Sie denn hier? Haben Sie was gesehen? Wissen Sie, was da passiert ist?“ Lucas wies mit der Hand in Richtung der Leiche, aber er bekam keine Antwort. Als er zu ihr hinüberging, schien die alte Dame durch ihn hindurchzusehen. Sie war wohl in Gedanken woanders, wie öfter in letzter Zeit. Lucas gab es auf, sie weiter zu befragen. Kurz entschlossen legte er einen Arm um sie und lenkte sie am Teich vorbei zum Café Christgen, das direkt an den Park grenzte. Der Anblick der Toten rührte sie nicht. Wie in Trance schaute sie über die Leiche hinweg.
In der Notrufzentrale hatten sie ihm gesagt, dass er im Park auf das Eintreffen der Polizei warten sollte, aber Frau Körner musste schnellstens ins Warme. Vom Christgen aus würde er den Streifenwagen genauso gut kommen sehen. Das Café war mollig geheizt. Lucas brachte die noch immer schweigende Frau an einen Fenstertisch. Er erklärte der Inhaberin, was geschehen war, und bat sie, der Frau Körner einen heißen Kakao zu bringen. Für sich bestellte er einen Espresso. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Hosenbeine und die Arbeitsjacke feucht geworden waren, vielleicht trockneten die Sachen schnell in der Wärme.
Durch die breite Fensterfront hatte Lucas den Park mit seinem alten Baumbestand und den Teich mit der Toten gut im Blick. Die alten Leute hielten Mittagsruhe, die Grundschul- und Kindergartenkinder ebenfalls, die älteren Schulkinder waren noch nicht auf dem Heimweg und die Angestellten aus dem nahen Gewerbegebiet, die regelmäßig im Café zu Mittag aßen, waren längst wieder an ihren Arbeitsplätzen. Die ruhigste Zeit war wirklich zwischen halb zwei und halb drei.
Lucas spürte Frau Körners kalte Hand auf seiner Rechten. Sie sah ihn liebevoll an. „Was für ein Glück, dass wir uns wiederhaben.“ Ihre ersten Worte nach dem Zusammentreffen am Teich freuten ihn. Endlich ging es der alten Dame besser. Doch dann verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht und sie wirkte ängstlich.
„Kurt, du musst mir was versprechen. Das musst du unbedingt. Wenn wir mal Kinder haben, sperren wir sie nie in den Keller. Hörst du? Niemals! Versprichst Du das?“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Sonst kann ich dich nämlich nicht heiraten.“
Er begriff sofort, dass sie von alten Zeiten sprach. Nicht zum ersten Mal hielt sie ihn für ihren verstorbenen Mann. Manchmal verwechselte sie ihn auch mit ihrem Sohn Michael, der in Düsseldorf lebte. Beruhigend tätschelte er ihre Hand.
,,Hoch und heilig verspreche ich das. Nie und nimmer sperren wir irgendjemanden in den Keller!‘‘
Sie entspannte sich etwas, trank ein Schlückchen von ihrem heißen Kakao und verfiel wieder in Schweigen. Lucas löste vorsichtig seine Hand aus ihrer Linken, wobei sich der Ärmel ihrer Strickjacke verschob. Ihm schien, als hätte sie einen blauen Fleck am Handgelenk. Doch bevor er genauer hinsehen konnte, hatte sie schon beide Ärmel bis zum Daumenansatz heruntergezogen und hielt sie mit den zur Faust gekrümmten Fingern fest. Sie kreuzte beide Fäuste vor der Brust und zog die Schultern hoch. Einen Augenblick später ließ sie die Arme sinken, strahlte ihn an und erklärte, als ob sie lange und gründlich darüber nachgedacht hätte: „Das ist gut, Kurt. Dann heiraten wir auch bald.“
Ein paar Minuten später fuhr ein Streifenwagen die Zufahrt hoch. Lucas bat Ellen, ein Auge auf die alte Frau zu haben, und lief dem Auto hinterher.
„Haben Sie uns angerufen?“, fragte der Fahrer, der als Erster ausstieg. Er hatte direkt hinter Lucas’ Firmenwagen geparkt. Seine junge Kollegin schwang sich ebenfalls aus dem Wagen und beäugte ihn misstrauisch. „Sie haben also eine tote Frau gefunden? Wo denn?“
Lucas zeigte hinüber zum Teich, der keine zwanzig Meter vom Weg entfernt lag. Die Polizistin trottete gemächlich dorthin. „Und woher wussten Sie, dass die Frau tot ist?“, rief sie herüber.
„Weil ich sie rausgezogen und umgedreht habe.“
„Was, Sie haben die Leiche bewegt? Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Inzwischen weiß doch jedes Kind, dass man sowas bleiben lässt!“ Ihr Ton wurde scharf.
