Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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Vater war ein Mann, der einem das nicht offen dankte, aber das erwartete sie auch nicht. Für sie war es Dank genug, wenn er nach Hause kam und sich über nichts beschwerte, weil sie dann wusste, dass sie alles genau so gemacht hatte, wie er es haben wollte. Und wenn er zufrieden war, dann wurde er auch nicht …

      Belle gab einen Laut von sich und verschwand aus der Tür. Beverly musste nicht aufzusehen, um zu wissen, dass ihr Vater nach Hause kam.

      Auf dem Revier

      Alfred Rubert war Polizist aus Leidenschaft. Mit sechzehn Jahren hatte er die Schule abgeschlossen und sich für den Job als Polizist entschieden. Und jetzt, fünfundvierzig Jahre später, war er immer noch so glücklich mit seiner Entscheidung, dass es ihm morgens nicht schwerfiel, aus dem Bett zu steigen, und abends hatte er immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn er die Uniform in seinen Spind hängte und zu seiner Frau nach Hause ging. Sicher – es gab Tage, an denen fragte er sich, was nur schief gelaufen war mit den Menschen, mit denen er Arbeiten musste: Gewalttäter, Räuber, Drogensüchtige. Aber er hatte früh gelernt, dass es nicht gut war, wenn man sich den Kopf über zu viele Dinge zerbrach, die man ja doch nicht ändern konnte. Und so half er, wo er helfen konnte und wo man ihn helfen ließ, und überließ alles andere dem Lauf des Schicksals, das er – wie er selbst wusste – nicht ändern konnte.

      Alfred saß am Steuer des Polizeiautos, so wie er es die letzten zwanzig Jahre getan hatte. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Shawn Davis und schaute aus dem Fenster. Sie fuhren gerade am Schulzentrum vorbei, wo heute keine Menschenseele unterwegs war, weil die Ferien vor einigen Tagen begonnen hatten. Am Abend konnte es hin und wieder sein, dass sich Menschen, vor allem Jugendliche, hierher verirrten und gemeinsam feierten, und dann mussten sie natürlich einschreiten und die Versammlungen auflösen, weil das Gelände außerhalb des regulären Unterrichts Sperrgebiet war. Shawn musste immer bei dem Gedanken lächeln, dass die Jugendlichen während der Schulzeit am liebsten überall sonst wären, es während der Ferien aber scheinbar keine zwei Tage aushielten, ohne dorthin zurück zu kehren.

      „Wie kommt Laurie mit der vielen Freizeit zurecht?“, fragte Alfred. Er betätigte den Blinker und bog links ab in Richtung Stadtzentrum.

      „Noch ganz gut. Aber frag mich in zwei Wochen nochmal.“

      „Aber sie kocht dir jeden Tag etwas Gutes zu Essen, nicht wahr?“

      Shawn lächelte. „Ja. Ein tolles Gefühl, wenn man nach Hause kommt, und sich um nichts mehr kümmern muss.“

      „Wem sagst du das.“

      „Wie lange sind du und Mary eigentlich schon verheiratet? Du hast es mir bestimmt schon mal erzählt, aber manchmal ist mein Gedächtnis wie ein Sieb.“

      „Das wird im Alter nicht besser. Dreiunddreißig lange Jahre.“

      „Lange Jahre?“

      Alfred grinste verschmitzt, sagte aber nichts weiter dazu.

      „Glaubst du, du könntest sie wieder einmal dazu überreden, uns diesen Kürbiskuchen zu machen? Der ist himmlisch.“

      Alfred seufzte. „Wem sagst du das. Dir macht sie sicher einen, aber ich kann froh sein, wenn sie mich daran riechen lässt. Seitdem ihr Bruder vor einem Jahr an diesem Herzinfarkt gestorben ist, achtet sie peinlich genau drauf, was ich esse und wie viel ich esse.“

      Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Leidens. „Ich hab John nie besonders gut leiden können, aber das werde ich ihm nie verzeihen.“

      „Aber du bist doch gut in Form.“ Shawn musterte seinen Kollegen. „Zumindest für dein Alter.“

      „Komm du erst einmal in mein Alter, Shawn“, brummte Alfred. „Dann können wir weiterreden.“

      Sie fuhren jetzt auf der Mainstreet, einer Straße durch die Innenstadt, wo sich links und rechts eine Menge Läden befanden. Hauptsächlich Boutiquen, aber hier und da auch Lebensmittelläden und vereinzelt Wohnhäuser. Auf den Gehsteigen herrschte reger Betrieb.

