Raya Mann

Serenus II


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Sie beschrieb ihm das zukünftige Haus und den Garten in allen Farben, und sie ließ nicht einmal die beiden Hunde aus, die das Grundstück bewachen sollten. Dann lächelte sie ihn an und sagte: „Ich wäre bereit für ein Kind von dir.“

      Die Antwort entfuhr ihm, bevor er seine Gedanken geordnet hatte. Zu seinem eigenen Staunen, hörte er sich selber sagen: „Auch ich wäre bereit für ein Kind, aber nicht mit dir.“

      Seine Ehefrau ging aus der Tür und nahm nur die Handtasche mit, die an der Klinke hing. Sie fuhr direkt zu ihren Eltern, wo sie das Wochenende verbrachte und danach noch für zwei Wochen krankgeschrieben wurde.

      In der zweiten Woche klingelte eines Abends das Telefon. Serenus bemerkte sofort, dass Ralf ganz aufgeregt war, und kam gar nicht dazu, etwas von seiner Ehekrise zu sagen. Die Firma, für die er arbeitete, hatte in Los Angeles ein kleines erfolgreiches Unternehmen übernommen und schickte Ralf dorthin, um die neue Tochter in den Mutterkonzern zu integrieren. Er rechnete damit, dass er zwei oder drei Jahre drüben bleiben würde, länger wahrscheinlich nicht. Serenus sagte nicht viel dazu, sondern dachte bei sich, dass er nun Frau und Freund gleichzeitig verlor.

      Die Mutter 2000 - 2001

      An einem Freitagabend, als Serenus, der länger gearbeitet hatte, nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter. Der Vater bat ihn nachdrücklich, sich zu melden. Serenus rief sofort zurück, aber das Besetztzeichen erklang. Während er wartete, dass der Vater sein Gespräch beendete, bekam er schlechte Laune, weil ihm die bevorstehende Scheidung einfiel. Es mussten eine Menge Papiere angefertigt werden: Scheidungsbegehren und -vereinbarung, Einkommens- und Vermögensnachweise. Er benötigte einen Anwalt, für den er ebenso würde zahlen müssen wie für den Prozess. Er glaubte nicht, dass er die Scheidung noch dieses Jahr hinter sich bringen würde. Die ganze Heiratsprozedur hingegen hatte nur sechs Wochen gedauert. „Eigentlich müsste es genau umgekehrt sein“, dachte Serenus. „Man müsste ein Jahr lang mit den Anwälten um die Eheerlaubnis kämpfen, aber die Scheidung bekäme man in sechs Wochen.“

      Er nahm das Telefon und drückte die Repeat-Taste.

      „Soeben habe ich aufgelegt“, sagte der Vater. „Ich habe mit deinem Bruder telefoniert. Er fährt jetzt gleich los und übernachtet bei uns. Du musst morgen auch kommen, wenn es dir möglich ist. Dann können wir beim Frühstück alles besprechen.“

      Wenn der Bruder gleich losfuhr, das wusste Serenus, dann war mit der Mutter etwas nicht in Ordnung.

      „Was ist eigentlich los?“, fragte er. „Ist etwas mit Mutter? Soll ich auch heute Abend noch kommen?“

      „Für dich ist es kein weiter Weg. Komm morgen. Die Mutter liegt nicht im Sterben.“

      „Aber was hat sie denn?“, rief Serenus.

      „Sie war am Dienstag zur Routineuntersuchung beim Hausarzt. Er hat Knoten in den Lymphdrüsen entdeckt und sofort Blutanalysen gemacht. Am Mittwoch wurde Gewebe entnommen. Heute haben sie uns in der Klinik den Befund mitgeteilt. Es ist ein aggressiver Tumor. Sie wissen nicht, ob er sich schon ausgebreitet hat. Auf jeden Fall müssen die Knoten entfernt und danach muss eine Chemotherapie eingesetzt werden.“

      Serenus wusste nicht, was er dazu sagen sollte. „Was für ein Elend“, dachte er. „Die Mutter ist fünfundsiebzig Jahre alt und hat diese Torturen vor sich. Ob sie überhaupt etwas nützen werden?“

      Als ob er erraten hätte, was Serenus durch den Kopf ging, fuhr der Vater fort: „Chemotherapie ist heute nicht mehr so extrem wie vor zehn Jahren. Es hilft auf jeden Fall, auch dann, wenn die Mutter nicht mehr lange zu leben hat. Wenn man zulässt, dass sich der Krebs unkontrolliert verbreitet, wird alles viel schlimmer. Eigentlich wäre sie robust und gesund, wenn die Tumore nicht wären. Man merkt ihr überhaupt nichts an. Die Operation und die Chemotherapie werden ihr nicht allzu viel anhaben können. Sie will diese erste Runde mitkämpfen, sagt sie.“ Serenus konnte hören, wie der Vater leer schluckte: „Sie sagt, nur eine Runde, keine zweite.“

