Jessica H. Weber

Die Hafenkinder von Pitburg


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ich habe hier ein Küken, das aus dem Nest gefallen ist und ganz schrecklichen Hunger hat. Und außerdem ist sie noch eine entfernte Cousine, da muss man doch helfen.«, meinte er. »Hmm«, meinte Magda, die jetzt direkt vor ihnen stand, »Ein Küken, das aus dem Nest gefallen ist? So, so - und dazu auch noch hungrig? Na ja, dann muss man ja helfen. Setzt euch Kinder, ich habe hier noch eine leckere Suppe und Brot bekommt ihr auch.« Dabei klang sie plötzlich gar nicht mehr streng, sondern ganz mütterlich und warmherzig. Kuno schob Lieselotte zu einem langen Tisch auf eine lange Bank. Es war zwar nicht gepolstert, aber trotzdem gemütlich. »Ich bin doch kein Küken!«, protestierte Lieselotte leise, aber trotzdem war sie froh, dass er sie zu einem warmen Ort und Essen geführt hatte. Schon hatten die Zwei einen großen Teller duftenden Eintopf und Brot vor sich und Lieselotte vergaß allen Kummer und schlang das leckere Essen praktisch herunter.

      Als beide aufgegessen hatten fragte Kuno so ganz nebenbei: »Aus welchem Dorf kommst Du eigentlich?« »Aus Neudorf«, meinte Lieselotte. »Oh, Schreck!«, entfuhr es Kuno und er schaute dabei betrübt zu Magda. »Was ist daran denn so schrecklich?«, fragte Lieselotte verdutzt nach. »Na ja, eigentlich nichts. Nur bald jedes fünfte Dorf heißt 'Neudorf'. Erst gründen die Leute ein Dorf, vielleicht Heinersdorf oder so und wenn das dann zu klein wird, dann ziehen die jungen Leute vielleicht ein paar Kilometer weiter und haben keine bessere Idee als das Dorf 'Neudorf' zu nennen. Und wenn das alte Dorf eventuell auch noch untergeht, warum auch immer, dann weiß plötzlich keiner mehr welches Neudorf eigentlich gemeint ist. Gibt es bei Euch noch ein dazu gehöriges altes Dorf? Oder einen Fluss oder ähnliches?«, erklärte Kuno und Lieselotte wurde ganz blass und meinte nur noch: »Nein, nicht das ich wüsste, ich war zwei ganze Tage teilweise mit Fuhrwagen unterwegs, mehr weiß ich nicht.« »Und aus welcher Richtung bist du gekommen? Oder welches Stadttor hast du benutzt?«, fragte Kuno weiter und Lieselotte schaute ihn nur noch erschrocken an und zuckte mit den Schultern und plötzlich konnte sie nur noch weinen, als ihr klar geworden qwurde, dass sie morgen nicht einfach wieder nach Hause fahren konnte.

      »Kuno, Du solltest Dich vielleicht mal oben bei deiner Mutter blicken lassen. Sie hatte vorhin schon einmal nach Dir gefragt«, meinte Magda jetzt sanft und sah betrübt auf das junge Mädchen hinab, das jetzt realisierte, dass sie plötzlich in der großen, ihr unbekannten Stadt gestrandet war. Das Mädchen weiß gar nicht, wie viel Glück sie hatte, dass Kuno sich um sie kümmert. Das hätte auch noch ganz anders ausgehen können. Folgsam erhob sich Kuno, klopfte Lieselotte noch aufmunternd auf die Schulter und ging die Treppe hinauf. »So, Mädchen, nun erzähl doch mal, in was für einen Schlamassel Du geraten bist.«, ermunterte Magda Lieselotte zum Erzählen auf. »Wir waren bei der Heuernte. Dabei helfen dann auch die Leute von den Nachbarhöfen mit. Einer der Burschen hatte mich schon den ganzen Sommer immer wieder geärgert und geneckt und ich habe es ihm gleichgetan. Am Abend gab es bei uns ein Hoffest, bei dem viel gegessen, getrunken und getanzt wurde. Ja und dann habe ich eben mit Frank getanzt.«

      Kuno

      Die Familie von Kuno war einer der alteingesessenen wohlhabenden Kaufmannsfamilien in Pitburg. Sein Urgroßvater Kunibert Mayer war mit einem kleinen Fischhandel angefangen. Jetzt waren Kunos Onkel Klaus und sein Vater Karl für den Handel verantwortlich und gingen davon aus, dass ihre Söhne die Firma später übernehmen würden. Das Geschäft war gleich neben Kunos Elternhaus. Über den Geschäftsräumen wohnte sein Onkel mit seiner Familie.

      Während Onkel Klaus in Pitburg die Geschäfte tätigte, kümmerte sich Kunos Vater um den Einkauf, das heißt, dass er kaum zu Hause war. Mal war er im fernen Sibirien, um Felle zu kaufen und dann wieder irgendwo in Italien oder sonst wo auf der Welt. Der Sohn von Onkel Klaus war praktisch in den Geschäftsräumen aufgewachsen. Für den zwei Jahre älteren Konstantin war es selbstverständlich, dass er seinen Vater unterstützte und er lernte fleißig wie man die Bücher und die Geschäfte führte. Eigentlich sollte das auch Kunos Weg sein, aber er fand es grauenvoll für längere Zeit in geschlossenen Räumen zu arbeiten. Als er versuchte seinem Vater zu erklären, dass er auf keinen Fall ins Geschäft einsteigen wollte, war dieser zutiefst schockiert. Nachdem der Tobsuchtsanfall des Vaters sich gelegt hatte, wurde der damals 15-jährige Kuno kurzerhand mit auf Reisen genommen.

