Pia Wunder

Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges


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hatte sie noch einen ordentlichen Fußmarsch vor sich. Sie sollte bloß nicht auf die Idee kommen, dieses uneheliche Gör mit zu ihm nach Hause zu bringen. Er war nett genug, die junge Frau in seinem Haushalt wohnen und arbeiten zu lassen. Schließlich wollte seine Frau nicht den ganzen Tag damit zubringen, sich um den gemeinsamen Sohn Klaus und das Geschäft zu kümmern. Na ja, ein paar Tage würden sie es schon aushalten ohne sie.

      Grete hielt sich schmerzverzerrt den verhältnismäßig kleinen Bauch fest und schleppte sich nach oben in ihr Zimmer, um die Tasche für das Krankenhaus zu holen. Zimmer war im Grunde eine unpassende Beschreibung der Kammer, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte. Ein kleines Bett, ein klappriger Holzschemel und ein alter Kleiderschrank waren alles, was lieblos hier untergebracht worden war. Aber immerhin, es war ihr eigenes Reich. In diesen Tagen Arbeit und ein Dach über dem Kopf zu haben, war ein Segen.

      Mit gemischten Gefühlen machte Grete sich an diesem eisig kalten Tag auf den Weg ins Krankenhaus. Wie sehr sie sich auf dieses Baby freute. Und wie sehr sie Ludwig vermisste. Die Schneeflocken fielen ihr ins Gesicht und vernebelten die Sicht. Gerne hätte sie sich bei jemandem untergehakt, der sie bei der Geburt begleitete. Doch ihre Zwillingsschwester Ida lebte in Stettin und ihre Eltern mit den anderen Schwestern in Bernstein. Beides zu weit weg, um ihr Beistand leisten zu können.

      Zu den Schmerzen der Wehen kam die übermächtige Angst, was sie bei der Geburt erwartete. Ihre Eltern hatten nie mit den Kindern darüber gesprochen. Über so etwas sprach man nicht. Sie war mit Ida die jüngste der Geschwister, also hatte sie auch keine Gelegenheit, vielleicht heimlich einen Blick bei der Geburt eines weiteren Geschwisterchens zu erhaschen. Wieder rieb sie die Schneeflocken aus ihren Augen und kniff sie zusammen, um die richtige Abzweigung nicht zu verpassen. Die Straßen waren menschenleer an diesem Abend. Durch die Fenster sah Grete Familien, die im Wohnzimmer bei Kerzenlicht und einem Glas Wein zusammensaßen, den Weihnachtsbaum noch festlich geschmückt. Freiwillig hielt sich zu dieser Tageszeit und bei diesen Temperaturen niemand draußen auf.

      Die gefrorenen Finger konnten sich kaum von der Tasche lösen, um die schwere Tür des Krankenhauses zu öffnen. Grete musste eine weitere, schmerzhafte Wehe abwarten, um einen erneuten Versuch zu unternehmen, die Türklinke herunterzudrücken. Das zumindest gelang ihr. Doch die Kraft, sie zu öffnen, fehlte ihr. Zu ihrem Glück wurde die Tür von innen aufgeschoben weil eine Krankenschwester im warmen Wollmantel gerade das Haus verließ, um Feierabend zu machen. Sie hielt ihr die Tür auf. Mehr noch. Mit verständnisvollem Blick und einem Lächeln im Gesicht nahm sie ihr die Tasche ab und führte sie zu dem Zimmer, in dem die grauhaarige Nachtschwester gerade ihren Dienst begonnen hatte.

      »Alles Gute.« Sie lächelte ihr noch einmal aufmunternd zu und verließ das Zimmer. Grete nickte nur mit schmerzverzerrtem Gesicht. Das Formular, das ihr die grimmige Nachtschwester vorlegte, unterschrieb sie ungelesen. Sie wusste auch später nicht mehr, wie sie in welches Zimmer gekommen war. Nur an die unerträglichen Schmerzen erinnerte sie sich. Und an den Kommentar der herzlosen Nachtschwester, die sich anscheinend auf eine ruhige Nacht gefreut hatte und sich entsprechend gestört fühlte: »Stelln se sich mal nich so an. Früher ham die Mütter ihre Kinder nebenbei aufm Feld jekricht.«

      Ihre Gefühle übermannten sie. Wie sehr wünschte sie sich ihre Mutter an ihrer Seite. Selbst wenn sie es sich wahrscheinlich nicht verkneifen könnte, ihren Kommentar zu wiederholen: »Wie konnte das passieren? Konntest du nicht besser aufpassen?« Dabei war doch alles ganz anders geplant.

      Als sie Ludwig vor knapp zwei Jahren kennenlernte, war er der Lichtblick in diesen düsteren Zeiten. Mit seinen blonden Haaren, die einen leichten Stich ins rötliche bekamen, je nachdem, wie die Sonne darauf fiel, und seiner unbeschwerten, fröhlichen Art, hatte er sie sofort gefangen genommen. Ludwig hatte als Obergefreiter eine Ausbildung als Automechaniker genossen und schnell schmiedeten die beiden Zukunftspläne. Er wollte nach dem Krieg ein eigenes Geschäft aufbauen. Und Grete, die sowohl einen Haushalt schmeißen konnte, aber auch über kaufmännisches Geschick verfügte, wollte ihn nach Kräften unterstützen. Die Hauptsache war, sie konnten zusammen sein.

