Raya Mann

Serenus II


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er seinem Anwalt einen zweiten Besuch abstattete, trug dieser Sorgenfalten zur Schau. Er legte Serenus den Scheidungsvertrag vor, den die Gegenpartei aufgesetzt hatte. Aber ohne eine Zeile zu lesen, schob dieser das Papier weit von sich weg und fragte: „Können Sie in einem Satz sagen, was da drinsteht?“

      „Unverschämtheiten. Sie müssen das rundweg ablehnen.“

      „Können wir auch unverschämt werden?“, fragte Serenus.

      Der Anwalt schüttelte den Kopf. „Wir müssen einen Gegenvorschlag machen, der sich ganz akribisch an die übliche Rechtsprechung hält. Wenn der Richter zwischen diesem Phantasievertrag“, er deutete auf die Blätter, „und unserem Gegenvorschlag entscheiden muss, wird er gar nicht erst nachdenken. Wir werden sorgfältig rechnen und argumentieren. Wenn die Gegenseite merkt, dass wir uns auf kein sinnloses Gemetzel einlassen, werden sie wahrscheinlich von selber vernünftig. Diese Anwältin kennt mich ziemlich gut. Vermutlich hat sie zu Ihrer Ehefrau gesagt: ‚Wir testen mal, wie naiv Ihr Ehemann ist.‘“

      „Was sagt denn die übliche Rechtsprechung zur Sache?“, wollte Serenus wissen.

      „Ich habe Ihre Unterlagen durchgesehen. Während Ihrer Ehe hatten Sie ein höheres Erwerbseinkommen und dementsprechend höhere Rentenbeiträge als Ihre Ehefrau. Darauf stützt die Anwältin ihre Forderungen. Aber das Vermögen Ihrer Ehefrau ist in den drei Jahren ganz schön gewachsen. In Ihrem Ehevertrag fällt der Vermögensgewinn unter die Gütertrennung. Ihre Ehefrau hatte unter dem Strich mehr Einkünfte als Sie. Damit kommen wir beim Gericht in jedem Fall durch.“

      Er machte eine Pause und sah Serenus fragend an. Als dieser sein Einverständnis zeigte, fuhr er fort: „Ihr Schwiegervater hat sie beerbt. Statt einer Mitgift bekamen Sie ein vorgezogenes Erbe. Ihr Schwiegervater bestand darauf, diese Erbschaft vor der Eheschließung zu vollstrecken. Eine solch ungewöhnliche Regelung ist mir noch nie begegnet. Wie auch immer, die Gegenseite kann Ihnen weder das Erbe noch die Nutznießung daraus als Vermögensgewinn anlasten.“

      „Wie geht es nun weiter?“, fragte Serenus.

      „Ich werde die Eingabe ans Gericht vorbereiten. Wenn uns die Gegenpartei nicht entgegenkommt, reichen wir sie als Klage ein.“

      „Wie teuer kommt mich eigentlich das Ganze zu stehen“, erkundigte sich Serenus?“

      „Mein Honorar müssen Sie vorher bezahlen. Erst danach reiche ich die Scheidung ein. Mit einem Monatsgehalt werden Sie hinkommen. Die Gerichtskosten richten sich nach Ihren Verhältnissen, und das Gericht gibt Ihnen erst einen Termin, wenn Sie die Gebühren beglichen haben.“

      „Und die Gegenpartei?“ Serenus verfiel bereits in den Slang des Anwaltes.

      „Falls das ein Trost für Sie ist: Wegen des Vermögens Ihrer Ehefrau wird die Anwältin ein höheres Honorar fordern. Auch dass sie die Sache so aufwändig angeht, wird sie berechnen.“

      „Sorgen Sie dafür, dass es vorangeht. Ich lasse Ihnen freie Hand. Informieren Sie mich nur, wenn es nicht nach Plan läuft.“

      Der Anwalt lächelte. „Dann sehen wir uns erst vor Gericht wieder.“

      ❖

      Ein halbes Jahr später begab sich Serenus im Frühling mit der Mutter auf eine Reise in die Schweiz. Nie zuvor hatte er sie so unternehmungslustig und lebenshungrig erlebt. Die letzte Kontrolluntersuchung war positiv verlaufen. Der Krebs schien vollständig verschwunden zu sein. Ihre Heiterkeit war ansteckend. Im Hotel Schweizerhof in Luzern schäkerte sie mit dem Rezeptionisten, dem Oberkellner und dem Barpianisten. Sie beobachtete das Federvieh auf dem Vierwaldstättersee und lachte Tränen über die aufgeplusterten Schwäne, die ordinären Möwen und die aufgeregten Blässhühner. Serenus wusste nicht, ob er wegen der albernen Wasservögel mitlachte oder angesichts der Freude der Mutter.

