Raya Mann

Serenus II


Скачать книгу

gewahrte er den Lärm, der in sein Zimmer drang. Vom Baum, der vor dem offenen Fenster stand, schmetterte eine Amsel ihre Strophen. Erst jetzt erkannte Serenus in den fünf Lettern den Namen des Vogels. Jeden Morgen und jeden Abend würde ihn die Amsel an seine Agenda erinnern.

      Serenus nahm zwei Schmerztabletten und zwei Multivitamindragees. Er duschte und rasierte sich, aß ein Stück Brot und eine halbe Tafel Schokolade, dazu trank er vier Tassen Kaffee. Er setzte sich an sein Notebook, schrieb seinen Lebenslauf neu und sah seine Bewerbungsunterlagen durch. Bei Amazon bestellte er zwei Bücher, eines über Stellensuche im Internet und eines über das Vorstellungsgespräch. Er besorgte sich drei Tageszeitungen und schnitt alle Stellenanzeigen aus, die ihn beeindruckten. Er studierte die Anforderungsprofile und stellte eine Liste mit seinen 10 Trümpfen auf:

      Zwei Universitätsabschlüsse

      Betriebswirtschaftliche Praxis

      Führungserfahrung

      Informatikkenntnisse

      Fremdsprachen

      Das beste Alter

      Ungebunden

      Nachgewiesene Firmentreue

      Ungekündigte Stellung

      Gute Referenzen

      Alles zusammen, die Tabletten, der Kaffee, die Schokolade, seine Initiative und vor allem seine eigenen Top Ten, hatten sein Befinden verbessert. Aber als er den Motor seines Autos startete und losfuhr, fielen ihm die Mutter und das bevorstehende Familientreffen wieder ein, und er wünschte sich, er wäre ausgeruht. Da er früh dran war, beschloss er, nur das erste Stück auf der Autobahn und den Rest auf der Landstraße zu fahren. Er gönnte sich sogar einen Umweg durch die Hügel.

      Er überquerte eine Anhöhe und fuhr auf der anderen Seite ins Tal hinunter, als er unerwartet ein riesiges Feld mit blühenden Gladiolen erblickte. Blumen zum Selberschneiden. Jetzt fiel ihm ein, dass er mit leeren Händen zur kranken Mutter unterwegs war. Er ließ den Wagen auf dem Schotterweg ausrollen und holte sein Schweizer Taschenmesser aus dem Handschuhfach. Er betrat das Feld und schritt durch die Blumen, die in allen möglichen Farben leuchteten. Die Masse der üppigen Blüten kam ihm wie ein Wunder vor. Er schnitt einen ganzen Arm voll ab, ohne auf die Farben zu achten. An der Zufahrt stand der „Opferstock“, in dessen Schlitz er einen Geldschein steckte. Der mächtige Strauß, den er der Mutter mitbringen würde, erfüllte ihn mit Stolz.

      Serenus fand den Besuch bei den Eltern seltsam. Beide, der Vater und die Mutter, waren ungewohnt lebhaft, so als ob sie die Eingriffe und Behandlungen als ein Abenteuer betrachteten. Er befürchtete, dass noch Sätze fallen würden wie „Das muss man einfach einmal selber erlebt haben“, „Man wird ja schließlich nicht jeden Tag bestrahlt“ oder „Die Nähe zum Tod bringt einen auch dem Leben näher“.

      Die fünfundsiebzigjährige Mutter hatte eine gute Hautfarbe, leuchtende Augen und sah eben aus wie eine Seniorin, der man noch immer ansieht, wie attraktiv sie einmal gewesen war. Immer wieder musterte sie voller Zärtlichkeit ihre beiden Söhne, so als ob sie demnächst zweifache Großmutter werden würde. Der Vater, zehn Jahre älter als die Mutter, hielt sich aufrecht wie ein Sportler auf dem Siegerpodest und redete fast unentwegt. Er hatte sich in den letzten Tagen bereits ein enzyklopädisches Wissen über follikuläre Lymphome angeeignet und sprach von Immunglobulinen und Glukokortikoiden.

      Konkret war folgendes geplant: Zuerst würde man an der Universitätsklinik die Knoten entfernen. Sobald sich die Mutter vom Eingriff erholt hatte, würden die beiden nach New York reisen und dort eine Woche Urlaub machen. Anschließend würde die Mutter in einer privaten Klinik an der Ostküste untergebracht und einer kombinierten Chemotherapie unterzogen. Auf dem Heimweg versuchte Serenus sich zu erinnern, ob die Klinik in Massachusetts oder in New Jersey lag, aber es fiel ihm nicht mehr ein. Er würde auf jeden Fall für eine oder zwei Wochen hinfliegen. Einen indian summer in den USA wollte er sich nicht entgehen lassen. Er bewunderte die beiden dafür, dass sie aus dieser morbiden Angelegenheit etwas Besonderes machten. Gleichzeitig erleichterte es ihn, die Mutter in den USA zu wissen, da ihn das von der Pflicht zu täglichen Besuchen befreite. Allerdings hatte sie noch nie in einem Flugzeug gesessen. Dass sie nun diese Reise machte, erschien ihm als ein böses Omen, so als ob sie die letzte Gelegenheit ausnützen müsse.