„Sie hätte ja noch leben können“, rief er aufgebracht zurück. „Ich dachte, vielleicht kann ich noch helfen. Ich dachte, vielleicht ist sie unglücklich gestürzt ...“
„Schon gut, hätte ja auch sein können“, sagte der ältere Beamte, offensichtlich bemüht, ihn zu beschwichtigen. „Kommen Sie mal mit rüber an den Teich. Was haben Sie denn nun gemacht, als Sie die Frau entdeckt haben? Kennen Sie sie übrigens?“
„Ja, die kenne ich. Das ist Frau Wurzbach, eine Altenpflegerin aus dem Unverhofft. Da hinten, die Alten-WG mit Pflegestation. Ich hab’ sie schon vom Wagen aus an ihrer Kleidung erkannt. Sie hat immer diese knalligen Hosen an und trägt ständig solche Glitzersneaker. Außerdem macht sie oft ’ne Pause am Teich und pafft sich eine.“
Der erste Tote, den Lucas in seinem Leben gesehen hatte, war sein Freund und Mentor Hubert Kowalski gewesen. Vor sechs Jahren war das. Das war wenigstens ein natürlicher Tod in einem Krankenhausbett gewesen. Traurig und kein Erlebnis, an das er gerne dachte. Aber solch ein Tod, hier im Teich? Obwohl er am liebsten gar nicht hinsehen wollte, konnte er den Blick nicht von der Leiche wenden. Sie war schrecklich anzusehen. An der linken Schläfe hatte sie eine gezackte blutige Wunde, Gesicht und Haare waren voller Schlamm, Augen und Mund standen weit offen. Auch auf den Zähnen und der Zunge schimmerte der eklige grünlich-schwarze Modder. Diese scheißverdammten Enten, dachte Lucas. Jeden Tag fütterten die alten Leute die Viecher. Das Entenpaar hatte es mit seinen Küken geschafft, den kleinen Teich völlig zuzukacken. In so einem Dreck zu sterben! Frau Wurzbach und ihn konnte man beim besten Willen nicht als Freunde bezeichnen, aber so etwas gönnte man nicht seinem ärgsten Feind. Jetzt setzte auch noch Starkregen ein und schlug ihr mitten ins ungeschützte Gesicht. Die junge Polizistin rannte zum Einsatzwagen und holte eine Plane, um die Leiche abzudecken.
„Hallo, der Herr, haben Sie nicht gehört?“, fragte der Polizist.
„Mmh?“
„Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt.“
„Lucas von der Forst. Mit C und F“, erklärte er automatisch. Dauernd schrieben die Leute seinen Namen falsch. Adresse und Telefonnummer können Sie vom Wagen abschreiben.“ Er zeigte auf den roten Lieferwagen mit der verschnörkelten Aufschrift Gebäudereinigung Kowalski – damit’s blitzt und blinkt. Gleichzeitig drehten beide Beamten ihre Köpfe in Richtung Auto. Er konnte sehen, wie die Polizistin die Aufschrift lautlos vor sich hinsprach und – anscheinend angesichts des 50er-Jahre-Werbespruchs – mühsam ein Grinsen unterdrückte. Lucas fand den Spruch schön. Er hatte etwas altmodisch Ehrliches, genau wie Hubert Kowalski selber, der die Firma schon von seinen Eltern übernommen hatte. Und jetzt gehörte die Gebäudereinigung Kowalski Lucas.
Der Polizist machte sich Notizen. „Sie haben sie also rausgeholt?“
„Ja, sie lag auf dem Bauch im Wasser, so etwa bis zur Taille. Sie hat sich nicht mehr gerührt, aber hätte doch sein können, dass sie noch lebt. Dass man noch was machen könnte.“
„Sonst haben sie nichts verändert?“
„Nein, ich hab’ sofort gemerkt, dass sie tot ist. Da habe ich direkt die 110 angerufen.“
„Die haben Ihnen doch bestimmt gesagt, dass Sie an Ort und Stelle warten sollen, oder?“
„Ja, haben sie. Aber dann habe ich die alte Frau Körner hinter den Büschen stehen sehen, die war völlig daneben. Deswegen habe ich sie schnell ins Café gebracht. In der Zwischenzeit ist aber niemand in den Park gekommen. Darauf habe ich geachtet.“
„Also gibt es vielleicht noch eine Zeugin. Nun gut. Wir sichern erstmal das Gelände. Gehen Sie einstweilen wieder ins Café und warten Sie dort. Später kommt eine Kommissarin von der Mordkommission und befragt Sie.“
Lucas war erleichtert. Nach einem letzten Blick auf Frau Wurzbach lief er zurück ins Christgen. Inzwischen goss es nicht nur in Strömen, sondern es hatte sich auch ein heftiger Wind aufgetan. Viel zu kalt für Ende September, fand er. Er war froh, als er wieder mit Hilde Körner im Warmen saß. Dass sie ihn für ihren Mann hielt, war nicht weiter schlimm.