Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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Der Junge, der am Boden gelegen hatte, saß jetzt bereits aufrecht da und wischte sich immer noch das Blut vom Gesicht. Seine Hände waren ganz rot verfärbt, aber Beverly bemerkte, dass sie Blutung in der Nase schon aufgehört hatte und sich bereits eine dunkle Kruste über seiner Oberlippe bildete.

      „Was hast du ihnen getan?“, fragte sie.

      Er zuckte mit den Schultern. „Die sehen nicht so aus, als bräuchten sie einen Grund, um jemanden zu verprügeln.“

      „Wie kommt es, dass ich dich hier noch nie gesehen habe?“

      „Ich bin noch nicht lange auf dieser Schule. Erst vier Wochen oder so.“

      Er stand auf und klopfte sich den Staub von den Klamotten. Er war ziemlich mitgenommen – ein Knopf von seinem Hemd war ausgerissen, sein linker Ärmel war kaputt und auch seine Hose hatte einiges abbekommen. Außerdem waren überall kleine Blutflecke zu finden. Er schaute an sich herab und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Beverly ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Es war eine Mischung aus angewidertem Staunen und humorvollem Feststellen.

      „Meine Mum wird sich freuen“, gab er zu Protokoll und schaute Beverly an.

      Jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und lachte laut auf. Er betrachtete sie einen Moment lang fragend, dann stimmte er ein. So standen sie sich lachend gegenüber, zwei Fremde, und machten so die Schmerzen und die Angst vergessen, wie es nur Kinder können.

      „Mein Name ist Michael. Michael Tanning.“ Er hielt ihr die Hand hin. „Aber meine Freunde nennen mich Mike.“

      „Freut mich dich kennenzulernen, Mike.“ Sie drückte seine Hand. „Ich bin Beverly Marks. Meine Freunde nennen mich Beverly.“

      Sie lächelte.

      „Ich werde dich Bev nennen.“

      Sie schaute ihn verwirrt an. „Warum?“

      „Jeder Name verdient eine Abkürzung. Beverly ist ein schöner Name, aber der ist auch ganz schön lang. Bev kling irgendwie cooler.“

      Sie dachte kurz darüber nach, dann nickte sie. „Warum eigentlich nicht?“

      Mike seufzte. „Jetzt muss ich nur noch überlegen, wie ich damit klarkommen soll, dass mich ein Mädchen gerettet hat. Das ist nichts, womit ich auf dem Schulhof mehr Freunde finden würde, hm?“

      „Ich werd es keinem verraten. Und wenn du auch niemandem davon erzählst dann wissen es nur wir beide und diese drei Schläger. Und denen glaubt doch sowieso niemand, hab ich nicht recht?“

      Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich weiß es aber. Mein inneres Ich wird sich lange Zeit darüber schlapp lachen was für ein Weichei ich bin.“

      Beverly lächelte. „Du wirst sicher die Gelegenheit bekommen, dich bei mir zu revanchieren.“

      Mikes Gesicht hellte sich auf. „Meinst du wirklich?“

      Sie nickte. „Man bekommt im Leben für alles die Möglichkeit, es zu verändern oder zu verbessern. Man muss die Möglichkeiten nur finden und sehen.“

      Sie standen sich einen Moment schweigend gegenüber. Mike schaute auf seine Füße, Beverly auf Mikes rundes Gesicht, das zwar blutverschmiert war, aber trotzdem freundlich wirkte.

      „Wo wohnst du?“

      „Kennst du das große Autokino?“

      „Ja.“

      „Nicht weit von dort. Wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich die Filme mit ansehen. Es sind dann zwar Stummfilme, aber besser als gar nichts, oder?“

      „Dann könnten wir ein Stück zusammen gehen. Das liegt fast direkt auf meinem Heimweg.“

      Das war eine Lüge, aber wohl keine, für die man nach seinem Tod in die Hölle kam. Sie tat niemandem weh. Eigentlich war es für Beverly ein kleiner Umweg, aber sie hatte es nicht eilig und Zuhause wartete außer Belle niemand auf sie. Bis ihr Vater von der Arbeit zurück kam würde die Sonne schon untergegangen sein.

