Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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      „So hungrig, mein müder Krieger?“

      „In einem Comic hätte ich jetzt ein Loch im Magen.“

      Er malte mit seinen Händen die Form eines Kreises vor einem Bauch und setzte einen traurigen Blick auf.

      „Na dann“, stöhnte Laurie und stand auf, gab ihm einen Kuss auf die Wange und machte sich daran, den Tisch einzudecken. Jetzt war es Shawn, der sich hinsetzte. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er ihr noch beim Tischdecken geholfen, aber nachdem sie immer was auszusetzen gehabt hatte, hatte er es aufgegeben und kümmerte sich seitdem lieber um den Abwasch. Damit konnten sich beide gut arrangieren.

      „Wie war dein Tag?“

      „So lala. Einerseits bin ich froh, jetzt ein paar Wochen meine Ruhe zu haben, aber andererseits werden mir manche von den Kleinen schon ganz schön fehlen.“

      „Alle zufrieden gemacht mit ihren Zeugnissen?“

      „Über dem Durchschnitt. Hab ich dir doch erzählt.“

      „Und keine Ausreißer?“

      „Nö.“

      „Du bist eine gute Lehrerin.“

      Sie lächelte ihn schelmisch an. „Ja, ich weiß.“

      Nach dem Essen blieb Laurie in der Küche sitzen und trank ein Glas Rotwein, während Shawn an der Spüle stand und leise vor sich hin pfiff während er das Geschirr zunächst spülte, dann abtrocknete und zu guter Letzt wegräumte.

      „Kannst du mir einen Gefallen tun, wenn du morgen wieder auf dem Revier bist?“

      Shawn drehte sich um und trocknete sich gerade seine Hände ab. Er zog die Augenbrauen in die Höhe.

      „Jeden Gefallen den du dir wünscht. Wieso?“

      Er sah Lauries nachdenklichen Blick, den sie sonst nur aufsetzte, wenn ihr wirklich etwas auf dem Herzen lag und sehr beschäftigte. Mit einer eleganten Bewegung schmiss er das Küchentuch aufs Fensterbrett und schnappte sich dann einen Stuhl, um sich ihr gegenüber zu setzen. Dann hätte er gerne etwas gesagt, aber im Laufe der Jahre hatte er gelernt, wann es besser war, wenn man schwieg, und so saß er einfach nur da, schaute ihr tief in die Augen und wartete ab. Egal, was es war: es musste von ihr kommen.

      Laurie überlegte, wie sie es formulieren sollte. Sie spielte einige Szenarien in ihrem Kopf durch und entschied sich dann, die Sache so einfach wie möglich anzugehen.

      „Wenn ich dir den Namen eines Kindes sage, dann könntest du doch sicher etwas über seine Eltern herausfinden, richtig?“

      „Über welches Kind?“

      Sie verzog das Gesicht. „Versprichst du mir, dass du nur unauffällig ein paar Informationen einholst? Vielleicht ist es nämlich überhaupt nichts und ich möchte nicht, dass irgendjemand Wind davon bekommt.“

      „Wenn du das möchtest.“

      Sie nickte und holte tief Luft.

      „Der Name des Kindes ist Beverly Marks.“

      „Und was ist mit dieser Beverly?“

      „Nichts … Naja, vielleicht doch, aber das weiß ich noch nicht. Ich möchte nicht, dass du da mit irgendwelchen Vorurteilen rangehst.“

      „Du traust mir also nicht zu, professionell zu sein? Laurie, das ist mit Job! Ich bin Profi genug, das kannst du mir schon glauben.“

      „Jaja, das weiß ich. Und trotzdem …“

      Sie brach ab und legte ihre Hand auf seine.

      „Bitte.“

      Ihre Blicke trafen sich. Shawn konnte sehr gut in ihren Augen lesen und war sich sicher, dass er mehr aus ihr herausbekommen hätte können, doch dann beließ er es dabei und nickte.