      Anders als gedacht änderte sich Kunos Einstellung aber nicht. Er empfand sich als höchst unehrenhaft, wenn er zum Beispiel ein Fell für einen Taler erwarb und das gleiche Fell später in Pitburg für 50 Taler oder noch mehr verkaufen sollte. Wenn er dann seinem Onkel oder seinem Vetter noch dabei zusah, wie sie sich windeten und so taten, als wäre das so ein niedriger Preis, dass der Käufer Schuld daran war, dass die Familie kaum genug zum Überleben hatte, dann wurde es Kuno fast übel. Auch wenn man alle Kosten für den Transport und die Lagerung und so weiter mit einrechnete, dann war der Preis für ein Fell, das im Einkauf einen Taler kostete bei fünf Talern. Der Rest war Gewinn der Kaufleute. Auf der Einkaufsreise erlebte er, wie sein Vater genau die gleichen Komödien bei den Händlern aufführte um einen möglichst niedrigen Preis bezahlen zu müssen. Kuno fand, dass sein Onkel und sein Vater wirkliche Könner in ihrem Fach waren. Die Reise beeindruckte den Jungen aber auf eine ganz andere Weise als gedacht. Auf der Seereise zur Küste Sibiriens bewunderte er das stolze Segelschiff und staunte, wie flink die Seemänner zu den Segeln hinaufkletterten. In der ersten Reisezeit durfte er seinem Vater kaum von der Seite weichen, aber nach einiger Zeit legte sich diese Überwachung und Bevormundung und Kuno erkundete das Schiff und freundete sich mit den Matrosen an. An einem Tag bescherte der Jugendliche seinem Vater fast einen Herzinfarkt, als dieser aus seiner Kajüte kam und seinen Sohn hoch oben, auf dem Weg zum Ausguck entdeckte. Zum Glück war es der letzte Tag der Reise und der Stubenarrest in der Kajüte war für einen Tag auszuhalten gewesen. Gut, dass der Vater nicht wusste, dass Kuno schon ungefähr ein Dutzend Mal dort hinaufgeklettert war. Noch heute musste Kuno manchmal daran denken und schmunzelte dabei.

      Auf dieser Reise hatte Kuno viel Zeit zum Nachdenken und beobachten gehabt. Sein Entschluss stand jetzt fest, er wollte zur See fahren. Im ersten Moment und wenn er sich mal wieder mit seinem Vater gestritten hatte, dann wollte er gleich nach der Heimkehr auf dem nächsten Schiff als Matrose anheuern. Doch er war im Hafenviertel aufgewachsen und kannte die rauen Sitten der Seemänner. An Bord erlebte er aber auch die andere Seite, die harte Arbeit und Gehorsam und schlechtes eintöniges Essen bedeutete. Als ihm das Aufgefallen war, beobachtete er die Tätigkeiten des Kapitäns und der Offiziere. Es faszinierte ihn, wie die Männer anhand des Sonnenstandes, des Mondes und der Sternbilder die Position berechneten und sicher die richtige Reiseroute fanden. Danach war er sich sicher, dass es seine Bestimmung war, eines Tages auch so einen stolzen Dreimaster als Kapitän über die Weltmeere zu steuern. Aber ihm war auch bewusst, dass er das seinem Vater nicht erzählen konnte und erst recht konnte er auf keine Unterstützung von ihm hoffen.

      Die Familie seiner Mutter war da ganz anders. Sie war auch eine alteingesessene Familie aus Pitburg, aber sie sind vor allem Seefahrer oder Fischer geblieben. Kunos Mutter war das einzige Mädchen zwischen 5 Brüdern. Kuno wunderte sich manchmal, wie seine Eltern sich kennen und lieben gelernt hatten. Er fand, dass es wohl kaum einen größeren Unterschied geben könnte, als die bodenständige Mutter und der etwas hochnäsige Vater. Aber vielleicht war es auch die Tatsache, dass sein Vater genauso selten wie ein Seemann zu Hause war? Die Brüder seiner Mutter waren irgendwie in der ganzen Stadt verteilt.

      Am liebsten war Kuno bei seinem Onkel Wilhelm, den alle nur Willi nannten. Er war früher wohl mal als Smutje, also als Koch, zur See gefahren. Aber heute führte der Witwer mit seiner Erwachsenen Tochter direkt im Hafenbezirk eine Wirtschaft. Die Seeleute kamen vor allem wegen des guten Essens. Denn Willi wusste aus eigener Erfahrung worauf sich die Seeleute freuten, wenn sie nach monatelanger Reise endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Oft gab es am Ende einer Reise nur noch eingeweichten Schiffszwieback. Wenn man dann deftige Hausmannskost bekam, dann bekamen die ausgehungerten Matrosen sehr schnell ihre gute Laune und ihre Kräfte zurück. So ein duftender Braten oder ein Gemüseeintopf konnte dann schon etwas Herrliches sein. Einigen reichte dann aber auch schon ein frisches, am besten noch ofenwarmes Brot und eine leckere Wurst dazu.

      Als Kind war Kuno viel bei Onkel Willi gewesen. Er war für ihn schon fast so etwas wie ein Vaterersatz. Seine Kusine Clara war nur ein paar Monate älter