Raya Mann

Serenus II


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auf, dass Ralfs Schwester dieselben Lokale besuchte und sich immer zu ihnen setzte. Tatsächlich mochte Serenus sie von Anfang an, aber nicht auf eine Weise, die sein seelisches Befinden verändert hätte. Walli hatte im Schnelldurchlauf das Medizinstudium mitsamt dem Staatsexamen hinter sich gebracht und daneben gutes Geld verdient, zuerst als DJ, später als Veranstalterin von legalen und illegalen Partys. Vor vier Jahren hätte sie mit den Praktika für angehende Fachärzte anfangen müssen. Aber Schichtarbeit, Bereitschaftsdienst und Überstunden widerten sie an. Inzwischen produzierte Walli die bedeutendsten und einträglichsten Techno-Events im ganzen Land und erzielte damit mehr Einkommen als eine Chefärztin.

      Mit den ersten schüchternen Frühlingssonnenstrahlen erschien Yvette auf der Bildfläche. Serenus wusste nur, dass sie im zweiten Jahr ihrer kaufmännischen Lehre war und für ein paar Monate in der Patientenadministration die Fakturierung auf SAP erlernen sollte. Eigentlich hatte er nichts mit ihr zu tun und er bekam sie nicht einmal jeden Tag zu Gesicht. Aber wenn er ihr begegnete, freute er sich, und gelegentlich beobachtete er sie. Yvette war eine natürliche junge Frau, mittelgroß und mittelschlank, mit mittellangem mittelbraunem Haar. Selbst ihr Busen hatte mittleres Volumen. Es gab nichts Besonderes an ihr. Was Serenus jedoch berührte, war die vollkommene Harmonie all ihrer unauffälligen Eigenschaften und Merkmale. Mit dem ersten Blick, den er auf sie warf, hatte sie schon sein Herz erobert. Insgeheim nannte er sie „meine stille Schönheit“. Er kannte sie nur in Jeans, Pulli und Mokassins, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Außer Wimperntusche verwendete sie keine Kosmetik, nicht einmal ein Eau de Toilette. Sie roch wie das Weiße von einem hart gekochten Ei.

      Jeden Dienstagnachmittag lud Serenus Yvette in die Cafeteria ein, wo sie einen Apfelkrapfen aß und heiße Schokolade dazu trank. Bei diesen Anlässen erlebte er sie unkompliziert und sogar ein wenig vergnügt, aber niemals ausgelassen. Während zwanzig Minuten vertiefte sich Serenus in den Anblick ihres Gesichtes, eines ebenmäßigen Ovals, einem Frauenportrait von Modigliani ähnlich, nur nicht so schmal, sondern etwas rundlicher. Sie hatte grüne Augen und einen wohlgeformten Mund, den er gerne geküsst hätte.

      Wieder einmal ging es nach Feierabend ins Bermuda. Es stand ein langes Wochenende bevor, denn morgen war Gründonnerstag. Ralf erzählte, dass er die freien Tage am Lago Maggiore verbringen würde. Serenus schniefte theatralisch und stieß unter gespieltem Schluchzen hervor: „Wie kann ich ohne dich fünf christliche Feiertage überleben? Das ist noch schlimmer als am Kreuz zu sterben.“

      Walli streichelte ihm tröstend die Wange und sagte: „Komm doch zu Planet Motion. Das wird dir gefallen. Planet Motion wird dein erstes und letztes Trance Rave werden.“

      „Höre auf meine Schwester“, bestärkte ihn Ralf. „Planet Motion ist exzeptionell. Wirklich. Selbst wenn du nie auf eine Technoparty gehen wolltest.“

      Walli erzählte, wie sie vor fünf Jahren mit der Produktion von Planet Motion gestartet war. Sie hatte gehört, dass die Stadt an Karfreitag und Ostern keine Sportveranstaltungen erlaubte und dass deshalb die Adenauer-Sporthallen Jahr für Jahr verschlossen blieben. Sie hatte sofort erkannt, dass die Örtlichkeiten für ein fünftägiges Event geradezu prädestiniert waren. Planet Motion war ein solch fulminanter Erfolg, dass sie es immer wieder, Ostern für Ostern, aufs Neue veranstaltete, dieses Jahr zum fünften Mal. Walli griff in ihre Handtasche und überreichte Serenus ein Ticket im Format einer Postkarte.

      „Das ist ein VIP-Pass“, erklärte sie ihm. „Damit kannst du den Gästeeingang und die Backstage-Lounge benutzen und ohne zu bezahlen so viele Drinks bestellen, bis du tot umfällst.“ Sie beugte sich an sein Ohr und flüsterte: „Der VIP-Pass gilt auch für Deine Begleitung.“

      Serenus vertiefte sich in die metallisch glänzenden Hologramme, die aus der Karte ein fälschungssicheres Ticket machten, und dachte nach.

