Jessica H. Weber

Die Hafenkinder von Pitburg


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war Magda im Esszimmer angekommen. Frau Mayer hatte es sich in ihrem Lieblingssessel vor einem Fenster gemütlich gemacht, das zur Straßenseite hinausging und war in ihre Stickarbeiten vertieft. Als Magda herein kam sah sie nur kurz hoch. Während die Haushälterin das wertvolle Porzellan auf ein Tablett stellte, fragte Frau Mayer plötzlich, »Warum ist mein Sohn denn plötzlich so aus dem Haus gestürmt? Es war doch noch gar nicht so spät. Irgendetwas beschäftigt den Jungen doch. Kannst Du mir mehr darüber sagen, Magda? Was geht hier in meinem Haus hinter meinem Rücken mal wieder vor?« Magda hatte schon befürchtet, dass Kunos Mutter mehr mitbekommen hatte als Kuno meinte. Magda stellte die Kaffeekanne vorsichtig aufs Tablett und hielt inne. Sie überlegte, was sie ihrer Arbeitgeberin erzählen sollte. Schließlich erzählte sie die ganze Geschichte in groben Zügen, denn sie wusste, dass Frau Mayer ihr Herz am richtigen Fleck hatte.

      »Ja, und was machen wir jetzt mit dem jungen Ding?«, fragte Frau Mayer. »Eigentlich wollte sie schon weg sein, aber Kuno hat einen Regenschauer angekündigt und da wollte Lotte ihren Abschied doch wohl noch etwas herausschieben und mir beim Abwasch helfen.«, meinte Magda. »Ich weiß nicht, was dann aus ihr wird. Aus Angst, dass aus ihr ein liederliches Frauenzimmer wird ist sie Hals über Kopf einem jungen Burschen nachgerannt. Der Bursche hat sich auf ein Schiff verschleppen lassen und sie sitzt jetzt hier. Ich glaube, sie hat keinen Pfennig in der Tasche, kein Gepäck dabei und keine Ahnung, wo ihr Heimatdorf ist und schämt sich fürchterlich, dass sie so dumm war.« »Hat ihr denn niemand erzählt, dass es in einer großen Hafenstadt die besten Möglichkeiten gibt ein 'liederliches Frauenzimmer' zu werden?«, seufzte Frau Mayer.

      »Ach Magda, habe ich Dir schon erzählt, dass mein Mann in drei Wochen wieder kommt und höchstwahrscheinlich dann gleich wichtige Leute zu Geschäftsessen herkommen? Ich habe gestern gesehen, dass die Silberpokale ganz angelaufen sind. Du musst sie unbedingt noch polieren. Und dann müssen die Fenster dringend gereinigt werden und der Fußboden muss gebohnert werden, und und und...«, rief Frau Mayer plötzlich aus. »Was, in drei Wochen, wie soll ich das denn alles schaffen?«, seufzte Magda. »Hattest du nicht gesagt, dass Deine Nichte bei Dir zu Besuch ist? Vielleicht mag sie Dir ja helfen? Und Kuno könnte sie dann ja bei der Besichtigung des Hafens und der Schiffe als Begleitung zur Seite stehen.«, meinte Kunos Mutter leichthin. »Ja, das wäre eine Möglichkeit«, meinte Magda jetzt auch und die zwei Frauen zwinkerten sich verschwörerisch zu.

      Völlig aufgebracht und verzweifelt kam Magda zurück in die Küche. Lieselotte hatte die Teller inzwischen schon gespült und wischte gerade den großen Tisch ab. Magda stellte das Tablett ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Kind, bist Du so lieb, dort drüben im Regal, hinter dem großen Krug steht eine Flasche Schnaps. Ich brauch jetzt mal einen kleinen Schluck. Stell Dir vor, der gnädige Herr kommt schon in drei Wochen wieder und dann soll das ganze Haus glänzen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das schaffen soll. Die ganzen Silberpokale und das Besteck, und die Fenster und die Böden und und und...«, Magda wirkte völlig aufgelöst und war kurz vorm Weinen. Lieselotte wusste nicht, was sie machen sollte, denn eigentlich wollte sie ja gleich gehen, aber ein wirkliches Ziel hatte sie ja auch nicht. »Magda, wenn Du willst, dann könnte ich ja noch ein paar Tage hierbleiben und Dir helfen«, meinte Lieselotte gutmütig. »Aber das geht doch nicht, Du wolltest doch gerade gehen und ich kann Dich doch nicht aufhalten.«, meinte Magda halbherzig. »Ach so eilig habe ich es nicht, und gleich fängt ein Gewitter an. Ich habe schon den ersten Donner gehört.«, stellte Lieselotte fest. »Puh, prima, Du bist wirklich meine Rettung«, sagte Magda, »nur was sagen wir der gnädigen Frau wer Du bist? Bist Du damit einverstanden, wenn ich Dich als meine Nichte ausgebe?« »Ja, einverstanden, allerdings musst Du mir leider erst so einiges zeigen. Ich habe noch nie einen Silberpokal poliert.«, meinte Lieselotte. »Ach, das ist ganz einfach. Man braucht nur sehr viel Geduld.«, stellte Magda fest. Und draußen fing der angekündigte Gewitterschauer an.

