seinem Tod das Geschäft mitsamt den Aufträgen übernommen. Die Arbeit in der Alten-WG machte ihm Spaß, auch wenn so ein Stinkstiefel wie der Herr Diedrich dabei war, der es nicht lassen konnte, überall seine Nase reinzustecken und die Leute zu belehren. Aber Frau Körner, die mochte er besonders gern. Schade, dass ihre Demenz langsam, aber stetig fortschritt. Noch vor zwei Jahren hatte er sich richtig gut mit ihr unterhalten können. Sie gesellte sich immer gerne zu ihm, besonders wenn er im Garten zu arbeiten hatte. Mit Pflanzen kannte Frau Körner sich gut aus. Einmal hatte sie ihn sogar vor einem Riesenfehler bewahrt, als er Blauen Eisenhut in die Rabatte direkt neben dem Kinderspielplatz pflanzen wollte.
,,Aber Herr von der Forst, das können Sie doch nicht machen! Wissen Sie denn gar nicht, dass die Pflanze ein tödliches Gift enthält?!‘‘
Lucas hatte noch vor Augen, wie sie damals eine große Papierserviette vom Café Christgen und eine rote Stofftragetasche mit Equal-Payday-Aufdruck aus ihrer Umhängetasche hervorkramte. „Geben Sie mal her, die Pflanze“, hatte sie verlangt, „und waschen Sie sich gleich die Hände!“ Mit der Serviette entfernte sie die lose Erde und zeigte ihm die dicklichen Wurzeln. „Stellen Sie sich mal vor, Sie Gartentalent, mit den paar Wurzeln könnten Sie die ganze Altenstation vergiften, ganz zu schweigen von den spielenden Dötzchen hier. Ich nehme die Pflanze jetzt mit und entsorge sie so, dass niemand in Gefahr gerät.“
Sie hatte ihm echt den Arsch gerettet! Nicht auszudenken, wenn einem Kind was passiert wäre! Und jetzt? Jetzt saß sie hier und dachte, er wäre ihr Kurt. Traurig.
Im Park trafen immer mehr Polizeileute ein. Einige liefen in weißen Schutzanzügen herum, andere in zivil. Die beiden Streifenpolizisten von vorhin sprachen mit einer Frau in einem groß gemusterten Mantel und zeigten auf das Café. Das war wohl die angekündigte Kommissarin. Sie warf einen Blick in die Runde, schüttelte ihren Kopf und schaute auf ihre Armbanduhr. Dann ging sie hinüber zum Teich. Wahrscheinlich wollte sie sich erst einmal die Leiche ansehen. Das war die beste Gelegenheit, Frau Körner schnell in die Wohnanlage zu bringen. Die hielt nicht mehr lange durch.
„Ellen, hast du irgendeine Jacke, die Du Frau Körner leihen könntest?“
„Ich hab’ heute Morgen meinen Steppanorak angezogen, den geb’ ich euch, der ist wind- und wasserdicht. Er dürfte nur ein bisschen groß sein.“
Lucas half Hilde Körner auf die Füße, Ellen streifte ihr die Jacke über und schloss den Reißverschluss. „Kommen Sie, ziehen Sie auch mal die Mütze über. Das ist ja scheußlich draußen, nicht Frau Körner? Mit der Mütze haben Sie’s aber schön warm. Der Lucas bringt Sie jetzt nach Hause. Da ruhen Sie sich erst mal ein bisschen aus.“
„Was soll denn das? Ich kann mich immer noch alleine anziehen!“ Hilde Körner riss Ellen die Mütze aus der Hand und stülpte sie sich über. Sie straffte die Schultern, rückte den Anorak zurecht und wendete sich Lucas zu: „Sagen Sie mal, Herr von der Forst, was machen wir denn im Café? Bin ich etwa hier eingeschlafen?“ Sie sah Lucas streng an. „Müssten Sie nicht heute Fenster putzen?‘‘ Bevor er etwas erklären konnte, fügte sie hinzu: „Ich glaube, ich muss mich ein bisschen ausruhen. Komisch, warum bin ich bloß so müde?“ Lucas reichte ihr seinen Arm. Dann marschierten die beiden zügigen Schrittes an den geparkten Polizeiwagen vorbei Richtung Unverhofft.
„Was ist denn hier los, Herr von der Forst? Was macht die Polizei im Park?“
„Ach, da wurde jemand gefunden. Lassen Sie uns mal lieber schnell reingehen bei dem scheußlichen Wetter.“ Frau Körner hatte die Tote tatsächlich vergessen.
Die Heimleiterin schaute den beiden erstaunt entgegen. „Wo kommen Sie denn jetzt mit Frau Körner her?“
„Frau Sommerfeld, stellen Sie sich vor, Frau Wurzbach ist tot! Ich hab’ sie im Teich gefunden. Und Frau Körner stand auf der Wiese in der Kälte.“
Hilde Körner sah ihn verständnislos an, während die Heimleiterin die Hand vor den Mund schlug.
