Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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Belang – wie man es auch immer nennen wollte. Beim ersten Überfliegen fiel Shawn auf, dass auch Dokumente aus dem Krankenhaus und zwei Zeitungsausschnitte beigefügt waren.

      Er begann zu lesen.

      Das beste Eis der Stadt

      Während die Tage vergingen und der Sommer keine Anstalten machte, sich in einen hässlichen, vorzeitigen Herbst zu verwandeln, wurde Beverly immer vertrauter mit dem Umgang der Strickleiter. Sie und Mike waren jetzt jeden Tag beim Baumhaus und sorgten dafür, dass es für den Herbst vorbereitet wurde. Sie erweiterten das Dach und die Wände mit Brettern, Mike besorgte starke Folie, mit der sie es abdichten konnten, und wenn ihnen die Arbeit zu viel wurde dann legten sie sich einfach nur auf den Boden und schauten den Himmel an, wo die Wolken vorbeizogen wie riesige Vögel. Immer an ihrer Seite war Belle, dem die viele Bewegung richtig gut zu tun schien und der jeden Abend völlig erschlagen in seinem Korb hinter dem Haus einschlief.

      „Warum hast du eigentlich angefangen, ein Baumhaus zu bauen?“

      Mike, der gerade damit beschäftigt war, einen krumm eingeschlagenen Nagel irgendwie wieder gerade zu bekommen, schaute auf und legte das Werkzeug aus der Hand.

      „Naja, weil man als Junge einfach ein Baumhaus braucht, denke ich. Außerdem habe ich das hier ja nicht wirklich von Anfang an gebaut – ein Großteil war ja schon fertig. Ich hab’s nur erweitert. Verbessert.“

      Beverly verstand nicht. „Was war der Grund, warum du angefangen hast?“

      „Langeweile.“

      „Und da baust du ein Baumhaus?“

      Mike zuckte mit den Schultern. „Andere gehen vielleicht lieber Schwimmen, aber du weißt, dass ich mich da nicht wohl fühle.“

      „Darf ich dir eine Frage stellen?“

      „Schieß los!“, antwortete Mike mit einem frechen Blitzen in den Augen.

      „Wie gut kannst du klettern?“

      „Du hast gesehen, wie ich auf das Klettergerüst gekommen bin, oder? Ich bin elegant und geschmeidig!“

      Sie dachte an den Moment zurück und hatte nur seinen roten Kopf vor Augen, der schien, als wolle er jeden Moment platzen, und schüttelte dann den Kopf.

      „Du bist nicht ungeschickt, aber auch kein Affe. Kannst du dir nicht denken, warum ich dich frag?“

      „Doch, natürlich.“ Er grinste. „Und ich kann dir sagen, dass du darauf nie kommen wirst.“

      „Dann sag es mir! Wie bist du hier hochgekommen, als noch keine Leiter da war?“

      Jetzt lachte Mike laut auf. „Das darf doch wohl mein Geheimnis bleiben, oder? Vielleicht errätst du es irgendwann von ganz alleine.“

      „Mike Tanning!“

      „Oh, bitte hör auf! So nennt mich meine Mutter immer, wenn sie böse auf mich ist. Da – schau her: ich bekomm‘ eine Gänsehaut!“

      Er hielt ihr den Arm hin, um seiner Behauptung Nachdruck zu verleihen.

      „Das ist nicht gut, Beverly, gar nicht gut.“

      „Du bist unfair, weißt du das?“

      Er überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. „Ganz im Gegenteil, Bev. Wo würden wir heute stehen, wenn einem alles immer mundgerecht aufbereitet werden würde? Wenn niemand mehr seinen Kopf anstrengen müsste, um ein Ziel zu erreichen?“

      „Du klingst wie ein Politiker!“

      Er nickte und grinste wieder, was Beverly noch viel wütender machte.

       „Mike, du bist ein netter Kerl, aber jetzt würde ich dich am liebsten erschießen!“

      „Schon wieder wie meine Mutter …“

      „Wann hast du angefangen, Baumhäuser zu bauen? Letztes Jahr?“

      Er nickte, machte sich aber jetzt wieder daran, den Nagel irgendwie aus dem Holz zu bekommen. Beverly konnte sehen, dass er es nicht schaffen würde, weil er nicht die richtige Technik hatte, aber sie ging nicht weiter darauf ein. Sollte er sich doch die Finger dabei blutig reißen – ihr war es egal.