      Am späten Nachmittag kam ein trauriger Kuno von der Seefahrtschule zurück. Seine Prüfung war ganz gut gelaufen und auch sonst hatte er eigentlich nichts zu beklagen, aber er fürchtete eben, dass Lotte weg sein würde. Er wunderte sich etwas über sich selbst, warum ihm das so viel ausmacht, denn eigentlich ging ihn das Mädchen ja gar nichts an und er hatte sie auch erst gestern kennen gelernt. War es wirklich erst gestern gewesen? Ihm kam es so vor, als ob er sie schon sein ganzes Leben lang kennen würde. Kuno ging, wie üblich, wieder durch den Dienstboteneingang direkt in die Küche. Als er eintrat wurde er mit »Guten Abend, gnädiger Herr«, und einem gekonnten höflichen Knicks von einem neuen Dienstmädchen in einem schwarzen Kleid mit weißer Schürze und weißer Haube begrüßt. Ein neues Mädchen? Nein das war ja Lotte. »Hey, Du bist ja noch da«, jubelte Kuno und hob Lieselotte voller Übermut einmal in die Höhe und setzte sie dann wieder ab, um sie einmal im Kreis zu drehen. Lachend ließ Lieselotte es sich gefallen. »Man, Du siehst richtig toll aus. Nur bitte lass das mit dem 'gnädigen Herr', ja, sonst fühle ich mich wie mein eigener Vater«, grinste Kuno. »Hey, Hände weg von meiner Nichte!«, mischte sich Magda dazwischen und hob mahnend den Zeigefinger, aber dabei lächelte sie warmherzig.

      »Das müsst Ihr mir jetzt aber erst einmal erzählen.«, forderte Kuno. »Nein, setz Dich, erst wird gegessen, sonst wird alles kalt«, meinte Magda gespielt streng. Nach dem Abendessen zogen sich Kuno und Lieselotte ihre Alltagskleider an und machten einen Spaziergang zum Hafen, wobei Lieselotte Kuno alles erklärte. »Was, in drei Wochen kommt mein Vater schon zurück«, stellte Kuno fest, »Hoffentlich hat er doch noch etwas Verspätung.« Im Hafen erklärte er Lieselotte schließlich die verschiedenen Schiffe, die dort zurzeit festgemacht hatten.

      Notfalleinsatz

      Die jungen Leute genossen diesen Zustand. Tagsüber ging Kuno in die Seefahrtschule und Lieselotte lernte eine Menge von Magda. Silber polieren war zwar mühevoll und man brauchte auch eine Menge Ausdauer, aber Lieselotte hatte noch nie so schöne Dinge gesehen. Da sie auf einem Bauernhof aufgewachsen war, war sie es gewohnt, viel zu arbeiten. Für sie war es etwas ganz Neues, dass sie mit Kuno am Abend Spaziergänge machen konnte. Die große Stadt, mit dem Hafen, den Schiffen und Fischern und der Fluss in dem noch kleinere Boote hin und her fuhren, war einfach aufregend.

      Aber Kuno versäumte auch nicht Lieselotte auf die Gefahren dieser Stadt hinzuweisen. So besuchten die Zwei eines Abends die Seilhersteller auf der Reeperbahn. Hinderk erkannte das Mädchen sofort wieder und freute sich, dass sie jetzt einen männlichen Begleiter als Schutz hatte, der zudem auch noch zufällig einer seiner Neffen war. Lieselotte schaute recht verdutzt, als Kuno den Seiler mit »Hallo Onkel«, begrüßte. Die zwei Männer forderten Lieselotte auf sich jetzt mal etwas genauer umzusehen. »Fällt dir etwas auf?«, fragte Kuno neugierig. »Hmm, nein eigentlich nicht, nur, dass man für die Herstellung von Seilen wohl recht viele Wohnwagen braucht.«, meinte Lieselotte. »Haha, nein mein Kind. Dort schlafen tagsüber die Damen, die abends auf die Gesellschaft von netten Männern hoffen.«, deutete Hinderk vielsagend an. »Beim Seile herstellen brauchen wir vor allem eine lange gerade Strecke. Deshalb brauchen wir hier den langen Weg. Aber wir machen dabei nicht so viel Lärm wie zum Beispiel die Schiffsbauer, die den ganzen Tag den Hammer schwingen und Sägen und lärmen. Deshalb ist das hier ein schönes Plätzchen um tagsüber zu schlafen, wenn man nachts arbeitet.« »Ach so, ja das verstehe ich.«, meinte Lieselotte und verstand eigentlich gar nichts. Was sollte das denn für eine Arbeit sein, wenn man auf Männerbesuch hoffte? Diese Frage beantwortete Kuno ihr später und erklärte ihr auch, dass es in der Regel auch noch Männer gab, die auf die Frauen aufpassten und ihnen dafür einen großen Teil ihres Geldes wieder wegnahmen. Er erklärte ihr schließlich auch, dass nicht alle Frauen diese Arbeit freiwillig machten und wohl einige auch ohne Geld und Gepäck in der Stadt gestrandet waren. Lieselotte wurde abwechselnd rot und weiß bei der Vorstellung der Arbeit der Frauen und der Erkenntnis, wie leicht sie auch in diesem 'Bereich' gelandet wäre. Jetzt war sie Kuno nochmal so dankbar.

      Einige Tage später schlenderten sie durch den Hafen, als Kuno plötzlich meinte, »Oh, weißt Du was, ich zeige Dir jetzt mal mein zweites Zuhause.«, und galant öffnete er die Tür zum ‘Zum Goldenen Anker’. Sofort kam eine junge Frau angestürmt und umarmte Kuno herzlich um gleich danach mit ihm zu schimpfen. »Hey, Du Herumtreiber, wo hast du denn gesteckt, Dich bekommt man ja gar