Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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hatte. Er war jetzt alleine mit all der Verantwortung, und das war etwas, was vielleicht gar nicht so schlecht war. In schlimmen Zeiten war es immer so gewesen, dass das Volk einen Einzelnen zu ihrem Führer gemacht hat, weil eine Person alleine die Entscheidungen schneller und besser treffen konnte. Nun hatte das Schicksal dafür gesorgt, dass er dieser Führer war, sowohl für sein Wohl als auch für das, was seine Frau ihm als einziges zurückgelassen hatte, nämlich seine Tochter.

      Beverly … Er musste lächeln, als er das Gartentor aufstieß und hineinging. Es quietschte, aber er hörte es nicht. Er schwankte, aber bemerkte es nicht. Und anstatt zu rufen, wie er glaubte, schrie er mit sich überschlagender Stimme ihren Namen, so dass man ihn noch hundert Meter weiter hören konnte.

      Er war Zuhause.

      Mike

      Der Schulbus hielt nicht vor ihrem Haus, wie er es bei den ganzen anderen Kindern machte. Vor drei Jahren, an einem verregneten Tag im Herbst, war er auf der schlechten Straße stecken geblieben und die Feuerwehr hatte den Bus befreien müssen. Danach hatte sich der Busfahrer geweigert, weiter zu fahren, weil er sein eigenes Leben und auch das der Kinder nicht aufs Spiel setzen wollte. Dann, bevor man ihm daraus einen Strick hätte drehen können, war die Stadtverwaltung eingesprungen und hatte beschlossen, die letzte Haltestelle etwa eine Meile vor das Haus von Beverly zu verlegen. Deshalb stand sie seitdem immer etwas früher auf und ging die Strecke bis dahin zu Fuß. Sie konnte zwar Fahrrad fahren, besaß aber keines mehr. An schönen Tagen machte ihr das Laufen nichts aus. Belle blieb stets an ihrer Seite und genoss die Zeit mit ihr sichtlich – schließlich musste er dann immer den halben Tag warten, ehe er sie wiedersehen konnte. Oft saß er dann schon an der Haltestelle und holte sie sozusagen ab, was einigen Eltern etwas Angst machte, weil sie es nicht guthießen, wenn ein Hund ohne Leine und vollkommen ohne Führung durch die Straßen lief. Man konnte schließlich nie wissen, was in so einem Hund vor sich ging: ein lautes Geräusch, eine plötzliche Bewegung – und schon waren Unglücke vorprogrammiert. Beverly konnte über solche Gedanken nur lachen, denn Belle war der sanfteste Hund auf der Welt und schaffte es noch nicht einmal, den Fliegen etwas zu leide zu tun, die ihn den ganzen Sommer über nervten.

      Sie wartete zehn Minuten an der Haltestelle zusammen mit drei anderen Kindern, dann kam der Bus und sie stieg hinein. Belle blieb draußen zurück und wartete, bis der Bus aus seinem Sichtfeld verschwunden war, ehe er zurück stapfte und den Tag irgendwie rumbrachte, nur um dann am Nachmittag wieder auf Beverly zu warten.

      Beverly saß alleine, während um sie herum die Kinder artig in Zweierreihen saßen, miteinander redeten, scherzten und lachten. Es war eine ausgelassene Stimmung im Bus, schließlich war es der letzte Tag vor den langen Sommerferien. Man unterhielt sich über Urlaube, Ausflüge zum Wandern und Zelten, über den Besuch der Verwandtschaft in den umliegenden Städten und Bundesstaaten, Sommerlager in den Wäldern und der Bereitschaft, dort zu lernen, wie man ein Feuer machen konnte, wenn man kein Feuerzeug hatte oder Fische zu fangen, um in der Wildnis zu überleben. Die Jungs unterhielten sich häufig über Sport: Football spielen hier, Baseball dort und – ganz selten – europäischen Fußball. Die Mädchen sprachen über Rollschuhlaufen, Volleyball, schöne Kleidung für das große Sommerfest in der Stadt in einigen Wochen. In diesem Zusammenhang fielen häufig die Worte Verabredung oder Date . Für viele Mädchen waren das die ersten Erfahrungen in dem Bereich. Später, auf dem College, würde sich das ändern. Sie redeten von Ballkleidern, schönen Schuhen, Tanzen, und vor allem darüber, wer mit wem ging und welcher der Jungs wohl welches der Mädchen fragen würde, ob es mit ihm zum Sommerfest gehen würde.

      Es war ein großes Durcheinander, aber ein ausgelassenes und fröhliches. Nur Beverly beteiligte sich nicht daran. Sie saß alleine am Fenster und schaute nach draußen, wo die Landschaft und die Häuser der Stadt an ihnen vorbeiflogen, während die Sonne langsam aufstieg und die Wolken dahin schmelzen ließ wie Eis. Sie freute sich auch auf das Sommerfest, vor allem auf das große Feuerwerk am Ende, aber es kümmerte sie nicht, ob sie eine Verabredung für diesen Abend hatte oder nicht. Noch hatte sie keiner der Jungs gefragt und sie war auch nicht besonders scharf darauf, noch von jemandem gefragt zu werden. Die meisten waren Idioten, und das sagte sie nicht, weil sie naiv war und einfach generell etwas gegen Jungs hatte, sondern das sagte sie, weil sich die meisten ihr gegenüber wie welche benahmen. Sie hatte in der Schule nicht wirklich gute Freundinnen, und damit war sie in den Augen der Jungs eine Außenseiterin. Auch wenn der ein oder andere heimlich für sie schwärmte, wagte es doch niemand, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war deswegen nicht unglücklich, auch wenn man das hätte meinen können, wenn man sie so alleine am Fenster sitzen sah.

