Gert Podszun

Apostelchips


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auch die Frage nach einer deutlichen Alleinstellung der Produkte. Ich muss das kurzfristig mit den Kollegen der Technik und der Produktion erörtern.

      Zuerst vereinbarte er einen Termin mit Stanislaw Kuszynski, dem Betriebsleiter. Ihm unterstand auch das Labor, das Zentrum des Firmenwissens. Er rückte seine Krawatte zurecht, setzte Daumen und Zeigefinger nahe beieinander auf die Mitte seines Schnäuzers und strich diesen mit gespreizten Fingern seitwärts glatt.

      „Herr Kuszynski, das war ja eine aufschlussreiche Präsentation von Professor Stiller.“

      „Das war mir im Prinzip schon bekannt, schließlich haben wir im Labor auch schon seit einiger Zeit mit ihm zusammen gearbeitet.“

      „Leuchtet ein. Ich soll mich ja jetzt um die Kunden im Bereich Pharma und Chemie kümmern, besonders auch die Bereiche der dortigen Entsorgung. Wie sehen denn die bisherigen Erfahrungen mit den ersten Feldversuchen im Bereich Medizin aus?“

      „Unser Technischer Leiter, Kollege Doering, war ja ganz scharf darauf, der erste Manager im Markt für die neue Technik zu sein und hat rechtzeitig begonnen, mit ausgesuchten Kunden Feldtests mit den neuen Geräten durchzuführen.“

      „Ich werde ihn darüber befragen, damit ich seine Erfahrungen nutzen kann.“

      „Ich zeige Ihnen jetzt, was wir bereits haben. Eine absolut fehlerfreie Beobachtung ist prinzipiell unmöglich. Dafür oder dagegen sprechen die sich ändernden Randbedingungen. Also Genauigkeit geht kaum über 99,999 Prozent. Daher darf man das Ergebnis einer Messung erst dann mit Sicherheit verwenden, wenn man bei Nachprüfung durch weitere Messungen eine ausreichende Übereinstimmung erzielt und die erreichte Genauigkeit richtig abgeschätzt hat....“

      Jens fühlte Hörsaalatmosphäre. Es schien ihm, als würde es plötzlich nach Wachsfußboden riechen. Er träumte sich einen Moment in diese Vergangenheit zurück und sah Kuszynski an. Seine Lippen: schmale Linien. Seine Worte: dünn wie Knäckebrot, ernst wie Kanzelmahnungen. Sie kamen präzise, fast hart, wie hauchdünne Schneiden scharfer Messer. Die kühle Klarheit, mit der Kuszynski sprach, entsprach der Präzision, die von Messinstrumenten verlangt werden. Der ganze Mann war anscheinend nur korrekt. Er war lang und schmal, wie so ein Zeiger eines Messgerätes. Jens hatte ihm schon früher heimlich den Spitznahmen Zeiger gegeben und schmunzelte. Er schaute zu ihm auf, weil seine braunen Augen aufgrund seiner Körperhöhe das erforderten.

      Kuszynski war Pole. Ingenieur. Er lebte schon seit dem Beginn des ersten Wirtschaftswunders in Deutschland. Er konnte sehr gut erklären und gab weitere Beweise seines Fachwissens, schilderte Zusammenhänge zunächst allgemein, dann anwendungsspezifisch detailliert und wusste auf alle fachlichen Fragen eine Antwort. Wie ein Fachlexikon auf Beinen.

      „Gehen wir in mein Büro, dort kann ich Ihnen noch ein paar zusätzliche Dokumente übergeben.“

      Seine Sekretärin telefonierte.

      "Du, ciao, ich muss jetzt aufhören, die Arbeit! Du weißt schon. Aber war nett, dass Du angerufen hast.“

      Mit dem Auflegen des Hörers drehte sie mit ihren vollschlanken Waden den Drehstuhl herum und musterte Jens von oben bis unten. Kuszynski schloss die Tür zu seinem Büro.

      „Sie kennen doch Fräulein Baumann, meine Assistentin.“

      Er sprach auch diesen Satz scharf und präzise. Jens spürte eine eigenartige Spannung zwischen dem Zeiger und der viel kleineren Baumann, die inzwischen aufgestanden war, um seinen Gruß mit ausgestreckter Hand zu quittieren. Auf einem Schildchen auf dem Schreibtisch stand ihr voller Name: Rosa Baumann.

