Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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normales Mädchen eben auch machte. Viele Eltern wären insgeheim vielleicht sogar froh gewesen, wenn ihr Kind so brav gewesen wäre wie Beverly, auch wenn das natürlich niemand zugegeben hätte.

      Aber Beverly war nachdenklich geworden. Und eben in jenem Moment, als der leichte Wind sie sanft hin und her schaukeln ließ, war sie tief in Gedanken versunken und schaute mit leerem Blick auf die hinter dem Haus liegenden Wiesen und die beginnenden Wälder. Wäre in diesem Moment neben ihr eine Bombe explodiert – sie hätte es vermutlich gar nicht gehört.

      Es gab nur ein einziges Geräusch, was sie aus ihren Gedanken zu reißen vermochte: das Bellen ihres Hundes. Und genau das war es, was sie plötzlich hörte, sie zusammenzucken ließ und dann doch ein Lächeln auf ihr oft viel zu ernstes Gesicht zauberte.

      Sie drehte sich herum und benutzte dabei ihre Zehenspitzen, die gerade so noch den Boden berührten, um mit dem Reifen eine Drehung zu vollführen, um dann den Blick in Richtung Haus und Straße zu haben, von wo aus sie das Bellen gehört hatte. Im selben Moment schoss Belle (das letzte „e“ im Namen war stumm) um die Ecke. Belle war ein etwa drei Jahre alter Golden Retriever mit ganz hellem Fell und großen, schwarzen Augen, die in diesem Augenblick hell funkelten. Er machte große Sprünge auf sie zu und beschleunigte noch einmal, als er sah, dass sie sich freute ihn zu sehen und ihre Arme ausbreitete um ihn in Empfang zu nehmen.

      „Hey, Belle!“, rief sie erfreut. „Komm her mein Kleiner!“

      Belle, ob er sie nun verstand oder nicht, machte genau das und sprang auf sie zu. Hätte er nicht auf den letzten Metern noch abgebremst hätte er sie wahrscheinlich von der Schaukel gerissen, aber Belle war ein kluger Hund, und so kam er kurz vor ihr zum Stehen und stellte nur seine Vorderpfoten auf ihren Oberschenkeln ab und bedachte ihr Gesicht zur Begrüßung mit seiner nassen Zunge.

      Beverly lachte, obwohl die Haut auf ihrer rechten Wange dabei unangenehm spannte. Aber die Schwellung war nicht schlimm. Man sah sie fast nicht.

      Sie fuhr ihm durchs Fell und kraulte ihn hinter den Ohren. Sie hatte Belle bekommen als er nicht viel größer gewesen war als der Arbeitsschuh ihres Vaters. Ihre Tante, hatte ihn ihr geschenkt. Ihr Vater war von der Idee überhaupt nicht begeistert gewesen, hatte es dann aber nach einer längeren Diskussion mit seiner älteren Schwester doch durchgehen lassen. Beverly hatte sich nie die Frage gestellt, ob er einfach nur nachgegeben hatte, weil sie gute Argumente für einen Hund gehabt hatte, oder weil ihm einfach die Diskussion zu blöd geworden war. Seine einzige Auflage war, dass er mit dem Hund nichts zu tun haben musste und sich Beverly um ihn kümmerte, egal ob es um Auslauf, Arzt oder Verpflegung ging. Er wollte sich nicht damit beschäftigen, weil er keine Zeit dafür hatte, und Beverly hatte dem ohne zu zögern zugestimmt. Sie war vom ersten Moment an verliebt in ihn gewesen: in seine großen Augen, die Art und Weise, wie er bellte und sprang und nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass sie in den langen, einsamen Nächten gerne jemand bei sich hatte, wenn ihr Vater nicht zu Hause war und draußen Füchse oder andere Tiere unterwegs waren und um das Haus herumschlichen.

      „Wo kommst du denn her, hm? Belle – du warst hoffentlich nicht wieder bei Mister Jenkins im Garten, oder? Du weißt, dass er keine Hunde mag und ich hab gehört, dass er eine Schrotflinte neben der Tür stehen hat!“

      Belle bellte. Das konnte Ja oder Nein heißen, oder einfach nur Ich verstehe dich doch sowieso nicht .

      Beverly wertete es als Nein und drückte ihn fest an sich. Er roch gut, und das obwohl sie ihn schon lange nicht mehr gewaschen hatte. Er liebte Wasser, aber er hasste es, wenn man ihn wusch. Danach wälzte er sich meistens sofort wieder im Staub, um auch ja den ganzen Dreck, den er gerade verloren hatte, schnell wieder ins Fell zu bekommen, als wäre es überlebenswichtig. Ihr Vater hatte das einmal beobachtet und ihm dann verboten, zu ihnen ins Haus zu kommen. Seitdem hatte Belle sein Quartier hinter dem Haus neben dem kleinen Anbau, wo sich das Badezimmer befand, und kam nur nachts herein, wenn ihr Vater nicht im Haus war oder es draußen regnete.