„Was? Doris ist tot?“ Langsam sank ihre Hand vom Mund an die Kehle. „Ich hab’ mich gefragt, was die Polizei da am Teich macht. Man sieht ja nichts von hier aus. Wieso ist denn die Doris tot? Die war doch heute Mittag noch putzmunter. In diesem Teich kann doch kein erwachsener Mensch ertrinken! Das Wasser ist doch höchstens einen Meter tief!“
„Ja, ich weiß auch nicht. Sie hat eine Wunde am Kopf. Es sah aus, als ob jemand sie geschlagen hätte. Vielleicht ist sie dann in den Teich gestürzt und ertrunken. Oder sie war gleich von dem Schlag tot und ist dann in den Teich gefallen. Ich weiß wirklich nicht ...“
„Die Wurzbach tot und ich soll im Park gewesen sein? Was erzählen Sie denn da?“ Die Seniorin funkelte ihn empört an und zerrte am Reißverschluss des Anoraks.
,,Nie und nimmer war ich im Park. Wir haben uns doch im Christgen getroffen.‘‘
Kopfschüttelnd half ihr die Heimleiterin, sich von Anorak und Mütze zu befreien. Während die alte Dame sich grummelnd in ihr Zimmer verzog, nahm Lucas die ausgeliehenen Kleidungsstücke entgegen.
„Frau Sommerfeld, ich muss schnell zurück. Die Polizei will mit mir reden. Die kommen bestimmt auch noch zu Ihnen. Wegen Frau Körner. Die könnte was gesehen haben. Aber ob sie sich erinnert? Im Park war sie völlig neben der Spur. Passen Sie ein bisschen auf, dass die Polizei sie nicht so hart rannimmt?“
„Ja, klar. Natürlich.“
Die Heimleiterin schüttelte immer noch den Kopf. „Die Doris tot, ich kann’s gar nicht glauben ...“
„Ich muss jetzt wirklich. Ich sollte eigentlich auf die Polizei warten. Und ach, die Fenster, das wird wohl heute nichts mehr.“
„Machen Sie sich da mal keinen Kopf, die sind auch nächste Woche noch dreckig. Jetzt laufen Sie mal schnell!“
Mit großen Schritten stürmte er zum dritten Mal an diesem Tag zum Café. Vor dem Eingang stand die junge Frau in dem groß gemusterten Mantel. Sie kämpfte mit ihrem langen grünen Schal, den ihr der Wind ins Gesicht geweht hatte. Als sie sich befreit hatte, schob sie kraftvoll die Tür auf. Er betrat kurz hinter ihr das Lokal.
Kapitel 2
Barbara, 26. September
Barbara stolperte auf dem Weg in die Küche über eine Umzugskiste. „Verflucht nochmal!“ Sie rieb sich ihr Schienbein. 46 m². Sechsundvierzig. Vorher hatte sie ein Haus gehabt. Ein ganzes Haus. Ein großes Haus, 260 m², mit einem noch größeren Garten. Vorne und hinten. Aus ihrer Küche hatte sie in den Garten sehen und gehen können. Jetzt hatte sie vorne einen Grünstreifen, auf dem die Hunde der Nachbarschaft kackten, und einen Baum, der ihr das Licht nahm, und hinten raus sah sie auf andere Häuser und in andere Leben. Aber es war partout keine andere Wohnung zu bekommen gewesen in Dortmund. Der Flüchtlingsstrom und vor allem die Zwangsräumung eines Hochhauskomplexes wegen Brandschutzmängeln hatten laut Aussage einer Dame von der Wohnungsbaugesellschaft zu einer enormen Wohnungsknappheit geführt. „Da nützt Ihnen auch kein gutes Gehalt, Frau Kommissarin. Es sei denn, Sie kennen den Faber. Sie wissen schon, der vom Dortmunder Tatort. Wenn Sie mir mit dem ein Date vermitteln könnten ...“ Dabei hatte sie verschmitzt gelächelt. Barbara war kurz davor gewesen, ihre Knarre rauszuholen, besann sich aber auf ihre guten Vorsätze, immer freundlich zu sein. Sieben Wochen später kam dieses Wohnungsangebot. Gut eine Woche, bevor sie ihren Dienst in Dortmund anfangen sollte. Das war wirklich knapp gewesen. Sie hatte mit gepackten Kartons auf Abruf gestanden, ihr kleiner Bruder Daniel war mit seinem LKW vorbei gekommen und seit gestern wohnte sie hier. Glücklicherweise konnte sie die Küche übernehmen. Außerdem war die Wohnung noch frisch renoviert worden. In fünf Tagen sollte sie ihren Dienst antreten. Ob sie es irgendwann bereuen würde, in die Großstadt geflüchtet zu sein? Aber in Altena konnte sie nicht mehr atmen. Trotz des vielen Grüns um sie herum. Nach der Trennung war sie erstmal übergangsweise wieder auf den Hof der Eltern gezogen und ihre Mutter hatte ihr ständig in den Ohren gelegen, dass sie selbst daran schuld sei, dass