Thomas Plörer

Ein Sommer in Nirgendwo


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irgendwie zwängte er sich dann doch durch. Mit ein paar Kratzern an den Armen, aber immerhin ohne Löcher in seinem Shirt oder seiner Hose.

      Beverly lächelte. „Ich hab’s selbst reingemacht.“

      „Und warum ausgerechnet hier?“, fragte Mike stirnrunzelnd und schaute sich um. Von innen wirkte der Spielplatz irgendwie gespenstisch und gefährlich. Von seinem früheren Charme war nicht mehr viel übriggeblieben, Kinder hatten hier sicher schon lange keine mehr gespielt und gelacht.

      „Gefällt’s dir nicht?“

      Er zuckte mit den Schultern. „Doch, ist ganz nett. Nur ein bisschen … verlassen.“

       Unheimlich.

      „Deswegen bin ich so gerne hier.“

      „Wo genau ist „Hier“ eigentlich? Ich hätte fast nicht hergefunden.“

      Sie lächelte ihn an.

      „Nirgendwo.“

      „Und wenn uns hier jemand sieht? Ein Erwachsener mein ich.“

      „Was ist dann?“

      Mike zuckte mit den Schultern. „Mein Dad hat mir beigebracht, dass man nicht einfach irgendwo hingehen darf, wo ein großes Schild mit der Aufschrift „BETRETEN VERBOTEN“ steht. Seine Ansichten mögen manchmal etwas spießig sein, aber irgendwie kann ich das dann doch nachvollziehen.“

      „Es kommt keiner.“

      „Woher weißt du das?“

      „Mike, du bist ein Angsthase.“

      „Bin ich gar nicht!“, widersprach Mike, dachte aber ehrlich darüber nach, ob er nicht doch einer war. Schließlich hatte er den ganzen Weg hierher über die Schulter geschaut, ob ihn die drei Typen von gestern nicht wieder verfolgten. Ein zweites Mal konnte und wollte er sich nicht retten lassen, schon gar nicht von einem Mädchen. Sollten sie ihn doch bewusstlos prügeln, ihm war es einerlei.

      „Ich bin hier schon so oft gewesen und es hat sich nie jemand beschwert. Ab und zu bekommt man einen bösen Blick zugeworfen, aber die Menschen sind immer alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich groß um das kümmern, was sie nicht direkt betrifft.“

      Wie um das zu bestätigen gab Belle ein lautes Bellen von sich. Mike zuckte zusammen.

      „Du bist wirklich ein Angsthase, hm?“, fragte Beverly ihn lächelnd und bückte sich zu ihrem Hund, um ihn hinter dem Ohr zu streicheln. „Der tut keinem was. Wenn ich ehrlich bin, dann ist das der wahrscheinlich liebste Hund auf der ganzen Welt.“

      „Ich hatte nur noch nie einen Hund“, gab Mike zu bedenken. „Deshalb weiß ich auch nicht, wie ich mich verhalten muss.“

      „Streichle ihn doch einfach.“

      Mike bückte sich ebenfalls und kraulte Belle hinter dem anderen Ohr.

      „Siehst du: er mag dich.“

      „Ja?“

      „Gehen wir auf das Klettergerüst?“

      „Sicher.“

      Das Klettergerüst war ein wahres Monstrum und thronte in der Mitte des Spielplatzes wie eine Burg. Die Stangen und Stützen waren alle verrostet und färbten unschön ab, wenn man sie berührte, aber alles in allem machte es den Eindruck, als würde es auch noch in zwanzig Jahren so stehen können. Selbst das Netz, das zwischen den zwei großen Hauptelementen gespannt war, war ein feinmaschiges Geflecht aus Stahl und nicht wie üblich aus Tauen gemacht. Beverly kletterte geschickt darauf und ließ sich an einer Stelle nieder, wo das Netz an einem Haken befestigt war. Direkt daneben war eine Art Stufe, auf der sie sitzen konnte – es war sozusagen ihr Stammplatz.

      Mike schaute ihr interessiert zu, wie sie das Gerüst erklomm und Beverly musste belustigt feststellen, dass es für Mike nicht ganz so einfach war wie für sie, die Sprossen und Stangen zu bezwingen. Er wirkte etwas ungeschickt und tollpatschig, aber als er es dann geschafft hatte und sich mit einem roten Kopf und laut schnaufend eine Stufe unter ihr niederließ, sah sie ein stolzes Flackern in seinen Augen. Als ob er ihn loben wollte gab ihr Hund unter ihnen ein leises Bellen von sich und legte sich dann hin.