      „Klar.“ Er zog einen Notizblock und einen Stift aus seiner Tasche. „Marks?“

      „Ja. Danke mein Schatz.“

      „Der Name kommt hier in der Gegend vielleicht häufiger vor. Hast du noch mehr Anhaltspunkte?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Ihre Eltern waren noch nie bei einem Elternabend oder einer Veranstaltung dabei – zumindest wären sie mir nie aufgefallen. Meine Schülerin heißt Beverly und ist 13 Jahre alt. Das schränkt den Kreis der Möglichkeiten vielleicht weit genug ein?“

      Shawn notierte sich auch den Vornamen und nickte schließlich, als er den Block wieder verschwinden ließ. „Damit kann ich arbeiten. Soll ich nach etwas speziellem Ausschau halten?“

      Laurie überlegte wieder kurz.

      „Nein. Noch nicht.“

      Beverly und Michael trafen sich an ihrem ersten Ferientag auf einem alten Spielplatz am Stadtrand. Michael hatte ihr vorgeschlagen, sie von Zuhause abzuholen, aber Beverly hatte das abgelehnt. Wenn sie ehrlich war, dann schämte sie sich ein bisschen dafür, wo und wie sie lebte. Klar – früher oder später würde er ihr Haus vielleicht sehen, und wenn er auf eigene Faust einmal vorbeikommen würde ohne es vorher mit ihr abzustimmen, aber im Moment war sie darum bemüht, es so weit wie möglich nach hinten zu schieben.

      Der Spielplatz war vor gut zwanzig Jahren gebaut worden und damit lange vor ihrer oder Michaels Geburt. Seitdem hatte sich in der Stadt viel getan: Straßen waren gebaut worden, Häuser saniert und Parks und Grünflächen angelegt. Nun, dieser Spielplatz war dabei wohl vergessen worden, denn alles, was von ihm noch übrig war, war ein großes, rostiges Klettergerüst. Die anderen Geräte, überwiegend aus Holz, waren so heruntergekommen, dass man sie nicht mehr benutzen konnte. Überhaupt war der ganze Spielplatz eigentlich nicht mehr dafür geeignet, von Kindern zum Spielen benutzt zu werden. Davor warnte auch ein großes Schild an der verschlossenen Eingangstür, auf dem mit großen, roten Buchstaben „BETRETEN VERBOTEN“ geschrieben war. Irgendjemand hatte darunter ein paar unschöne Bemerkungen und Bilder gekritzelt, die Michael aufmerksam studiert hatte, als er angekommen war.

      Beverly hatte Belle dabei (Hunde waren auf dem Spielplatz eigentlich auch verboten, aber nachdem er ja sowieso geschlossen war, kümmerte sich freilich niemand darum) und saß auf einer Sprosse auf dem Klettergerüst. Sie winkte Michael, als sie ihn durch den Zaun hindurch erkannte.

      „Hallo Michael!“, rief sie. Belle legte den Kopf schräg und schaute aufmerksam zu dem Jungen hin. Sein Schwanz wedelte wild hin und her.

      „Für Freunde bin ich Mike“, antwortete er.

      Beverly lachte. „Komm rein, Mike!“

      Mike schaute sich einmal um und griff dann nach dem Türgriff. Aber natürlich war abgesperrt. Verwirrt trat er wieder einen Schritt zurück.

      „Aber da ist abgesperrt!“

      „Natürlich ist da abgesperrt. Hast du denn das Schild nicht gelesen?“

      „Und wie komme ich dann da rein? Muss ich da drüber klettern?“

      Er schaute unbehaglich auf den gut drei Meter hohen Maschendrahtzaun, der sich um den Spielplatz zog. Ganz oben hatte jemand Stacheldraht angebracht, um zu verhindern, dass jemand auf die Idee kam, darüber zu klettern. Mike konnte sich sehr gut vorstellen, wie die Feuerwehr kommen musste, um seine Weichteile aus dem Stacheldraht zu schneiden und bekam eine Gänsehaut. Auch ohne den Stacheldraht hätte er daran gezweifelt, überhaupt drüber zu kommen. Wenn man es freundlich betrachtete, dann konnte man sagen, dass er nicht besonders gut in Form war.

      „Da komm ich nicht drüber“, schloss er.

      „Musst du auch nicht. Oder glaubst du, dass Belle da drüber geklettert ist?“

      Er schüttelte den Kopf. „Wie dann?“

      „Komm hierher“, rief sie und sprang vom Gerüst. Dann ging sie an einer zerfallenen Wippe vorbei, durch einen modrigen Sandkasten und zu einer Stelle, wo der Zaun mit einigen Büschen verwachsen war, die in den letzten Jahren einfach niemand mehr geschnitten