Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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geknackt hatte.

      Sie ging an ihrem Bus vorbei und winkte einem Mädchen zu, das sie kannte. Dieses erwiderte den Gruß und verschwand dann in einer Traube aus größeren Schülern, die in den Bus drängten als gäbe es kein Morgen mehr. Beverly lächelte und ging mit festen Schritten auf dem Gehsteig entlang weiter in Richtung Innenstadt. Langsam wurden die Geräusche leiser, das Hupen und die Schreie verklangen in der Ferne, und als sie schließlich um eine Ecke bog, waren es nur noch die üblichen Geräusche der Stadt, die sie wahrnehmen konnte. Da war das Klingeln eines Glöckchens oberhalb einer Ladentür, die gerade geöffnet wurde, entfernt das Bellen eines Hundes, Autos, die gemütlich durch die Straßen fuhren und das Husten eines Mannes, der sich an etwas verschluckt hatte und dem von einer hübschen jungen Frau, vielleicht seiner Freundin, auf den Rücken geklopft wurde, während er mit hochrotem Kopf etwas vornübergebeugt dastand.

      Beverly überlegte kurz, welchen Weg sie nehmen wollte und entschied sich dann, nicht direkt durch die Stadt zu gehen, auch wenn das der kürzere Weg wäre. Sie bog an den nächsten beiden Kreuzungen jeweils nach rechts ab und kam so schließlich in eine ruhigere Seitenstraße, an deren Ende ein großer Park war, durch den man sowohl zu Fuß als auch mit dem Rad gelangen konnte. Dort war es zu dieser Zeit immer ruhig. Erst nach Feierabend trafen sich dort viele Gruppen mit ganz unterschiedlichen Zielen: die einen zum Grillen mit Freunden, die anderen zum Baseballspielen und wieder andere nur, um sich in der Abendsonne mit einem Glas Rotwein in das kleine Restaurant zu setzen, das das letzte Gebäude in der Straße war und an dem Beverly auch gerade vorbei ging. Noch war es leer, aber ein fleißiger Kellner hatte bereits damit begonnen, die Stühle von den Tischen zu nehmen und Schirme aufzustellen.

      Der Park war ein großes Oval und man ging praktisch genau vom unteren Ende dieses Ovals hinein. Auf der linken Seite befanden sich zunächst nur wenige Bäume, weiter hinten dann ein kleiner Wald mit einem winzigen Teich in der Mitte, in dem ein paar Fische lebten. Auf der rechten Seite befand sich eine große Wiese, die nur ab und zu von fest montierten Sitzgruppen und Mülleimern unterbrochen wurden. Das Gelände war zuerst sehr eben, aber dann fiel es leicht ab. Weiter hinten kamen dann ein Baseballplatz und eine Minigolfanlage, die erst seit drei Jahren wieder geöffnet und es dann geschafft hatte, sowohl junge als auch alte Gäste anzuziehen. Am hinteren Ende des Parks befand sich ein gemauerter Platz mit einem kleinen Springbrunnen in der Mitte, der vor vielen Jahren von den wohlhabenderen Einwohnern gespendet worden war, in einer Initiative, die irgendetwas mit dem verschönern des Stadtbildes zu tun gehabt hatte. Dieser Initiative waren auch die zahlreichen neuen Laternen zu verdanken, die den Weg in regelmäßigen Abständen säumten. Wenn es dunkel war und man im Restaurant saß, ein Glas Wein in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen, sah es so aus, als würde sich ein leuchtender Wurm seinen Weg durch den finsteren Park bahnen. Der Springbrunnen am anderen Ende war auch beleuchtet und rundete das Gesamtkunstwerk ab.

      Ganz in Gedanken versunken nahm Beverly die Schreie zunächst nicht wahr. Erst, als ein lautes Lachen dazu kam, schreckte sie aus ihren Träumen hoch und blieb stehen. Die Geräusche waren von links gekommen, wo einige Bäume standen, ehe in etwa fünfzig Metern Entfernung dann der eigentliche Wald begann. Sie musste zweimal hinsehen, um die Gestalten zwischen den Bäumen zu erkennen. Sie glaubte, dass es sich um drei Jugendliche handeln musste, von denen einer um ein gutes Stück größer war als die anderen.

      Dann wieder ein Schrei – ein Schmerzensschrei um genau zu sein. Dann wieder das Lachen. Beverly war sich sicher, dass es die drei Jugendlichen waren, die dort lachten. Aber wer schrie?

      Ohne lange darüber nachzudenken ging sie vom Weg ab und in Richtung des Waldes. Als sie näherkam und ihre Augen sich an die Schatten gewöhnt hatten, konnte sie sehen, von wem die Schreie kamen. Es waren nicht nur die drei Jungen, die im Wald standen, sondern es waren vier. Der Vierte lag am Boden und war über und über mit Dreck besudelt. Als sie nahe genug dran war, konnte Beverly auch sehen, dass seine Nase blutete.