      Zwischen Gabelfrühstück und Kaffee und Kuchen spazierten Serenus und der Bruder den Fluss entlang. Dieser war redselig und schwelgte im Erfolg. Seine Rechnung, Katholizismus mal Politik, war aufgegangen. Er war seit einem Jahr Hauptabteilungsleiter des Jugendstrafvollzugs und damit direkt dem Justizminister unterstellt. Um auf der Leiter in ein noch höheres Amt hinaufzusteigen, würde er vom Landtag gewählt werden müssen.

      Nach der Linzer Torte verabschiedete sich Serenus, ohne dass ihn jemand nach seiner Arbeit oder seiner Scheidung gefragt hätte. Er nahm dieselbe Strecke, fuhr zum zweiten Mal an dem fröhlichen Gladiolenfeld vorbei und hielt bei einem Supermarkt, um Lebensmittel für das Wochenende zu besorgen.

      Zehn Tage später besuchte Serenus die Mutter in der Universitätsklinik. Die Entfernung der Lymphdrüsen war kein großer Eingriff gewesen. Man hatte ihr dennoch starke Medikamente gegeben. Sie war etwas benommen und gleichzeitig ein wenig high. Serenus bemerkte ihre Erleichterung darüber, dass sie von den bedrohlichen Geschwüren befreit worden war. Sie berichtete ihm ausführlich von der Aufnahme am Vortag, von den Untersuchungen und der Visite des Chirurgen. Sie habe zwar nichts Richtiges zu essen bekommen, aber dafür eine Spritze, von der sie sofort eingeschlafen sei. Vom heutigen Vormittag und von der Operation habe sie so gut wie nichts mitbekommen. Sie habe etwa eine Stunde lang im Aufwachraum gelegen und wohl auch ein wenig geweint, bis der Anästhesist sicher gewesen sei, dass ihr Kreislauf stabil war. Dann sei sie wieder eingeschlafen und beim nächsten Erwachen habe der Vater neben ihrem Bett gesessen, bis Serenus gekommen sei, um ihn abzulösen. Die Mutter war von den Ereignissen der letzten Stunden ausgefüllt und interessierte sich nur dafür, was die Ärzte und Pfleger mit ihr anstellten. Serenus blieb bis kurz vor Mitternacht. Während des ganzen Besuches dachte er daran, dass er in ein paar Monaten einen neuen Job antreten würde. Aber das musste er jemand anderem erzählen.

      Einige Tage später erhielt er einen Brief von der Anwältin seiner Ehefrau. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich vertreten lassen würde. Die Anwältin bat ihn, er möge ihr seinen Anwalt nennen, damit sie in Verhandlung treten könnten. Er rief umgehend seine Ehefrau an und fragte sie, was das solle. Sie war gar nicht gesprächig und antwortete nur, dass alle ihre Freundinnen ihr dazu geraten hätten. Serenus sagte kein weiteres Wort und legte gleich wieder auf. Also fragte auch er in seinem Bekanntenkreis herum und fand einen Anwalt, der als erfahren und hartnäckig galt.

      Inzwischen waren die Eltern in die USA gereist. Serenus hatte Urlaub bekommen und flog an die Ostküste, wo er in einem Hotel in unmittelbarer Nähe der Klinik unterkam. Die Chemotherapie der Mutter wurde nach den neuesten Erkenntnissen durchgeführt. Die Ärzte bekämpften die Nebenwirkungen der Medikamente mit demselben Ehrgeiz, mit welchem sie gegen den Krebs vorgingen.

      Sie erlaubten der Mutter alles, was sie wollte, auch spazieren gehen, ans Meer fahren oder zum Essen ausgehen. Aber an den meisten Tagen hatte sie keine Kraft dafür. Dann ließ sie ihr Bett auf den Balkon fahren, wo sie über die Wiesen und Wälder bis auf den Atlantik blicken konnte. Serenus glaubte zuerst, sie sei genauso gelassen und unerschütterlich wie vor der Operation. Aber bald bemerkte er, dass die Mutter ihre Unruhe lediglich verbarg. Er sah das Flackern in ihrem Blick, er bemerkte, wenn sie dem Gespräch nicht folgte und den Faden verlor. Sie schickte ihn weg, weil sie ein wenig ausruhen müsse, aber in Wirklichkeit wollte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen.

      Der Vater ging immer noch der Onkologie auf den Grund, besonders der Behandlung von Lymphomen. Er verbrachte täglich viele Stunden in der Bibliothek der Klinik und las ein Fachbuch nach dem anderen. Zu seiner Enttäuschung wollte keiner der Ärzte wissenschaftliche Debatten mit ihm führen. Manchmal hielt er Serenus einen kleinen Vortrag und fragte ihn nach seiner Meinung dazu.

      An manchen Tagen nahm Serenus den Mietwagen und fuhr die Küste entlang oder durch die Hügel im Westen. Wenn er alleine war, fühlte er, wie sehr ihn die Situation belastete. Die Eltern ließen sich nicht