      Sie nutzte die Begegnung zu einer Frage:

      „Sie sind eher selten hier im Betrieb und im Labor, oder?“

      Kuszynski beantwortete diese Frage anstelle von Jens durch Zunicken. Sie gab sich damit zufrieden. Kuszynski stellte sich mit dem Rücken vor das Fenster seines Büros und betrachtete seine bis zur Decke reichende Birkenfeige, während er weitere Erklärungen über die Eigenschaften der neuesten digitalen Messgeräte gab. Dies tat er, ohne sein Gesicht auch nur im Geringsten zu verziehen. Jens stellte sich vor, dass er bei dieser Körperlänge sicherlich ganz dünne Beine haben müsse. Er bedankte sich beim Abschied für die überlassenen Unterlagen.

      „Eine Information könnte für Sie noch von Interesse sein, Herr Jens.“

      „Ja, bitte?“

      „In der jüngsten Fachliteratur gibt es Hinweise auf neue Lagerstätten von Seltenen Erden. Da sind die Machtverhältnisse noch nicht geklärt. Es kann sein, dass diese Reserven, zum Teil auch auf dem Meeresboden, von erheblicher Bedeutung sind und die Monopolsituation der Chinesen verändern könnten. Zumindest kann es zu Verschiebungen in der Ausbeutung führen. Ich habe hier ein paar Artikel gelesen und auf einen Stick kopiert. Geben Sie mir den Stick bei Gelegenheit wieder zurück. Wir müssen die Chancen für die Entwicklung unserer Firma gemeinsam nutzen.“

      „Danke, ich werde es studieren.“ bedankte sich Jens und ging zu seinem Büro zurück.

      7

      Maria Fels konnte sich nicht vorstellen, dass ein gesunder Mann, der gerade etwa vierzig Jahre alt war, einfach so zwischen ein paar Müllcontainern zusammenbrechen würde. Inzwischen war ein Artikel über diesen Leichenfund in den Lokalnachrichten der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erschienen. Dort tauchten kritische Fragen über bisher ungeklärte Zusammenhänge auf. Fels gefiel der Artikel nicht. Sie wollte sich selbst ein Bild von dem Tatort machen und verabredete ein Gespräch mit der Filialleiterin in Alfeld.

      „Das war für mich furchtbar aufregend. Man muss ja heute mit allem Möglichen rechnen. Aber ein Toter zwischen den Containern! In diesem kleinen Ort!“

      „Meine Frage wird Ihnen aus Kriminalfilmen im Fernsehen bekannt sein. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, was gerade an diesem Tag anders war als sonst?“

      „Es ist bestimmt nicht wichtig, aber es gab doch etwas Ungewöhnliches. Da war ein kleines Auto, das in der Nähe, also auf der anderen Straßenseite vor dem Busch hielt. Kein Auto aus unserem Ort, also bestimmt nicht von meinen Kunden, die kenne ich ja fast alle. Das Auto stand noch nie da. Es war rot. Ich glaube ein alter Panda.“

      „Haben Sie einen Fahrer oder eine Fahrerin gesehen?“

      „Also ich habe ja nicht die ganze Zeit auf die Straße oder den Hof geschaut. Aber irgendwann, bei der Überprüfung der Regale, sah ich Schatten beim Blick zum Hof. Dort kann man auch parken. Da sind keine normalen Fenster in der Wand, sondern feste Milchglasscheiben. Da kann man überhaupt nur Schatten erkennen. Da waren Schatten von Menschen. Da sieht man natürlich keine Gesichter. Einer war klein. Und dünn. Der andere normal, nicht dick. Es waren mit Sicherheit keine von der Müllabfuhr. Die sind kräftiger.“

      „Hat das lange gedauert?“

      „Also ich habe morgens immer viel zu tun. Aber es gab noch Leute in der Frühe auf dem Hof. Gedauert? Weiß ich nicht.“

      Maria Fels bedankte sich.

      „Es war aber am Vormittag“?

      „Jaja. Wollen Sie noch einkaufen?“

      „Gute Idee. Wenn ich schon einmal hier bin. Eine Frage habe ich im Moment noch: Gibt es draußen eine Videoüberwachung?“

      „Nein so etwas haben wir hier nicht.“

      „Danke.“

      Fels nahm einen Korb und ging langsam durch die Ladenreihen.

      8

      Walter Doering, Leiter Technik, Forschung und Entwicklung sowie Konstruktion war ein Fuchs in der Branche. Jens traf ihn wie verabredet in seinem Büro. Neben Doerings Schreibtisch und einer Sitzgruppe gab es noch einen Planungstisch. Auf dem lagen Stapel von Zeichnungen und Ordnern. In einer Ecke des Raumes entdeckte Jens einen Safe älteren Datums neben einem Aktenregal. Doering trug