      „Und du sagst, die Strickleiter hast du selbst gebaut.“

      „Ja.“

      „Wie, in Gottes Namen, hast du sie hier oben befestigen können?“

      „Wie gesagt: irgendwann wirst du von ganz alleine draufkommen.“

      „ Mike!“

      Unter ihnen gab Belle ein lautes Bellen von sich und Beverly, die gerade Luft geholt hatte für eine weitere, gereizte Frage, stieß ihren Atem einfach so aus und schüttelte dann den Kopf. Als sie über den Rand des Baumhauses hinaussah, konnte sie Belle unter ihnen sitzen sehen. Er wedelte fröhlich mit dem Schwanz und seine Zunge hing ihm aus dem weit geöffneten Mund.

      „Ihm ist warm. Und wahrscheinlich hat er Durst.“

      Mike nickte und ließ wieder von seinem Nagel ab.

      „Sollen wir runter zum Fluss gehen? Eine kleine Pause ist sicher nicht verkehrt. Später kommt bestimmt wieder etwas Wind auf, dann können wir noch einmal kommen und müssen nicht schwitzen wie Tiere in der Wüste.“

      „Gute Idee. Vielleicht ertränke ich dich dann.“

      Es war nicht weit bis zum Flussufer. Belle sprang ins Wasser und tollte darin herum als wäre es das Schönste und Beste auf der ganzen Welt. Beverly und Mike setzten sich ans Ufer, zogen ihre Schuhe aus und hingen die Füße ebenfalls ins Wasser. Es war kalt, aber auch irgendwie angenehm.

      „Keine Chance, dass du es mir sagst?“

      „Nicht heute, Liebling.“

      Sie puffte ihn in die Seite.

      „Ich komm‘ noch drauf, das weißt du?“

      Er nickte. „Klar tust du das. Du bist eine richtige Streberin.“

      „Woher …?“. Sie schüttelte den Kopf. „Wie kannst du so etwas behaupten?“

      „Beverly: kannst du mir sagen, was die schlechteste Note in deinem Zeugnis ist? Und jetzt komm mir nicht mit Sport, weil das überhaupt kein richtiges Fach ist. Menschen wie ich sind dabei von Natur aus schon benachteiligt und diese Note hat damit überhaupt keine Relevanz. Ich rede von den richtigen Fächern: Mathe, Geschichte, Naturwissenschaften und so weiter. Die Fächer, in denen man entweder klug oder fleißig sein muss.“

      Sie sagte nichts, aber das schien Mike zu genügen.

      „Siehst du: eine Streberin. Fass das bitte nicht als Beleidigung auf, weil es das nicht ist. An einer Schule gibt es verschiedene Arten Schüler: die Sportlichen, die Schläger, die Freaks, die Streber oder die Todesengel.“

      „Was sind denn die Todesengel?“

      „Kennst du die Leute, die sich die Haare schwarz färben und immer geschminkt durch die Gegend laufen – auch die Typen? Mit den langen, schwarzen Klamotten und den düsteren Gesichtern? Das sind die Todesengel. Ich weiß, sie nennen sich anders, aber das ist mir egal. Sie sind nicht wirklich gruslig – die meisten zumindest – aber du kannst mir nicht erzählen, dass die noch alle Tassen im Schrank haben.“

      „Und ich gehör also zu den Strebern?“

      Er musterte sie. „Naja, du bist definitiv weder Sportler noch Schläger. Und wie ein Todesengel siehst du auch nicht aus. Bleiben noch Freaks und Streber. Vielleicht ist es der Hitze geschuldet, aber du kommst mir nicht vor wie ein Freak.“

      „Ich fasse das mal als Kompliment auf.“

      „Solltest du, solltest du!“ Er nickte heftig. „Ich bin übrigens ein Sportler.“

      „Aber du bist den Kerlen vor ein paar Wochen nicht davongelaufen. Ich meine die, die dich geschlagen haben.“