Raya Mann

Serenus II


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Die Mutter hatte gewusst, dass es keine zweite Runde mehr geben würde.

      Der Augenarzt, der die Mutter nach ihrer Rückkehr untersucht hatte, war sofort aufmerksam geworden. „Sie haben die Augen eines jungen Mädchens“, sagte er. „Wenn Ihre Sicht getrübt ist, dann müssen wir im Hirn weitersuchen.“ Als ihm die Mutter ihre ganze Geschichte erzählt hatte, dachte er nicht lange nach. „Das ist gar nicht gut. Besser, Sie machen sich auf das Schlimmste gefasst.“

      Die Mutter ließ die Ärzte abblitzen. Sie wollte weder eine Diagnose noch eine Therapie. Serenus war glücklich, dass der Vater sie voll und ganz unterstützte. Sie sollte nie wieder in eine Klinik gehen. Man konnte zuhause ohne großen Aufwand im Erdgeschoss ein Krankenzimmer einrichten und ein Spitalbett mitsamt der notwendigen Apparaturen herbeischaffen. Man engagierte eine erfahrene Krankenschwester und fand einen Onkologen, der Hausbesuche machte, wenn man seine Honorare akzeptierte.

      Es war offensichtlich. Serenus sah, dass sich der Verlauf der Krankheit täglich beschleunigte. Nach zwei Wochen erhob sich die Mutter nicht mehr von ihrem Krankenbett und verlor gänzlich den Appetit. Inzwischen breiteten sich die Metastasen in den Knochen aus und quälten die Mutter mit schrecklichen Schmerzen. Der Arzt kam jeden Tag auf die Minute genau zur selben Zeit. Als er die Mutter schreien hörte, fügte er der Infusion zwei Ampullen Morphium bei. Zwei weitere Ampullen gab er dem Vater. „Wir werden sie nicht leiden lassen“, sagte er zu ihm.

      Das zerstörte Hirn, das Siechtum und die Drogen bewirkten, dass die Mutter in eine andere Welt hinüberglitt. Sie verlor den Verstand. Eine Woche, bevor sie starb, kam sie ein letztes Mal zu sich. Als Serenus sie nach der Arbeit besuchte, schlief sie oder dämmerte im Morphinrausch dahin. Er nahm den Lappen aus der Wasserschale, benetzte ihre trockenen Lippen und wusch ihr das Gesicht. Sie war so abgemagert, dass er den Schädel durch die Haut erkennen konnte.

      Er stellte einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. Die Mutter rührte sich nicht und atmete ganz gleichmäßig. Ihre Ruhe übertrug sich auf Serenus. Er betrachtete ihren Schlaf und fiel in einen Zustand völliger Gedankenlosigkeit. Er dachte weder an das Leben, dass zu Ende ging, noch an das Nichts, das dem Leben folgen würde. Ohne dass er es bemerkte, verlangsamten sich seine Atemzüge und glichen sich denjenigen der Mutter an. Er kam wieder zu sich, als sie erwachte.

      Sie flüsterte: „Bitte halten Sie mir ein wenig die Hand.“ Serenus streichelte ihre Hand und sprach zu ihr. Er erklärte ihr, dass er von der Arbeit gekommen sei und dass er schon eine ganze Weile hier gesessen habe, während sie schlief. Plötzlich kicherte sie lautlos.

      „Ich weiß es. Du bist gar kein Sie. Ich weiß, wer du bist. Mit dir will ich bald wieder nach Italien reisen. Ich darf nicht endlos im Bett liegen. Die Zeit vergeht ohne Nutzen. Ich weiß gar nicht, was ich schon alles verpasst habe.“

      Sie sprach ohne Stimme und Serenus konnte kaum verstehen, was sie sagte. Dann sagte sie plötzlich leise, aber deutlich: „Ich habe eine Runde gekämpft. Jetzt bekomme ich Morphium. Das ist ein schlimmes Zeichen. Alles ist so seltsam.“

      Sie verfiel wieder in ihr Flüstern: „Wann fahren wir nach Como? Wann kann ich wieder aufstehen? Willst du schon mal alles vorbereiten?“

      Bevor Serenus antworten konnte, war sie wieder eingeschlafen. Es war das letzte Mal, dass sie ihn erkannt hatte.

      Bei seinen folgenden Besuchen war sie verwirrt und hatte keinen Zugang zur Realität. Sie begriff nicht mehr, was mit ihr geschah. Die Metastasen hatten das Sehzentrum zerstört, so dass sie vollständig blind geworden war. Sie ängstigte sich vor der Dunkelheit, die sie umgab, und verstand die Ursache nicht. Sie wolle nicht die ganze Zeit im Finstern liegen, jammerte sie unentwegt. Man solle doch endlich ein Licht anmachen, flehte sie immer wieder. Warum es dauernd so dunkel sei, fragte sie ein ums andere Mal. Serenus redete ihr gut zu und hielt ihre Hand, aber sie nahm niemanden mehr wahr. Ihr Jammern und Bitten richtete sich an ein rätselhaftes Publikum, das allein in ihrem Kopf existierte.

