Jessica H. Weber

Die Hafenkinder von Pitburg


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wurde Claras Beschützer.

      Im Hafen war ständig viel Betrieb. Schiffe wurden beladen und fuhren nach Indien oder in die neue Welt. Andere Schiffe kamen an und brachten exotische Waren, wie z. B. Kaffee oder Tee oder Pfeffer mit. Es hockte immer eine ganze Reihe von Kindern herum, die neugierig das Treiben der Hafenarbeiter beobachteten. Einige Kinder hofften auf die Heimkehr ihrer Väter. Andere verdienten sich ein kleines Zubrot, indem sie die Kaufleute über die Ankunft ihrer Schiffe informierten. Und natürlich gab es auch genug Kinder, die das Durcheinander ausnutzen, wenn Passagiere von Bord gingen, oder mit einem Schiff mitfahren wollten. So manche Geldbörse wechselte dabei unbemerkt den Besitzer.

      Viele der Kinder kannten ihre Väter nicht. Denn man konnte sagen, dass ein Seemann, der lange nur das Meer und seine Kameraden gesehen hatte, bei seinem ersten Landgang nach der Reise drei Dinge suchte. Ein gutes Essen, etwas zu Trinken und die Gesellschaft einer schönen Frau. Denn die Seemänner waren abergläubisch und sie waren der festen Überzeugung, dass Frauen an Bord Unglück brachten. So gab es in jedem Hafen Frauen, die den Seemännern gleich den hart verdienten Lohn wieder aus der Tasche zogen. Einige Kinder machten sich einen Spaß daraus. Sobald die Matrosen das Schiff verließen, fingen sie an zu hüpfen und zu springen und stürmten dann mit lautem »Vater, Vater...juhu, endlich bist du wieder da...!« ihren Opfern entgegen. Die Reaktion der Männer war in den meisten Fällen erstaunt und ablehnend. Doch wenn ein Bub oder ein Mädel es schaffte den Seemann zu umarmen, dann sollte er schnellstens überprüfen, ob er sein Geld noch hatte.

      Nur ein Junge freute sich nicht, wenn sein Vater von einer langen Reise heimkam. Für Kuno bedeutete es immer eine große Einschränkung seiner Freiheit. Ansonsten führte er ein recht freies Leben. Vormittags drückte er zusammen mit seinem Vetter Konstantin die Schulbank. Im Haus seines Onkels kam dafür extra ein Privatlehrer. Nachmittags tauschte Kuno die Kleider und war mit seiner Cousine Clara im Hafen unterwegs. So kannte er sich in beiden Umgebungen gut aus. Er konnte sich als biederer Spross einer reichen Kaufmannsfamilie genauso problemlos bewegen, wie als armer Junge, bei dem man nicht wusste, ob er überhaupt Eltern hatte. Dieser Rollentausch machte ihm einen riesen Spaß. Aber gleichzeitig versuchte er auch die größte Not zu lindern, ohne dass es jemand bemerkte. Wenn ihm auffiel, dass ein Kind hungerte, so kam es manchmal vor, dass er sich dann mit diesem Kind zusammentat und Essen organisierte. Dabei steckte er dem Verkäufer ganz unauffällig das Geld zu und benahm sich dann trotzdem so, als ob er das Brot oder etwas Anderes gestohlen hätte. Zu seinem Glück kannten die Händler bald seine Tricks und spielten mit.

      Aber nach der Schiffsreise mit seinem Vater konnte er sein altes Leben in der gewohnten Form nicht wiederaufnehmen. Zwangsweise musste er im Kontor seines Onkels bei der Buchhaltung helfen. Schon bald hatte er aber gemerkt, dass er nicht nur einen Widerwillen gegen diese Tätigkeiten hatte, sondern er merkte auch eine Art Feindschaft. Offenbar war es seinem Onkel Klaus und seinem Vetter Konstantin auch nicht recht, dass er in ihrem Kontor hockte. Die kleinsten Fehler die Kuno unterliefen wurden sofort vom Onkel mit Stockhieben bestraft. Bald schon entdeckte Kuno zu seinem Entsetzen auch noch, dass sein Vetter absichtlich Fehler machte, um ihm die Schuld daran zu geben und er beobachtete, dass Konstantin es freute, wenn Kuno Hiebe bekam.

      Kuno suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Situation, als ihm ein Zufall den Weg zeigte. Zufällig war seine Tante Geraldine im Kontor aufgetaucht, als Kuno sich verschluckte und einen fürchterlichen Hustenanfall bekam. Seine Tante war eine außerordentlich besorgte Person. Bei dem kleinsten Anzeichen von Krankheit befürchtete sie sofort das Schlimmste und war selbst häufig leidend. Um ihre empfindliche Natur zu schonen war sie häufig bei ihrer Schwester auf dem Land. Erwartungsgemäß bekam sie fast einen hysterischen Anfall, als sie sah, wie Kuno hustete. Sie schimpfte ihren Mann aus, dass der arme Junge nicht so lange in den staubigen Räumen sitzen sollte und bestand darauf, dass er sofort Feierabend machen sollte um sich auszuruhen. Natürlich verschlimmerte sich Kunos 'Husten' dadurch nur noch und wurde immer häufiger.