      „Klar.“ Mike war anzusehen, dass er froh war, nicht wieder alleine sein zu müssen.

      Gemeinsam verließen sie den Wald, gingen zurück auf den Weg und dann durch den Park weiter in die Stadt. Sie unterhielten sich den ganzen Weg über, und als Beverly und Mike sich schließlich vor seinem Haus trennten, verabredeten sie sich für den nächsten Tag.

      Damit begann der Sommer.

      Im Baumhaus

      Als Shawn nach Hause kam, saß Laurie in ihrer kleinen Küche am Tisch und spielte lustlos mit der Kordel des Vorhangs, der am Fenster hing. Im Backofen schmorte ein Braten vor sich hin, der das ganze Haus in einen abenteuerlich guten Geruch hüllte, und in einem Topf, der nur noch bei halber Hitze auf dem Herd stand, warteten die Kartoffeln darauf, die Dunkelheit hinter sich zu lassen, um auf einem Teller zu landen.

      Er blieb im Türrahmen stehen.

      „Du bist eine super Köchin, weißt du das eigentlich?“

      „Warte nur mal, bis du es probiert hast. Das, was mein Vater kocht, riecht auch immer gut.“

      Shawn zuckte mit den Schultern. „Bei dir bin ich mir sicher.“

      Sie lächelte ihn an. „Ich mir bei dir auch.“

      Ihre Blicke trafen sich und Laurie spürte, wie am ersten Tag ihres Kennenlernens, wie ihr Herz höherschlug. Er kam ganz durch die Tür, bückte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie berührte ihn am Arm und streichelte ihn sanft.

      „Wie war dein Tag?“

      „Nichts Besonderes. Der Briefkasten der alten Mrs. Tekle ist in der Nacht schon wieder zerstört worden.“

      „Schon wieder?“

      „Ja. Sie sagt, sie hat in der Nacht ein Geräusch gehört, aber in der Dunkelheit nichts gesehen. Sie glaubt, dass es ihr Nachbar ist, aber es ist nicht so leicht, dem etwas nachzuweisen. Gründe dafür hätte er genug – und ich wäre der letzte Mensch, der ihn nicht verstehen würde. Die Frau ist verrückt, Laurie, einfach nur verrückt! Hat ihn bei Alf angeschwärzt, dass er angeblich in seinem Keller irgendwelche illegalen Dinge mit Alkohol macht.“

      „Schnaps brennen?“

      Er zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich. Weil sie in der Nacht ab und zu Licht in seinem Keller sieht und es so komisch riecht.“ Er stöhnte während er einen Blick in den Ofen warf und dann anerkennend das Gesicht verzog. „Als ob man auf der gegenüberliegenden Straßenseite riechen könnte, wenn jemand im Keller Schnaps brennt.“

      „Geht ihr der Sache nach? Als verantwortungsvolle Polizisten solltet ihr das machen“, sagte Laurie ernst und erwiderte den genervten Blick von Shawn mit einem Lächeln. „Ich möchte nicht in einer Stadt leben, wo Verbrecher tun und lassen können was sie wollen, ohne dass ihnen die Staatsbediensteten auf die Finger klopfen!“

      „Mhm.“

      Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte sich. „Vielleicht unterstütz ich euch in den nächsten Wochen ein bisschen. Ich werd dafür ‘ne ganze Menge Zeit haben.“

      „Du könntest uns unterstützen indem du hin und wieder einen Kuchen im Revier vorbeibringst.“

      „Damit ihr faul und fett werdet?“ Sie überlegte kurz. „Nein. Aber ich kann euch jeden Tag einen Apfel und eine Birne bringen.“

      „Hauptsache ich kann dich sehen.“

      „Du Schleimer!“

      Er lächelte. „Aber jetzt würde ich töten für ein bisschen Essen. Wie steht es mit dem Ding da im Ofen?“

      „Mit diesem Ding meinst du sicher meinen weltberühmten Krustenbraten. Wie sieht er denn für dich aus?“

      „Fertig?“

      „Ist