      Es war Donnerstag und der letzte Schultag stand unmittelbar bevor. Ihm würde ein langer Sommer folgen, ein Sommer, auf den sich die meisten Kinder im Ort und im ganzen Land freuten. Denn Sommer bedeutete Spaß, bedeutete keine Schule und vor allem viel Zeit, um auszuschlafen oder die Welt zu erkunden. Beverly wusste noch nicht, ob sie sich freuen sollte. Denn für sie bedeutete der Sommer zwangsläufig, mehr Zeit Zuhause zu verbringen.

      Als hätte das Schicksal diesen Gedanken aufgeschnappt, hörte sie plötzlich das Quietschen der Gartentür. Sie bekamen selten Besucher und außer dem Postboten verirrte sich kaum jemand hinter die schäbigen Überreste ihres Gartenzaunes. Belle erstarrte in ihren Armen und schaute mit festem Blick in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Von seiner Freude und seinem überschwänglichen Lebensglück war in diesen Moment nichts mehr übrig und es schien so, als würde er die Luft anhalten und auf das warten, was als nächstes passieren würde. Beverly ging es nicht anders, auch wenn sie schon wusste, was kommen würde. Es war immer das gleiche und es wurde mit jedem Mal schlimmer, je länger es so ging.

      Dann hörte sie die Stimme ihres Vaters ihren Namen schreien.

      „Beverly!“

      Wütend.

      „Beverly!“

      Betrunken.

      Belle schaute sie mit großen Augen an und gab ein leises Winseln von sich. Sie fuhr im über den Kopf, versuchte zu lächeln und sprang dann auf. Es war nicht gut, wenn sie ihn warten ließ.

      Belle blieb alleine bei der Schaukel zurück, weil er wusste, dass er nicht mitkommen durfte. Er wusste, dass das ein Kampf war, den seine Herrin alleine führen musste, und so sehr er sich auch wünschte, bei ihr zu sein, so glaubte er doch, dass er damit alles nur schlimmer machen würde. Er mochte ihn nicht, ihren Vater.

      Fred Marks war ein großer Mann Ende vierzig mit grauen Haaren. Er war schlecht rasiert und machte alles in allem nicht den Eindruck, dass er viel von Körperpflege hielt. Er arbeitete in einer Fabrik, aber nur noch deshalb, weil der Boss ein alter Schulfreund von ihm war. Und auch dieser ganz spezielle Bonus neigte sich langsam dem Ende zu, denn Fred war nicht unbedingt einer jener Arbeitnehmer, die durch Leistung auffielen. Seitdem seine Frau ums Leben gekommen war trank er häufiger als zuvor. Und er trank nicht mehr nur in seiner Freizeit nach Feierabend oder am Wochenende, sondern er trank schon früh morgens, bevor er den ersten Schritt vor die Tür machte, er trank in seinen Pausen und auch während der Arbeit. Hinter seinem Rücken sprach man davon, dass er seinen Lebenswillen verloren hatte, doch das war nicht wahr, denn Fred Marks dachte zurzeit nicht daran, seinem Leben ein Ende zu setzen. Der Tod seiner Frau hatte ihn mitgenommen und ihn manchmal mit dem Gedanken spielen lassen, aber die Tendenzen zu seiner Sucht und zu seinem Wesen hatte er schon vorher gehabt und diesen Teil seines Ichs einfach nur versteckt. Jetzt war er frei, wenn man so wollte, konnte tun und lassen was er wollte. Er hatte seine Freunde, zumindest eine Handvoll, er hatte einen Job, der ihm das nötige Geld für seine Sucht lieferte und entgegen aller Meinungen hatte er Spaß an dem, was er tat. Er liebte es, zu trinken, er liebte es, die Welt in jenem ganz speziellen Licht zu sehen, wie man es nur konnte, wenn man einen über den Durst getrunken hatte und er liebte es, von den anderen Menschen in der Stadt gemieden zu werden, weil sie Angst vor ihm hatten. Er legte keinen Wert darauf, sinnlose Gespräche mit diesen ganzen Schwachköpfen zu führen, die ihn einerseits mitleidig anschauten und auf der anderen Seite hinter seinem Rücken über ihn sprachen, als sei er das Letzte auf dieser Welt: ein Alkoholiker, der sich aufgegeben hatte und dem das Leben zwischen den Fingern hindurch rann wie Wasser. Sie wussten nichts von ihm, wussten nichts von seiner Situation und seinen Gefühlen. Sie kannten ihn nicht und doch erlaubten sie sich, ein Urteil über ihn abzugeben, als wären sie zornige Götter, die auf ihn herabsahen und am liebsten von dieser schönen Erde verbannen würden, weil er ihren Boden mit Schmutz bedeckte, diesen schönen Boden einer heilen Welt, in der alles gut war und er nichts weiter war als ein dunkler Schandfleck. Hinter vorgehaltener Hand konnte er sie tuscheln hören, jeden einzelnen Tag, wenn er durch die Straßen lief. Er spürte ihre Blicke hinter seinem Rücken. Er konnte sogar die Angst riechen, diese schwere Ausdünstung der Schwachen, wenn er an ihnen vorbeiging und sie schleunigst versuchten, ihm irgendwie aus dem Weg zu gehen.

      Nein, was er wollte, das hatte er und