      Eines Nachts erwachte Serenus, weil etwas vorging, das ihm unbekannt war. Er lag in seinem Bett, den Blick zum Fenster gerichtet. Es musste zwischen vier und fünf Uhr sein, denn der Himmel war nicht mehr ganz schwarz und man konnte die ersten verhaltenen Vogelstimmen hören. Er überlegte, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er hatte etwas vernommen, das einem Scharren oder Pochen ähnlich war. Er nahm eine Unruhe wahr, die nicht von ihm selber ausging. Es kam ihm so vor, als ob jemand in Eile sei. Im ganzen Haus herrschte aber Totenstille. Die Ahnung kam von weit her. Jetzt fühlte er, dass ein Mensch sich aufmachte, sich aufrichtete, sich zur Wehr setzte, sich zusammenkrümmte, sich fallen ließ.

      „Also stirbt jetzt die Mutter“, dachte Serenus. Er erhob sich, trat zum Fenster und sah zum fahlen Himmel im Osten. Mit der Zeit verklangen die Empfindungen, so wie ein Gewitter, das schon längst weitergezogen, immer noch am Horizont entlang irrt. Er harrte am Fenster stehend aus, bis schließlich die Erschütterungen ganz verstummt waren. Er kehrte in sein Bett zurück und lauschte seinen eigenen Atemzügen. So lag er eine Stunde lang in sich gekehrt, weder wach noch schlafend, mit nichts beschäftigt, erfüllt von der Wärme, die ihn einhüllte.

      Bevor der Tag anbrach, stand er auf, duschte und rasierte sich, kleidete sich an und frühstückte eine Kleinigkeit. Kurz vor sieben Uhr rief der Vater an, um ihm mitzuteilen, dass die Mutter im Schlaf gestorben sei. Die Nachtschwester habe nichts bemerkt. Es könne nicht lange her sein, denn der Körper sei noch warm. Serenus erwiderte, dass er schon seit einer geraumen Zeit auf sei und im Begriff, das Haus zu verlassen.

      Wenn es in der ersten Junihälfte nochmals richtig kalt wird, ist oft von der so genannten Schafskälte die Rede. Am Morgen der Beerdigung herrschten fünf Grad Celsius. Aus düsterem Himmel fiel Regen und Windstöße fuhren unbarmherzig durch den Friedhof. In der Kapelle war es so kalt, dass die Trauergäste die Mäntel anbehielten. Der Theologe, der die Ansprache hielt war der Bruder. Wegen des scheußlichen Wetters verlief die Zeremonie am Grab etwas hastig. Der Bruder leierte die Liturgie herunter, die Gäste warfen mit der einen Hand Blumen und Erde auf den Sarg, während sie mit der anderen den Griff des Regenschirms festhielten. Nach ein paar Minuten machte man Schluss und begab sich zur Vesper in das nahegelegene Gasthaus.

      Die Tage nach der Beerdigung blieben kalt und es regnete ohne Unterlass. Serenus fragte sich, was mit ihm nicht stimmte. Er dachte ununterbrochen an die tote Mutter. Er hätte jedoch nicht mit Sicherheit sagen können, dass sie ihm fehlte, aber ebenso wenig, dass sie ihm nicht fehlte. Ein ähnliches Problem hatte er mit seiner Arbeit. Was er im Krankenhaus tat, war völlig sinnlos, dachte er. Aber ebenso sinnlos erschien ihm, es nicht zu tun.

      Je näher der Gerichtstermin rückte, umso unwirklicher kam ihm seine Scheidung vor. Er versuchte erst gar nicht, sich an sein Eheleben zu erinnern. Er war davon überzeugt, dass er alles vergessen hatte, was von Bedeutung gewesen war. Seine Ehefrau war ihm so gleichgültig geworden, dass er annehmen musste, sie habe ihm auch vorher nicht viel bedeutet.

      Er suchte seinen Anwalt auf, um ihm darzulegen, dass er bei der Verhandlung so wenig wie möglich sprechen wolle, nicht mit dem Richter und schon gar nicht mit seiner Ehefrau. Außerdem sei er nicht zum geringsten Kompromiss bereit. Jede Forderung seitens der Ehefrau sei illegitim. Offensichtlich freute sich der Anwalt über seine Haltung.

      „Lassen Sie mich nur machen. Ich werde Ihnen ein Papier mit meinen Argumenten geben und Sie lesen mit, was ich vorbringe. Dem Gericht antworten Sie nichts, was nicht auf dem Papier steht.“

      „Sie wissen, was auf uns zukommt?“

      Der Anwalt antwortete: „Natürlich kenne ich den Richter vom Gericht, aber auch noch vom Studium. Er gilt als inkompetent und neurotisch. Aber er kompensiert es mit peinlicher Akribie. Ich werde ihm deshalb genug Präjudize auftischen, dass er sich mit einem Urteil in unserem Sinn sicher fühlt. Er wird denken, dass nichts schiefgehen kann, wenn er unserem Kurs folgt.“

      „Wird eine Verhandlung ausreichen?“, wollte Serenus wissen.

      „Es sieht nicht nach Vertagung aus, so wie der Fall angelegt ist und so, wie die Aktenlage aussieht. Der Richter wird verfügen und Sie können sich an die nächste Instanz wenden, wenn Ihnen das Urteil ungerecht erscheint.“

      Serenus erhob sich. „Ich