      „Jetzt wird aber bloß nicht schwermütig“, neckte ihn Ralf, „deiner Bina wirst du auf Planet Motion bestimmt nicht begegnen.“

      Serenus hob den Blick und erwiderte: „Ich weiß nur nicht, ob ich die richtige Garderobe für diesen Anlass besitze.“

      Walli lachte schallend: „Das Hinterletzte wäre Jack Wolfskin. Ebenso peinlich wären Anzug und Schlips. Modisch und schrill ist perfekt, aber schwarz geht auch, denn dann sieht man dich nicht im Dunkeln.“

      ❖

      Er stieg absichtlich ein paar Haltestellen zu früh aus und ging eine Viertelstunde zu Fuß. Auf dem Weg rauchte er zwei Zigaretten, die er mit Hanföl präpariert hatte. Aber erst nachdem er seinen VIP-Pass gezeigt hatte und in die Katakomben der Adenauer-Sporthallen hinuntergestiegen war, setzte die Wirkung ein.

      In den Kellergeschossen herrschte schwarze Finsternis, die von zuckenden Laserstrahlen, Stroboskopen und Projektionen zum pulsierenden Halbdunkel einer verglühten Galaxis gemildert wurde. Aus den Musikboxen schallte etwas, was Serenus noch nie gehört hatte. Diese Klänge und Rhythmen waren reduziert, repetitiv und redundant. Die sich überlagernden Geräusche erinnerten ihn an einen Waschsalon, in dem alle Maschinen gleichzeitig in Betrieb waren. Ohne instrumentale Schwingungen, nur mit den im Computer gesponnenen Fäden wurde dieser synthetische Stoff gewoben. Ein paar Tage später erklärte ihm Walli, dass es sich bei dem Stil um progressive Trance handelte.

      Serenus brauchte einige Zeit, um seine Sinne mit dem seismischen Grollen und dem kosmischen Wetterleuchten vertraut zu machen. Allmählich gewannen Musik und Licht Konturen, und er konnte seine Aufmerksamkeit den anwesenden Individuen zuwenden.

      Zuerst fiel ihm auf, dass die männlichen Gäste in der Minderzahl waren. In den Diskotheken, die er besucht hatte, verhielt es sich meist umgekehrt, aber hier kamen zwei Frauen auf einen Mann. Zudem herrschte Geschlechtertrennung. Die Boys bildeten ihre eigenen Cliquen und ebenso blieben die Girls unter sich. Die Jungs tanzten meistens alleine und gelegentlich auch zu zweit, während mehrere Mädchen immer in der Gruppe zusammen tanzten. Zudem erkannte Serenus, dass sich die beiden Geschlechter auf ganz verschiedene Weise herausgeputzt hatten. Die Männer hatten sich chic gemacht und sahen aus wie junge Künstler, die zur Verleihung eines Förderpreises antraten. Sie trugen weit geschnittene Hemden mit ungewöhnlichen Mustern und weiße oder ausgebleichte Jeans mit so engen Röhren, dass die Beine im Verhältnis viel zu dünn erschienen. Serenus hatte noch nie so viele hübsche Jungs auf einem Haufen gesehen.

      Die Frauen schienen sich wie für einen Kindergeburtstag verkleidet zu haben. Sie trugen lauter Babyfarben: rosarot, himmelblau, blassgrün und pastellgelb. Beim Tanzen streckten sie die Hände in die Luft und gestikulierten mit ihren weißen Spitzenhandschuhen, die unter dem ultravioletten Licht wie von selber leuchteten. Manche trugen einen Haarreif, auf dem zwei Kunststoffherzen an Federn wippten. Sie sahen aus wie Kinder von der Venus, die ihre Liebesbotschaft zur Erde brachten. Andere hatten sich, in Anspielung auf Ostern, Hasenohren aus Plüsch aufgesetzt. Stiefelchen in pastellfarbigem Flokati schienen der letzte Schrei zu sein. Die jungen Frauen hatten sich in allen Farben geschminkt und sich Gesicht, Schultern und Dekolletee mit Pailletten bestreut.

      Serenus stand gegen die Squashwand gelehnt und beobachtete eine Gruppe von bunt glitzernden marsianischen Bunnys. Sie hielten pralle Luftballons am Mundstück fest und nahmen in Minutenabständen einen Zug vom Inhalt, was ihnen großes Vergnügen zu bereiten schien. Eine von ihnen war eine vollkommene Schönheit. Ihr Gesicht war mit metallischer Körperfarbe bedeckt und von einer silbernen Kraushaarperücke eingefasst. Sie trug weiße Kleidung. Die winzigen Shorts und das elastische Trägerhemdchen stellten ihre Schultern und Schenkel, ihre Lenden und Leisten zur Schau. Serenus fühlte auf der Stelle ein heftiges sexuelles Begehren nach der Unbekannten. Sie schaute immer wieder in seine Richtung und schickte ihm winzige vertrauliche Signale. Die Mädchen ihrer Gruppe tuschelten miteinander und verließen wenig später den Raum. Sollte er ihnen hinterhergehen oder lieber abwarten, ob er ihnen auf einem anderen Dance Floor wiederbegegnete?

      Doch nach wenigen Minuten kehrte die junge Schönheit zurück, brachte einen Ballon und zwei Becher mit, stellte sich vor ihm hin und bediente ihn. Zuerst bot sie ihm Lachgas an und dann Orangensaft mit Wodka, wieder den Ballon und nochmals den Drink. Serenus beugte sich zu ihrem Ohr und fragte sie: „Kennen wir uns? Wie heißt du?“

      Sie