Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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überhaupt.

      Sie stellte sich vor die große Tafel und schaute in die Runde. Die Gespräche wurden zu einem leisen Murmeln, dann wurde es schließlich ganz still. Sie blickte in zwei Dutzend gespannte, junge Gesichter. Mädchen und Jungs, blond oder brünett, im letzten Jahr gewachsen oder immer noch so klein wie zu Jahresbeginn – die Veränderungen, die die Kinder in diesen Jahren durchmachten, waren unglaublich und faszinierend.

      Sie atmete tief durch: „Guten Morgen ihr Lieben.“

      Und im Chor: „Guten Morgen Ms. Wittmann.“

      Laurie nickte. Der letzte Tag vor den Ferien hatte begonnen.

      „Susann Looper.“

      Ein Mädchen mit dunklen Zöpfen stand auf. Sie kicherte, als ihre Sitznachbarin etwas sagte, und ging dann schnell nach vorne zu Laurie, um sich ihr Zeugnis abzuholen.

      „Gut gemacht, Susann.“ Laurie überflog das Zeugnis noch ein letztes Mal, obwohl sie es selbst am Vortag unterschrieben hatte. Nur bei den wenigsten ihrer Schüler musste sie sich ernsthaft Sorgen machen. Viele waren hier und da etwas faul, aber wenn sie sich recht erinnerte, war sie das in dem Alter auch gewesen (und wenn sie noch genauer nachdachte fiel ihr auf, dass sie auch im Studium nicht immer zu den Fleißigsten gehört hatte) und im Vergleich mit den anderen Klassen aus dieser Schule lag sie etwas über dem Schnitt. Was wollte sie mehr?

      „Danke, Ms. Wittmann.“ Das Mädchen mit den Zöpfen nahm ihr Zeugnis mit großen Augen entgegen, schüttelte Laurie schüchtern die Hand und ging dann mit schnellen, kleinen Schritten zurück an ihren Platz, wo das andere Mädchen wieder etwas flüsterte. Es war etwas unruhiger in der Klasse geworden, gerade in den letzten zehn Minuten, als sie begonnen hatte, die Zeugnisse zu verteilen. Die Uhr zeigte jetzt kurz vor zwölf Uhr Mittag und es waren nur noch wenige Minuten übrig, bevor das Schuljahr sich dem Ende neigen und einen Sommer voller Möglichkeiten und Abenteuer eröffnen würde.

      „Beverly Marks.“

      Beverly saß in der dritten Reihe am Fenster. Sie schaute verträumt nach draußen, doch als sie ihren Namen hörte, zuckte sie kurz zusammen und ging nach vorne. Laurie folgte ihr mit den Augen, dann warf sie einen Blick auf das Zeugnis und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. Beverly Marks war ihre beste Schülerin. In jedem Fach. Und in den Fächern, in denen sie von den Noten so gut war wie manche ihrer Mitschüler, hätte Laurie am liebsten einen Stern hinter die Eins gemalt, um zu signalisieren, dass diese Note für die Leistung noch nicht einmal angemessen war.

      „Das wird deine Eltern stolz machen“, sagte sie und hielt Beverly das Zeugnis hin. Doch noch ehe sie es aus der Hand gegeben hatte, hielt sie einen Moment lang inne.

      „Was ist mit deinem Gesicht passiert?“, fragte sie erschrocken. Die Wange von Beverly war leicht verfärbt. Nicht so stark, dass man es von der Ferne hätte sehen können, aber wenn man nah genug dran war, stach es einem sofort ins Auge. Die Backe war nicht rosa, sondern an einigen Stellen etwas lila gefärbt und am Mundwinkel hing etwas, was aussah wie getrocknetes Blut von einer Wunde.

      Beverly blickte sich nervös um, fast so als wollte sie sicherstellen, dass auch niemand etwas mitbekommen hatte. Dann senkte sie den Kopf, als sie Laurie antwortete.

      „Ich bin gestern hingefallen.“

      „Wie ist das denn passiert?“ Laurie betrachtete das Gesicht des Mädchens eingehender, konnte aber sonst keine Wunden feststellen.

      Die Antwort kam rasch, aber dennoch entging Laurie die kurze Pause nicht.

      „Als ich mit dem Fahrrad Milch holen war.“ Sie lächelte unsicher und schaute Laurie fest in die Augen. „Ich musste nochmal zurückfahren und neue kaufen, aber die Scherben habe ich eingesammelt, damit sich niemand verletzt.“

      Laurie runzelte die Stirn, während in ihrem Kopf die Sirenen aufheulten. Das lag nicht daran, dass sie ihre Lehrerin war und im Studium gelernt hatte, auf gewisse Zeichen zu achten, sondern vielmehr daran, dass es in diesem Fall so offensichtlich war, dass es schon weh tat. Beverly hatte nicht eine einzige Schramme an der Hand oder an den Unterarmen, und auch die Knie waren völlig in Ordnung. Auf gar keinen Fall war sie mit dem Fahrrad gestürzt. Und sie war auch nicht gegen einen Türstock gelaufen oder von einer Treppe gefallen, weil sie wieder einmal nicht aufgepasst hatte. Laurie kannte viele solcher Geschichten.

