Jessica H. Weber

Die Hafenkinder von Pitburg


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plötzlich eine vertraute Stimme von draußen hörte: »Hey Fuhrmann, habt Ihr ein junges Mädchen gesehen, das allein unterwegs ist?« Das war doch die Stimme von ihrem großen Bruder Berthold. Lieselotte lag am Rand des Wagens und konnte zwischen zwei Seitenplanken hindurch blinzeln. Tatsächlich, ihr ältester Bruder war auf der Suche nach ihr. Er ritt auf Rosi, ihrem Lieblingspferd. Vater hatte auf einem Viehmarkt Rosis Mutter gekauft, als noch niemand wusste, dass sie ein Fohlen bekam. Die Stute hatte aber schon früh zu wenig Milch für ihr Kind und da bekam Lieselotte die Aufgabe sich um das Fohlen zu kümmern, bis es alt genug war um selbst als Arbeitspferd zum Einsatz zu kommen. Rosi musste ihre Anwesenheit wohl spüren, denn sie fing an unruhig zu wiehern und zu schnauben. Lieselotte wollte schon aufspringen, als sie hörte, dass ihr Bruder noch weiter sprach. »Sie ist ungefähr so groß und hat ein blaues Kleid an und zwei dunkelblonde Zöpfe«.

      Wie bitte? dachte das Mädchen, wir haben vorgestern noch miteinander gearbeitet und aus dem blauen Kleid bin ich schon lange raus gewachsen und habe es an meine Schwester Marianne weitergegeben. Und zwei Kleinmädchenzöpfe habe ich ja wohl auch nicht mehr. Ich habe meine Haare ordentlich zu einem Haarkranz geflochten. So blind kann man doch gar nicht sein oder will er mich gar nicht finden? Bin ich auf dem Hof so selbstverständlich, dass sie mich gar nicht mehr wahrnehmen? Nein, ich gehe nicht mit Berthold zurück. Und schon hörte sie, wie ihr Bruder mit Mühe sein Pferd Antrieb und weiter Ritt. Berthold war der Erstgeborene und Hoferbe. Er war bereits 21 Jahre alt. Insgesamt waren sie 10 Kinder Zuhause. Die kleinste Schwester war noch kein Jahr alt. Offenbar war eine Schwester mehr oder weniger da nicht wichtig für den Bruder, dachte Lieselotte enttäuscht. Sie war das älteste Mädchen und hatte immer viel von ihrem größten Bruder gehalten. Aber das war jetzt vorbei, beschloss sie. Jetzt konnte jemand anderes die Hühner füttern, der Mutter bei der Wäsche und dem Kochen helfen und die ewigen Vorwürfe der Uroma anhören.

      Der Rest der Reise war ein eintöniges Gerumpel über die Landstraße. Am späten Nachmittag merkte sie, dass der Wagen langsamer wurde und schließlich hielt. Vorsichtig spähte Lieselotte hinaus und sah, dass sie offensichtlich an einem Stadttor angekommen waren. Vor ihnen waren wohl noch mehrere Wagen, aber durch Rufe hörte sie, dass jeder Wagen kontrolliert wurde. Sie musste also schleunigst den Wagen verlassen. Hinter ihnen hatte schon das nächste Fuhrwerk gehalten. Die Pferde würden sie ja hoffentlich nicht verraten, wenn sie absprang. Ein Pferd schnaubte zwar leicht, aber dadurch wurde keiner aufmerksam. Aber wenn jeder kontrolliert wurde, wie sollte sie dann an den Stadtwachen vorbeikommen? Sie hatte keine Papiere und eigentlich auch überhaupt keinen triftigen Grund um in die Stadt zu gehen.

      Lieselotte überlegte sich gerade eine haarsträubende Geschichte, dass sie einer kranken Tante mit 7 Kindern helfen musste und auf dem Weg hier her überfallen und ausgeraubt worden war. Sie wollte gerade damit beginnen ihre Bluse etwas zu zerreißen und sich selbst vielleicht ein paar Schrammen zu zufügen, als ihr eine schwer beladene Frau und ein kleines Mädchen auffielen. Die Kleine stolperte müde hinterher. Kurz entschlossen nahm sie das Kind auf den Arm und schloss sich der Frau wie selbstverständlich an. Erst wollte die Mutter protestieren, aber da die Kleine sich gleich müde und vertrauensvoll an Lieselotte schmiegte, nickte sie nur unauffällig, müde und dankbar. Die Frau hatte wohl mit ihrer kleinen Tochter in einem Wald den ganzen Tag schon Brombeeren gepflückt und trug einen großen Korb. So gelang Lieselotte als brave Tochter, die der Mutter fleißig mit den Brombeeren und der kleinen Schwester half, in die Stadt. Erst wollte Lieselotte die Kleine ja gleich nach dem Stadttor wieder absetzten, aber da war sie schon auf ihrem Arm eingeschlafen. Also begleitete sie die Beiden bis nach Hause, um sie erst vor der Tür vorsichtig zu wecken und sich zu verabschieden.