      „Quieke für uns, du Schweinchen! Nur noch einmal!“, rief der Größte der drei, die um das am Boden liegenden Häufchen Elend standen.

      „Quiek, quiek“, machte einer der anderen beiden, ehe er nach dem Jungen am Boden trat, und alle drei lachten.

      Der vierte Junge versuchte aufzustehen, aber noch bevor er sich vom Boden hochdrücken konnte, wurde er schon wieder zu Boden getreten.

      „Bleibst du wohl unten!“, rief der dritte Junge und trat noch einmal nach. Er traf sein Opfer in die Rippen, so dass er jaulend zu Boden ging und sich vor Schmerzen krümmte. Die anderen drei kicherten vergnügt.

      Beverly war jetzt nahe genug bei ihnen, um ihre Gesichter zu sehen. Vom Sehen kannte sie alle, aber den dritten Kerl kannte sie persönlich beim Namen. Er hieß Tom und wohnte in derselben Straße wie sie, wenngleich auch immer noch über eine Meile entfernt.

      „Was tut ihr denn da?“, rief sie empört aus.

      Alle drei zuckten zusammen und fuhren herum, als hätten sie einen elektrischen Schlag bekommen. Sogar der Junge am Boden, ein etwas dickerer blonder Kerl mit geröteten Augen, schaute zu ihr hoch. In seinen Augen flammte kurz Hoffnung auf, gerettet zu sein, doch als er registrierte, dass es sich bei seiner vermeintlichen Rettung um ein kleines Mädchen handelte, dass etwa in seinem Alter war, sank er wieder zu Boden und atmete schwer weiter.

      „Lasst ihn in Ruhe! Er kann sich doch schon gar nicht mehr wehren.“

      Der größte Junge hatte sich am schnellsten wieder gefangen. Er lächelte Beverly böse an.

      „Du vorlautes kleines Miststück. Sieh zu, dass du verschwindest, sonst landest du bei ihm auf dem Boden!“

      „Du würdest ein Mädchen schlagen?“, fragte Beverly trotzig und ging noch einen Schritt auf sie zu. Die anderen beiden wichen zurück, nur der große Kerl blieb stehen und musterte sie interessiert. „Was würde deine Mutter sagen, wenn sie dich so sehen würde?“

      „Wage es nicht, über meine Mutter zu sprechen!“, zischte er, aber Beverly konnte sehen, dass ihre Worte Eindruck hinterlassen hatten. Zumindest dachte er kurz darüber nach.

      Sie ging noch einen Schritt auf die Gruppe zu. Dieses Mal wichen sie alle drei zurück. Ihr Blick fiel auf Tom.

      „Tom - lasst ihn in Ruhe. Er kann sich doch überhaupt nicht mehr rühren.“

      „Du kennst die Kleine?“, fragte der Große.

      Tom schaute zu Boden. „Ja, Henry. Von früher – naja, sie wohnt in meiner Straße. Ich … kommt schon, vielleicht hat sie recht. Er ist fertig und wir haben noch den ganzen Sommer vor uns. Lassen wir die Sache für heute gut sein.“

      „Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?“, fauchte Henry wütend und schlug Tom gegen den Oberarm. „Nur, weil ein Mädchen hier auftaucht?“

      „Sie hat doch recht“, mischte sich der andere Junge ein. Beverly musterte ihn und war sich sicher, dass sie ihn auch irgendwoher kannte. Aber sein Name fiel ihr nicht ein, zumindest im Moment. Sie schaute auf den Jungen am Boden, der sich mit dem Handrücken das Blut vom Gesicht wischte, es aber nicht wagte, den Blick zu heben.

      „Alan – du auch noch?“ Henry gab ein verächtliches Schnaufen von sich und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf Beverly. Ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie das böse Blitzen darin sah. „Gut, wir verschwinden. Das Wetter ist gut und der Sommer noch lang. Aber wir sind noch nicht fertig, klar? Nicht mit ihm und erst recht nicht mit dir, klar?“

      „Klar“, antwortete Beverly und schaute ihm fest in die Augen. „Wie du meinst.“

      Henry leckte sich über die Lippen und nickte. Dann drehte er sich um, trat noch einmal gegen den am Boden liegenden Jungen und ging dann an Beverly vorbei, wobei er es sich nicht nehmen ließ, ihr mit der Schulter einen kräftigen Stoß mitzugeben. Beverly hatte alle Hände voll damit zu tun, nicht zu stürzen und ihm diesen Erfolg zu gönnen, und sie blieb auch stehen. Alan und Tom gingen ohne solche Aktionen an ihr vorbei und schauten ihr auch nicht einmal in die Augen. Sie mussten einige Meter laufen, um Henry einzuholen. Dann gingen sie alle drei nebeneinander in Richtung Springbrunnen davon.