      „Scheinbar ist die halbe Stadt auf den Beinen.“

      Alfred nickte. „Siehst du, wie viele Frauen hier mit Tüten in den Händen rumlaufen? Und siehst du, wie viele genervte Ehemänner und Freunde hinter ihnen her trotten, die sich im Augenblick nichts sehnlicher wünschen als den Tod?“

      „Ich bin heilfroh, dass Laurie immer alleine einkaufen geht.“

      „Oh, aber nicht für den großen Ball, da kannst du deinen Arsch drauf verwetten.“

      Shawn zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“

      „Aber ich weiß es. Glaub mir: dreiunddreißig Jahre Ehe haben mir so einiges beigebracht. Und wenn Frauen die Möglichkeit haben, sich an einem Abend so richtig hübsch zu machen, dann nutzen sie diese Chance, koste es was es wolle. Und dann wollen sie das volle Programm: Friseur, Kosmetik, neue Schuhe, neues Kleid …“

      „Das kann sie alles alleine kaufen. Und das macht sie auch, weil Laurie eine wirklich selbstständige Frau ist.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung der überfüllten Gehsteige. „Nicht so, wie die meisten von den Hühnern.“

      „Hast du einen Anzug, Shawn?“

      „Klar.“

      „Passt er dir noch?“

      „Was ist denn das für eine Frage?“

      Alfred lächelte, während er in den Rückspiegel schaute und dann die Spur wechselte. Sie steckten im Stau vor einer Ampel, was zur Folge hatte, dass der kühlende Fahrtwind aufgehört hatte und sie jetzt in ihrer Uniform im Auto regelrecht gegrillt wurden. Shawn wedelte sich mit einer Zeitschrift etwas Luft zu.

      „Laurie wird sich bestimmt ein Kleid kaufen wollen. Und wenn sie ein Kleid findet, das ihr passt und gefällt, dann wird sie es kaufen. In dem Augenblick gibt es für Frauen nämlich nur noch dieses eine Kleid und kein anderes mehr. Geld spielt da keine Rolle, Shawn.“

      „Laurie zahlt sich ihre Kleider immer selbst. Soll sie von mir aus eine Million dafür ausgeben.“

      „Darauf will ich gar nicht hinaus, auch wenn sich das mit den Jahren noch ändern wird.“ Er holte tief Luft und schnaufte dann laut aus. „Vertrau mir, Shawn, das wird sich ändern. Aber was ich eigentlich sagen wollte: wenn ihr Kleid nicht zu deinem Anzug passt, dann hast du nur zwei Möglichkeiten. Entweder, du kaufst dir einen neuen Anzug und gibst ihr deine Eier in einer Geschenktüte mit Schleife drum herum, oder du sitzt das aus, was sonst passiert.“

      „Meine Eier mit einer Schleife?“, hakte Shawn interessiert und auch ein wenig belustigt nach. „Wann hast du dich denn verkauft?“

      „Shawn, das ist ein schleichender Prozess. Der erste neue Anzug ist noch nicht die ganze Kastration, aber vielleicht schon die Fahrt zum Tierarzt. Und irgendwann sind sie dann ab, deine Eier, und du kommst aus der Nummer nicht mehr als Mann raus, sondern als kleines Mädchen.“

      „Und die Alternative?“

      „Kein Sex. Kein Essen. Eisiges Schweigen und böse Blicke.“

      „Das sind ja tolle Aussichten.“ Aber so recht glauben konnte er seinem älteren Kollegen (und Vorgesetzten, wenn man ehrlich war) nicht. Dafür, so glaubte er, kannte er Laurie einfach zu gut.

      „Aber du kannst tanzen, oder?“

      „Walzer, ja.“

      Alfred nickte zufrieden. „Das reicht für den Anfang. Wann hast du zum letzten Mal getanzt?“

      Da musste auch Shawn erst einmal in sich gehen. Das war schon einige Zeit her, soviel war sicher. Aber wann genau?

      „Ich denke, nach meinem Abschluss am College.“

      „Oh.“

      „Aber das verlernt man nicht.“ Shawn ging in Gedanken noch einmal die Schritte durch, um sich selbst endgültig von der Tatsache zu überzeugen. Sein Tanzlehrer (auch auf dem College) hatte ihnen damals gesagt, dass sie sich einfach eine Kiste vorstellen