      Umso schwerer fielen ihr die nächsten Worte.

      „Dann pass in den Ferien besser auf dich auf, okay?“ Sie reichte Beverly das Zeugnis, die es schüchtern entgegennahm. „Du bist eine sehr gute Schülerin. Mach so weiter und du hast eine große Zukunft vor dir, hörst du?“

      „Danke, Ms. Wittmann.“

      Laurie schaute ihr noch kurz in die Augen, schaute auf ihre Wange und von dort weg auf ihre Lippe, und nickte ihr dann zu – das Zeichen, dass sie sich wieder hinsetzen durfte.

      Für die Kinder endete das Schuljahr zehn Minuten später. Laurie blieb noch länger im Klassenzimmer sitzen und schaute nach draußen. In ihrem Kopf flogen die Gedanken in einer leichten Brise hin und her wie Blätter im Herbst. Laurie versuchte, sie zu ordnen. Schließlich dachte sie an Beverly Marks und an den schüchternen Blick in den Augen des Mädchens, als sie ihr das Zeugnis gegeben hatte und sie wohl gebetet hatte, keine weiteren Fragen über sich ergehen lassen zu müssen. Ihr Blick war so traurig gewesen wie bei keinem anderen Kind an diesem Tag. Laurie konnte sich überhaupt nicht erinnern, jemals einen so traurigen Blick in den Augen eines Kindes gesehen zu haben.

      Beverly passte sich der Geschwindigkeit der anderen Kinder an, die schnellen Schrittes durch die Gänge und Treppenhäuser eilten, um so bald wie möglich draußen zu sein und den ersten Tag ihrer Freiheit genießen zu können. Erst, als sie auf den Treppenstufen vor dem Gebäude angekommen war und nur noch die letzten Stufen hinuntergehen musste, blieb sie für einen kurzen Moment stehen und schaute sich um. Überall waren Kinder, die kreuz und quer über den Schulhof liefen. Hin und wieder hatte sich auch ein Lehrer zwischen sie verirrt, aber das war die Ausnahme. Die meisten Lehrer trafen sich nach Ende der letzten Stunde noch im Lehrerzimmer, um die letzten Worte ihres Direktors zum Jahresabschluss zu hören und – natürlich – auch, um miteinander anzustoßen. Das Jahr war gut verlaufen, besser als das vorherige. Im letzten Schuljahr hatte es vor dem Gebäude einen tragischen Unfall gegeben, als eine gestresste Mutter ein Kind übersehen und es beim Ausparken mit dem Heck ihres Wagens mitgenommen hatte. Das Kind war später im Krankenhaus gestorben. Doch in diesem Jahr war alles glatt gelaufen, und wenn das für einen Lehrer kein Grund war, anzustoßen, was sollte es denn dann für einen geben?

      Beverlys Haare wurden von einem sanften Windstoß in Bewegung gebracht. Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und ging dann die Treppe hinunter. Hätte sie in diesem Augenblick jemand gesehen, dann hätte dieser Jemand sie nicht für ein gerade dreizehn Jahre altes Mädchen gehalten, denn sie wirkte so viel älter, so viel erwachsener, dass es einem die Sprache verschlagen hätte. Erst, als sie die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, war dieser seltsame Moment wieder vorbei und auf dem Boden vor dem Schulgebäude stand wieder eine Schülerin, ein Mädchen, das sich zum einen freute, dass jetzt der lange Sommer kam, und zum anderen ein wenig wehmütig war, dass das Schuljahr nun hinter ihr lag.

      Sie hatte beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Das hatte sie früher schon gemacht, und bei diesem Wetter war das kein Problem. Sie brauchte für den Weg etwa eine Stunde, aber sie hatte bequeme Schuhe an, ihre Schultasche war leicht und die Sonne strahlte so freundlich vom Himmel, dass es eine Schande gewesen wäre, in einem überfüllten und stickigen Bus zu sitzen. Also drängte sie sich an den anderen Kindern vorbei und hielt sich zunächst ein wenig links, wo die große Sporthalle stand. In ihrem Schatten ging sie dann weiter vorbei an den schweren, steinernen Tischtennisplatten, die weniger zum Spielen als vielmehr als Sitzmöglichkeit verwendet wurden, hinunter durch die angelegten Terrassen zur Straße. Die Schule lag leicht erhöht auf einem kleinen Hügel, und wenn man unten an der Straße stand, wo jetzt die Autos der Eltern und die Busse sich ein wütendes Hupkonzert lieferten, musste man den Kopf leicht heben, um es zu sehen. Dazwischen lag eine Ansammlung von Grünflächen und Bäumen, die dafür sorgten,