      „Gefällt es dir hier?“, fragte sie ihn.

      Er ließ den Blick schweifen. Hier, etwa vier Meter über dem Boden, hatte man einen schönen Ausblick auf die umliegenden Felder und die nahen Häuser. Nur Menschen waren keine zu sehen, was sicher daran liegen konnte, dass es um diese Tageszeit wahnsinnig heiß war und viele es vorzogen, schwimmen zu gehen oder die Zeit im Kühlen zu verbringen.

      „Es ist schön.“

      Beverly nickte. „Ja.“

      „Bist du oft alleine hier?“

      „Nicht immer alleine, aber ich mag den Ort. Meistens ist Belle bei mir.“

      „Hast du keine Geschwister?“

      „Nein. Du?“

      „Nein, ich bin Einzelkind.“ Mike wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von seiner roten Stirn. „Aber das ist cool.“

      „Wieso?“, fragte Beverly interessiert. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als Geschwister zu haben. Am liebsten hätte sie eine ältere Schwester, die ihr half, die Haare schön zu flechten oder – später einmal – zeigte, wie man sich richtig schminkt.

      „Meine Eltern arbeiten beide sehr viel. Aber wenn sie Zuhause sind, dann bin ich die Nummer eins.“

      „Ganz schön eingebildet.“

      „Gar nicht“, antwortete Mike empört. „Aber findest du es nicht auch schön, wenn du deine Eltern nicht mit jemandem teilen musst? Stell dir vor du hättest noch drei oder vier Geschwister – da muss man ja zu kurz kommen.“

      Beverly zuckte mit den Schultern. „Es gibt immer zwei Seiten, von denen man das betrachten kann.“

      Sie saßen schweigend einige Zeit da. Ein leichter Wind war aufgekommen und machte die sommerliche Hitze erträglicher. Über ihnen flogen die Wolken hinweg und zeichneten ihre Umrisse auf den Boden, so schnell, dass man sie gar nicht bewusst wahrnehmen konnte. Beverly stellte sich oft vor, wie es sei, wenn man auf den Wolken sitzen könnte, und die Welt und ihre Bewohner unter einem waren, ganz klein, und wo man einfach wegfliegen konnte, wenn man sich an einem Ort satt gesehen hatte. Weit weg über die Wälder und Felder, hinter die Berge und über die Meere, wo nur das Wasser war, über viele, viele Kilometer, und dann wieder zurück an Land, um vielleicht Regen zu bringen an Stellen der Erde, wo es fast nie regnete, und wo die Menschen dann auf die Straßen liefen und tanzten und jubelten, ohne …

      „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Mike plötzlich und Beverly schreckte aus ihren Gedanken hoch.

      „Klar. Warum nicht?“, fragte sie ein wenig verlegen.

      Mike zuckte mit den Schultern. „Du hast so seltsam geschaut.“

      „Seltsam?“

      „Traurig“, sagte er leise. „Darum habe ich gefragt.“

      „Mir fehlt nichts!“, sagte sie und lächelte ihn an. „Der Tag ist viel zu schön als dass man traurig sein sollte, oder?“

      „Also mir ist warm“, stöhnte Mike und wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß von der Stirn. Beverly stellte bewundernd fest, dass Mike sich die größte Mühe gab, seine Schweißflecken und sein angestrengtes Atmen zu verbergen und musste ein Schmunzeln unterdrücken, weil sie das wirklich niedlich fand. Ihr war schnell aufgefallen, dass Mike etwas rundlich war. Nicht wirklich fett - vielleicht auch nur noch nicht – aber auch ganz und gar nicht in Form. Aber allein die Tatsache, dass er sich zuerst durch das schmale Loch im Zaun hindurchgezwängt hatte und schließlich ohne zu Zögern oder zu Meckern mit ihr auf das Klettergerüst gestiegen war, zeigte ihr, dass er sich in seinem Inneren noch nicht mit der Tatsache abgefunden hatte, nicht alles machen zu können. Vielleicht würde irgendwann