      Der Bus erreichte den großen Platz vor der Schule und sie gingen in ihre Klassenzimmer. Obwohl es noch früh am Morgen war, hatte es schon über fünfundzwanzig Grad im Schatten. Fast alle Kinder trugen kurze Hosen und T-Shirts, die Mädchen trugen alle Kleider. Auch Beverly trug ein Kleid, auch wenn es schon etwas älter war und nicht mehr so schön war, wie die der meisten anderen Kinder. Sie konnte ein bisschen Nähen, aber noch nicht gut genug, um sich selbst ganze Kleider anzufertigen. Aber sie hatte es zumindest geschafft, aus dem bisschen, was sie hatte, etwas zu machen, was sie nicht ganz als Außenseiterin dastehen ließ. Diesen Sommer hatte sie jedoch vor, besser Nähen zu lernen. Es gab in der Stadt noch Kinder, denen es schlechter ging als ihrem Vater und ihr, und denen man es auch ansehen konnte. Die meisten dieser Kinder kannte Beverly, weil sie es waren, mit denen sie ab und zu am Nachmittag etwas unternahm. Sie waren eine kleine Gruppe Kinder, die sich nicht darauf reduzierten, was sie hatten oder was sie nicht hatten, sondern die einfach nur Spaß miteinander wollten und damit zurechtkamen, dass sie von den meisten anderen Kindern nur schief angeschaut wurden.

      Das Leuten der Schulglocke zeigte allen, dass der letzte Schultag begann. Der Hof leerte sich schnell, Kinder liefen durch die Gänge auf der Suche nach ihren Klassen, Lehrer drängten sich durch die Scharen an Schülern und beteten, dass sie diesen letzten Tag gut herumbringen würden. Einige hatten den Sekt schon kaltgestellt, andere die Koffer bereits gepackt in den Autos und wieder andere waren auch ein wenig wehmütig.

      Eine von ihnen war Laurie Wittmann, die Lehrerin von Beverly Marks. Laurie war dreißig Jahre alt und seit zwei Jahren an der Schule. Sie kam nicht aus der Gegend, sondern aus dem Norden des Landes, aber während ihres Studiums war sie weit herumgekommen und hatte sich schließlich hier niedergelassen. Das lag zum einen daran, dass sie eine Stelle bekommen hatte – eine Stelle, von der sie schon seit ihrer Kindheit geträumt hatte - zum anderen natürlich daran, dass sie einen Mann kennen und lieben gelernt hatte. Shawn war der Mittelpunkt ihres Lebens geworden. Sie hatten sich in einem kleinen Café kennengelernt und waren nach einem Jahr zusammengezogen. Er liebte sie so, wie es noch nie ein anderer Mann vor ihm getan hatte und sie fühlte sich in seiner Gegenwart geborgen und war jede einzelne Sekunde glücklich, dass es ihn gab. Sie hatte einmal gelesen, dass es Menschen gab, die ihr ganzes Leben lang nach demjenigen suchten, der sie so glücklich machte und dann doch einsam starben, und war umso dankbarer für das, was das Leben ihr schon jetzt beschert hatte.

      Sie glaubte, dass er ihr bald einen Antrag machen würde.

      Jetzt, da die Kinder an ihr vorbeiliefen, alle gut gelaunt und fröhlich, konnte sie sich bei dem Gedanken ein Lächeln nicht verkneifen. Es war ein strahlendes Lächeln, das auf ihrem makellosen Gesicht so natürlich wirkte, als ginge gerade die Sonne am Horizont auf. Sie hatte langes, blondes Haar, das ihr glatt über die Schultern fiel. Häufig trug sie während der Arbeit einen Pferdeschwanz, aber heute war ihr nicht danach gewesen. Vielleicht würde sie sich später darüber ärgern, wenn die Hitze drückend wurde und ihre Haare an ihrem Hals und ihrem Nacken kleben würden, aber so weit mochte sie heute gar nicht denken. Heute dachte sie nur daran, wie schön es sein würde, wenn sie die Ferien mit Shawn verbringen konnte. Sicher: er musste zur Arbeit, aber er arbeitete im Ort und war damit immer in ihrer Nähe.

      Immer noch lächelnd betrat sie das Klassenzimmer – ihr Klassenzimmer – und wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als zwei letzte Nachzügler sich noch hereindrängten, ein knappes „Entschuldigung“ und „Guten Morgen“ hervor pressten und dann schnell auf ihren Plätzen verschwanden, wobei sie ihre Schultaschen achtlos unter die Tische warfen. Laurie war sich sicher, dass die meisten von ihnen nicht mehr als ein Blatt Papier dabei hatten und die ganzen Hefte