      Es war zwar schon fast Abend, aber sie fragte trotzdem einige Leute nach dem Weg zur Seefahrtschule. Schließlich gelangte sie an eine merkwürdige Straße. Dort hatten Arbeiter mehrere Seile in einem Gestell eingespannt und drehten sie zu einem sehr dicken Seil. Das andere Ende der Seile war fast schon nicht mehr zu sehen, so lang waren sie. Neugierig geworden fragte Lieselotte einen Arbeiter nach dem Zweck. »Das hier ist eine Reeperbahn und wir machen die Seile und Taue für die großen Schiffe im Hafen. Mit diesem dicken Tau hier, kann man später ein Schiff an der Kaimauer befestigen. Du bist wohl nicht von hier, was?«, gab der freundliche Mann bereitwillig Auskunft. Nachdem Lieselotte den Kopf geschüttelt hatte, erkundigte sie sich auch bei ihm nach dem Weg zur Schule. »Da bist Du schon fast richtig«, meinte er, »hier gerade aus, bis du zum Fluss Elda kommst und dann rechts ein Stück noch Fluss abwärts. Aber warte einmal, hier habe ich etwas für Dich.« Und damit gab er ihr ein ca. 40 cm langes Stück Seil und machte an einem Ende noch einen festen Knoten rein. »Es ist zwar nicht viel, aber manchmal reicht auch schon der Überraschungseffekt. Hier in der großen Stadt gibt es nämlich nicht nur nette Männer. Es gibt sehr viele Seemänner hier, die dann häufig auch noch betrunken sind. Wenn Dir also einer zu nahekommt, dann haust Du ihm kräftig auf die Finger und siehst zu, dass du wegläufst, ja? Ich heiße übrigens Hinderk und wenn Du mal Hilfe brauchst, dann kannst Du ruhig zu mir kommen.« Lieselotte bedankte sich, war jetzt aber auch etwas eingeschüchtert und fragte sich in Gedanken, worauf sie sich da bloß eingelassen hatte. Den Rest des Weges rannte sie fast. Die Seefahrtschule war nicht zu übersehen. Es war ein eindrucksvolles weißes Gebäude und im Vorgarten lag ein großer Anker. Schüchtern blieb Lieselotte neben einem Baum stehen. Jetzt war sie an ihrem Ziel angekommen, aber was sollte sie als nächstes tun? Sollte sie einfach in das Gebäude gehen und nach Frank fragen? Und wenn es ihm gar nicht gefiel, dass sie gekommen war? Vielleicht war er ja auch gar nicht hier und es gab noch eine Schule. Unsicher trat sie von einem Fuß auf den anderen und knabberte nervös an ihrer Unterlippe. Vielleicht war hier auch gar keiner mehr? Es sah alles so ruhig und verlassen aus. Vielleicht sollte sie besser morgen wiederkommen? Lieselotte faste bereits den Entschluss, morgen wieder zu kommen, als die große Eingangstür aufging und viele junge Männer herausströmten. Die meisten trugen ganz normale Kleidung, aber einige trugen auch Uniformen. Einer dieser Uniformierten kam jetzt direkt auf sie zu. »Oh, Schreck«, dachte Lieselotte, »habe ich etwas Unrechtes getan? Und was soll ich bloß sagen, wenn er mich anspricht?« Ihre Sorge war aber ganz unbegründet, denn der junge Offizier begrüßte sie freundlich. »Guten Abend, mein Fräulein, ich habe Sie hier noch nie gesehen, kann ich Ihnen behilflich sein?«, sprach er sie an. Er trug eine makellos weiße Hose und einen blauen Uniformrock mit roten Aufschlägen. »Der sieht gar nicht so schlecht aus«, dachte Lieselotte um sich gleich selbst auszuschimpfen, denn schließlich war sie ja wegen ihrem Frank hier. Aber dieses Grübchen beim Lächeln war schon umwerfend. Liese, Reiß dich zusammen, schalt sie sich. »Ja, heute Morgen muss hier ein neuer Schüler angefangen haben, ich muss ihn unbedingt sprechen!«, bestätigte Lieselotte. »Heute haben etwa 50 neue Schüler angefangen, gnädiges Fräulein, um Ihnen da zu helfen bräuchte ich schon einen Namen. Ich heiße übrigens Kuno Mayer.« Plötzlich konnte Lieselotte sich vor Lachen nicht mehr halten. Verdutzt sah der junge Mann sie an. Hatte er etwa etwas Falsches gesagt? »Entschuldigen Sie«, sagte Lieselotte, »mein Name ist ebenfalls Meier, Lotte Meier, das ist doch ein Zufall, oder? Ich suche Frank Feldmann, gibt es eine Stelle, wo ich mich nach ihm erkundigen könnte?« »Ach so, ich hatte schon befürchtet etwas Falsches gesagt zu haben«, meinte Kuno und lachte jetzt ebenfalls. »Kommen Sie, ich glaube der Pförtner hat eine Liste der Neuankömmlinge. Vielleicht haben Sie ja auch Glück und er kommt gleich noch raus, obwohl jetzt eigentlich schon bald alle draußen sein müssten.« Kuno Mayer hielt Lieselotte galant den Arm hin, damit sie sich bei ihm unterhaken konnte. Ohne weiter nachzudenken nahm Lieselotte das Angebot an und sie gingen zu zweit hinein.

      Hinter der Eingangstür war ein Zimmer mit einem Fenster, das man zur Seite schieben konnte. Vor lauter Aufregung fing Lieselotte glatt an zu stottern um dann immer schneller zu sprechen: »Guten Tag, ich muss unbedingt mit Frank sprechen, Frank Feldmann. Er muss heute hier angefangen sein, ich bin seine Schwester und unser Vater und der Bruder, ...also die wollten den Bullen wieder einfangen und jetzt sind sie beide verletzt, also der Bulle nicht oder nur wenig, aber Vater hat den Arm kaputt und Berthold hat sich den Fuß verstaucht und jetzt brauchen wir Frank ganz dringend auf dem Hof, denn es sind jetzt nur noch Frauen und Mädchen da und wir schaffen das nicht allein ...und und ...«. »Moment, Moment, junges Fräulein«, bremste sie der ältere Herr hinter dem Schalter, »holen Sie mal erst einmal wieder Luft. Eigentlich darf ich ja keine Auskunft geben, aber ich sehe ein, dass das ein absoluter Notfall ist.« Das Mädchen