      Eines Tages legte ein Schiff im Hafen an, dass eigentlich Ware für das Geschäftshaus Mayer bringen sollte. Der Kapitän erschien aber mit mehreren Verbänden im Kontor und erklärte, dass er von Piraten überfallen worden war. Onkel Klaus bekam einen Tobsuchtsanfall und schrie dem Kapitän an, dass er ein unfähiger Wicht wäre und es seine Pflicht gewesen wäre, die Ware mit seinem Leben zu verteidigen. Am Abend brachte dieser Vorfall Kuno wieder in Erinnerung, dass er ja eigentlich Kapitän werden wollte. Er nahm allen Mut zusammen und erzählte der Haushälterin Magda von seinen Wünschen und Träumen. Magda war nicht nur eine Haushälterin, sondern auch so etwas wie die gute Seele des Hauses. Zu ihr konnte Kuno mit all seinen großen und kleinen Problemen kommen. In diesem Fall allerdings nahm sie den jungen Mann kurzerhand an die Hand und ging mit ihm hinauf zu seiner Mutter. Kunos Vater war vor kurzem erst zu einer besonders langen Reise in die neue Welt aufgebrochen. Man rechnete damit, dass er in etwa zwei oder drei Jahren zurück sein würde.

      Zu Kunos großem Erstaunen unterstützte seine Mutter nach einiger Überzeugungsarbeit seine Pläne und bezahlte sogar die Seefahrtschule. Nach dem Überfall auf das Schiff stimmte sogar sein Onkel zu, dass Kuno nicht mehr ins Kontor kam, aber bei der Finanzierung der Ausbildung wollte er nicht helfen. Ein Familienmitglied, das sich bald an der Jagd nach den elenden Piraten beteiligte, war schließlich auch nicht verkehrt.

      Kuno wusste lange nicht, woher seine Mutter das Geld hatte. Erst als er seiner Cousine Clara einmal bei der Buchhaltung der Gastwirtschaft half durchschaute er die Sache. Sein Vater kaufte in Spanien ein Fass mit Rotwein für 10 Taler. Das sollte Onkel Klaus dann eigentlich für 20 Taler in Pitburg verkaufen. Aber er überließ das Fass Kunos Mutter für den Vorzugspreis von 25 Talern. Diese verkaufte das Fass an ihren Bruder Willi für 30 Taler. Erst dachte Kuno, dass es ja wohl nicht anginge, dass selbst seine Mutter ihren Bruder keinen ehrlichen Preis berechnete. Dann kam er aber dahinter, dass in einem Fass 100 Liter Wein waren. Onkel Willi schenkte es in Karaffen von einem halben Liter für 25 Pfennige aus. Also ein Liter für einen halben Taler. Das machte für das ganze Fass 50 Taler. Also nochmal ganze 20 Taler mehr, als er für den Einkauf bei seiner Schwester ausgeben musste. Und zudem beobachtete Kuno erstaunt, dass sein Onkel den Wein gelegentlich auch noch etwas verlängerte. Hatte er Kundschaft, bei der er schon wusste, dass sie keine Ahnung hatten, tat er gleich ein Drittel Wasser hinein. Bei Kunden, die sich auskannten, aber mehr tranken, bekamen sie ab der dritten Karaffe nur noch verdünnten Wein. Kuno konnte da nur noch mit dem Kopf schütteln und wollte von den ganzen Machenschaften lieber nichts mehr wissen und war froh, dass seine Mutter ihm die Seefahrtschule finanzierte. Denn ihm war schon bewusst, dass er eine privilegierte Position hatte, da der durchschnittliche Monatslohn eines Hafenarbeiters meistens bei 5 Talern lag.

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      Kuno hatte Lotte mit gutem Gewissen bei Magda in der Küche gelassen. Dass sie eigentlich Lieselotte hieß, wusste er ja nicht. Pflichtbewusst hatte er sich bei seiner Mutter gemeldet und sie hatte allgemein über den Tag gesprochen. Sein neuestes 'Mitbringsel' hatte Kuno dabei aber sicherheitshalber nicht erwähnt. Seine Mutter und Magda waren da schon einiges von ihm gewohnt gewesen, obwohl das letzte Mal schon eine ganze Weile her war. Aber Wuffi, der dreibeinige Hund, lebte genauso wie Tapsi, die blinde Katze, immer noch bei ihnen, auch wenn sie langsam alt wurden. Kuno hatte beide Tiere irgendwann einmal aus dem Hafenbecken gefischt und gesund gepflegt. Er hatte einfach ein weiches Herz und konnte weder Kinder noch Tiere leiden sehen. Als Kind hatte sich Kuno einmal vorgestellt, dass er ein edler Ritter wäre, der edle Taten vollbrachte und Jungfrauen aus den Klauen gefährlicher Drachen befreite. Nur dass ihm bislang noch kein Drache und auch kein edles Burgfräulein über den Weg gelaufen waren.

      Nur jetzt saß dort unten dieses Mädchen. Kuno ließ sich der Länge nach auf sein Bett fallen. Was war ihm eigentlich eingefallen, dass er sie gleich mit nach Hause genommen hatte? Sie gehörte in keine seiner zwei Welten und wirkte völlig fehl am Platz. Sie war weder eine Tochter aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, noch kam sie aus dem Arbeiterviertel. Allein schon durch ihre Kleidung sah man, dass sie von einem Bauernhof stammte. Es ging ihn doch überhaupt nichts an, warum sie so Hals über Kopf einem Bauernlümmel hinterherlief. Na gut, ob er ein Bauernlümmel ist, dass weiß ich ja noch gar nicht, aber irgendwas wird er ja wohl angestellt haben,