      Sie waren ohne Plan und feste Route losgefahren. In Luzern geriet die Mutter nun in solche Begeisterung, dass sie unbedingt die anderen Seen besuchen wollte. Der Gegensatz faszinierte sie: die ruhende Weite des Wasserspiegels, umgeben von schroffen Bergflanken und düsteren Abgründen. So reisten sie nach Interlaken und nach Lausanne. Auf der anderen Seite der Alpen gab es weitere Seen und die Mutter wollte auch diese sehen. Über Aosta gelangten sie zum Lago Maggiore, zum Lago di Lugano und schließlich nach Como. Die Hänge standen voll von blühenden Sträuchern. Das Blutrot der Kamelien mischte sich unter die Pastellfarben der Hortensien. Für Serenus war der italienische Frühling eine Wohltat. Für ein paar Tage konnte er sich von Arbeit und Scheidung ablenken. Der eintönige Alltag im Krankenhaus und die anstehende Gerichtsverhandlung belasteten ihn sehr. Er hätte sich gerne der Mutter anvertraut, aber er fand keine passende Gelegenheit dafür. Es gab keine Verbindung zwischen den beiden Sphären. Die Mutter stand ganz im Banne ihrer Sinne. Sie wollte kein Bild, keinen Klang und keinen Duft verpassen.

      Sie schlenderten zusammen durch die Gassen von Como, saßen in den Straßencafés und ließen sich von der Sonne wärmen. Italien brachte Serenus zum Träumen und er hing den alten Erinnerungen nach. Er dachte an das Hotel, wo er einen Sommer lang gejobbt, und an den Vatikan, wo er den Bruder besucht hatte. Er sah sich nach Venedig fahren, um Laura zu finden. Er stellte sich vor, dass Rosanna ganz in der Nähe war, vielleicht in Mailand, das nur noch eine halbe Stunde entfernt lag. Immer wieder musterte er die zierlichen Italienerinnen, die schwatzend und lachend vorbeigingen. Ihm gefiel, wie sie ihre dunklen Locken schüttelten. Die Mutter bestellte zwei Gläser Prosecco, um mit ihm anzustoßen. Sie prostete ihm zu und sagte: „Jetzt bist du wieder ganz der Alte. Du hast den ganzen Tag den Mädels nachgeguckt.“

      Auf dem Rückweg in die Heimat schlugen sie einen Bogen nach Osten. Sie fuhren den Inn entlang durch das Engadin nach Österreich. Als sie ins Tirol gelangten, wandten sie sich wieder nach Westen auf das Arlberg zu. Es war die Mutter, die entdeckte, dass der Fluss, dem sie nun folgten, Rosanna hieß.

      „Ich denke hin und wieder an Rosanna“, seufzte sie. „Was wohl aus ihr geworden ist?“

      „Weißt du“, antwortete Serenus, „in Como dachte ich dauernd, Rosanna könne jeden Augenblick um die Ecke kommen.“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Falls ich sie überhaupt wiedererkennen würde, nach bald zwanzig Jahren.“

      Am Abend in Bregenz war die Mutter plötzlich unpässlich. Im Restaurant wurde ihr schwindlig und sie beklagte sich über die schummrige Beleuchtung. Sie konnte die Speisekarte kaum lesen. Serenus erschrak, denn die Beleuchtung war, wie er fand, eher zu grell. Er versuchte die Mutter zu beruhigen: „Die Reise war anstrengend. Der Maloja war zweitausend Meter hoch. Du bist bald sechsundsiebzig Jahre alt. Wir können ja einen Tag am Bodensee bleiben, damit du dich ausruhen kannst.“

      Aber auch am nächsten Tag hatte die Mutter Probleme mit den Augen, so als ob Flecken ihr die Sicht verdeckten. Sie rief sogar ihren Augenarzt an und bekam einen Termin für den übernächsten Tag. So machten sie sich auf den Heimweg. Die Mutter war schweigsam und Serenus geriet ins Grübeln. Während er über alle denkbaren Augen- und Nervenleiden nachdachte, dämmerte ihm allmählich, dass die schlimmste aller Möglichkeiten eingetreten war. Die Mutter hatte Sehstörungen, weil sich Metastasen in ihr Hirn fraßen. Auf einmal war er froh, dass er mit der Mutter all diese Seen und Landschaften besucht hatte.

      Er fing an zu sprechen und erzählte der Mutter von ihrer gemeinsamen Reise. Wie sie den Vögeln auf dem See zugeschaut hatten. Wie sie in Interlaken gefroren und in Lausanne die Kathedrale bestaunt hatten. Er bekannte, dass ihm in Italien das Herz aufgegangen war. Er schwärmte von den Farben der Kamelien und Hortensien, von Kleidung und Duft der kessen Italienerinnen. Serenus redete und redete. Manche Erlebnisse gab er mehrmals wieder. Er schrieb alles in sein Gedächtnis, denn er wusste, dass es das letzte Mal gewesen war. Die Mutter würde nie wieder auf Reisen gehen. Serenus erzählte ihr von der gemeinsamen Reise, damit er nicht darüber nachdenken musste, was bald geschehen würde.

      Bald blühten die Gladiolen wieder. Soviel Zeit war seither vergangen. Als ob es gestern gewesen wäre, hörte Serenus die Stimme des Vaters am Telefon: „Sie will diese erste Runde mitkämpfen, sagt die Mutter. Sie sagt, nur eine Runde, keine zweite.“ Und jetzt mussten sich alle drei Männer dem Willen der Mutter fügen,