen Lieblingsspielplatz – aber so machen sie eben ein großes Feuerwerk draus. Schießen das Geld also buchstäblich in den Himmel.“

      Er lachte kurz.

      „Letztes Jahr waren meine Eltern allein dort und haben mir einen Babysitter auf den Hals gehetzt. Kannst du das