      „Eine Runde kämpfen. Das passt zu ihr“, dachte Serenus, „es ist eine Anstandsrunde, eine Ehrenrunde. Die Mutter ist keine Kämpfernatur. Wenn sie für eine Runde den Kampf aufnimmt, dann nur, weil sie weiß, dass sie ihn schon verloren hat. Dass sie den beflissenen Ärzten entgegenkommt, ist eine ihrer letzten großen Gesten.“

      „Der Arzt gab mir zu verstehen“, sagte nun der Vater, „dass manche Krebspatienten sich ihren Angehörigen zuliebe der Behandlung unterziehen.“

      Eine halbe Minute lang fiel kein Wort. „Du hast noch kaum etwas gesprochen“, sagte der Vater.

      „Ich will sie weder krank noch tot. Vielleicht ist die Mutter ja in ein paar Wochen wieder ganz gesund. Ich werde um zehn Uhr bei euch sein. Kann ich noch kurz mit ihr sprechen?“

      „Sie hat ein Schlafmittel genommen. Ich würde sie nicht wach kriegen. Ich werde auch gleich eines nehmen.“

      „Dann schlaft gut. Wir sehen uns ja morgen.“ Serenus legte auf.

      Was sollte er jetzt tun? Mit wem konnte er sprechen? Der Bruder war sicher schon im Auto unterwegs. Seine Ehefrau fiel ihm ein. Wenn er ratlos gewesen war, hatte sie stets die Ruhe bewahrt und immer die richtigen Worte gefunden.

      „Im Augenblick kannst du gar nichts tun“, hätte sie gesagt, „heute Abend nicht, und auch morgen wirst du nicht viel unternehmen können. Du weißt nicht, was auf dich zukommt. Aber du wirst tun, was du tun musst, Schritt für Schritt.“

      Aber sie würde er zuletzt anrufen, egal, was passierte. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er sich schon zwei Wochen nach ihrem Auszug bei ihr meldete. Womöglich würde er sich hinterher noch schlechter fühlen.

      Um fünf Uhr früh war Serenus wach, er hätte jedoch gerne weitergeschlafen. Die Müdigkeit bereitete ihm körperliche Schmerzen. Wenn er wenigstens klar denken könnte. Er hatte so viele Dinge zu erledigen und brauchte einen Plan, was er anpacken musste und in welcher Reihenfolge.

      Sein dringendstes Problem war die Arbeit im städtischen Krankenhaus. Er war jetzt seit über vier Jahren Leiter der Administration und steckte in einer beruflichen Sackgasse. Als Erstes musste er die Suche nach einer neuen Stelle in Angriff nehmen. Am Montag wollte er um ein Zwischenzeugnis bitten und bis zum Monatsende die Kündigung einreichen.

      Auf die Behandlung der Mutter hatte er keinen Einfluss. Die Ärzte würden den Ablauf bestimmen. Sie würden die Mutter sehr schnell operieren, dann ein paar Wochen warten, die erste Chemotherapie durchführen, wieder ein paar Wochen warten, die zweite Chemotherapie durchführen und so weiter.

      Während der nächsten Monate würde er mit Bewerbungen und Krankenbesuchen ausgelastet sein. Folglich musste die Scheidung warten, bis er eine neue Stelle hatte und die Mutter über den Berg war. Auch die Suche nach einer anderen Wohnung konnte er vorläufig vergessen. Es würde womöglich ein halbes Jahr vergehen, bis er sich mit seiner Scheidung und mit der neuen Wohnung befassen konnte. Die Aussicht so lange hier bleiben zu müssen, wo er mit seiner Ehefrau gelebt hatte, deprimierte ihn.

      Das Zwielicht des anbrechenden Tages tauchte das Zimmer in graues Halbdunkel. Serenus lag auf dem Rücken, betrachtete die Silhouette seiner Hand und schloss sie zur Faust.

      Er hob den Daumen: „Ich muss eine neue Arbeit suchen.“

      Er streckte den Zeigefinger: „Mutters Krankheit.“

      Er öffnete den Mittelfinger: „Die Scheidung anpacken.“

      Er bewegte den Ringfinger: „Umziehen. Hier bleibe ich nicht. Ich brauche eine andere Wohnung und eine neue Einrichtung.“

      Aber was blieb ihm dann, wenn er all das hinter sich gebracht hatte, zu tun übrig? Eine neue Partnerin suchen?

      Er fixierte den kleinen Finger und sagte: „Liebe.“

      Er begann nochmal von vorne, ging seine Finger durch und prägte sich seine fünf Vorhaben in dieser Reihenfolge ein: „Arbeit, Mutter, Scheidung, Einrichtung, Liebe.“ Immer wieder betete er die kleine Litanei aus den fünf Wörtern herunter. Am Ende sagte er nur noch