      Irgendwann, wenn der Krieg zu Ende wäre, wollten sie auch Kinder. Zwei. Kein Einzelkind, das allein aufwachsen würde. Und keine riesige Familie, die man in diesen Zeiten kaum satt bekommen konnte. Schnell hatten sie die Hochzeit im kleinsten Kreis geplant. Nur ihre Zwillingsschwester Ida und sein bester Freund Heinrich sollten sie begleiten. Eine große Feier würde es natürlich für Familie und Freunde noch geben. Wenn der Krieg vorbei ist. Das war immer das Ziel: Wenn der Krieg vorbei ist, fängt das richtige Leben an. Ihr gemeinsames Leben. Ein wunderbares Leben voller Liebe.

      Der Termin für die Hochzeit war der 09. September 1941. Geld für Ringe hatten sie nicht. Das war egal. Bis dahin ließen sie sich irgendetwas einfallen. Aber etwas Besonderes hatte Grete, das sie sehr glücklich machte. Als sie das Gut in Bernstein, auf dem ihr Vater als Verwalter arbeitete, verließ, hatte ihr die große Schwester Marie eines ihrer Sommerkleider geschenkt. Marie war viel größer und stabiler als sie. Aber Grete konnte sehr gut nähen und sie würde es in ein wunderschönes Hochzeitskleid verwandeln. Heimlich hatte sie sich in den Stunden, wenn sie allein im Haus des Fischhändlers war, an die Nähmaschine der Hausherrin gesetzt. Sie trennte den üppigen Stoff auf und verbrachte Stunde um Stunde damit, aus diesen Teilen ein kleines Jäckchen zu schneidern. Im September konnte es schon kühl werden.

      Da Grete – wenn überhaupt – nur am Wochenende mal die eine oder andere Stunde frei bekam, waren ihre Verabredungen mit ihrem Liebsten rar und umso wertvoller. Als sie sich eines warmen Sonntagmorgens im Sommer an der Warthe trafen, um einen Spaziergang durch den Park Cytadela zu machen, empfing er sie mit einer Stofftasche in der Hand und einem aufgeregten, lachenden Gesicht. Er hob sie überschwänglich hoch und drehte sich mit ihr im Kreis bis ihr schwindelig wurde. Dann setzte er sie vorsichtig wieder auf ihre Füße und küsste sie sanft.

      »Was ist denn los?« Statt einer Antwort bekam sie erneut einen innigen Kuss. »Ich habe eine Überraschung. Komm, lass uns in den Park gehen!« Grete war zwar ebenso aufgeregt, aber auch geduldig genug, nicht nachzufragen, sondern seine Hand zu ergreifen und wortlos mit ihm in den Park zu spazieren. Sie hatten sich so viel zu erzählen, weil sie sich fast drei Wochen lang nicht gesehen hatten, doch keiner von beiden sagte ein Wort. Es war nicht nötig. Wichtig war nur, dass sie jetzt und hier zwei Stunden hatten, die sie zusammen genießen konnten. Unbeschwerte, kostbare Zeit.

      Ludwig schien genau zu wissen, wohin er sie führen wollte. Zielstrebig spazierte er mit ihr auf den Wegen durch den Park, bis er plötzlich den Pfad verließ, um über eine große Wiese auf eine Gruppe Bäume zuzusteuern. Er schaute sich noch einmal um, ob sie beobachtet wurden. Um diese Zeit waren nicht viele Menschen im Park. Die meisten waren in der Kirche, bereiteten das Mittagessen vor oder genossen einfach einen ruhigen Sonntag zu Hause mit der Familie. Oder im Wirtshaus.

      Erwartungsvoll beobachtete Grete, wie Ludwig ein Tuch aus der Tasche nahm und es an einer geschützten Stelle auf dem Boden zwischen einigen Bäumen ausbreitete. Dann ergriff er ihre Hand und nahm mit ihr auf der provisorischen Picknickdecke Platz. Ein weiterer Griff in die Tasche und er zauberte ein Stück Käse hervor sowie eine dicke Scheibe Brot und eine Handvoll Weintrauben. Welch ein Luxus. Ihr lief schon das Wasser im Mund zusammen. Sein Vorgesetzter hatte am Vorabend eine große Feier anlässlich seiner Beförderung und so konnte Ludwig heimlich etwas von den Resten des Festessens verschwinden lassen. Sogar ein Stückchen weißes, zartes Hühnerfleisch und eine halbe Flasche Rotwein zauberte er hervor. Sie fühlte sich wie eine Königin.

      Eine ganze Weile saßen sie auf ihrem kleinen Fleckchen Paradies, aßen von diesem üppigen Buffet, küssten sich immer wieder und erzählten von den Geschehnissen der vergangenen Wochen. Hin und wieder warf Ludwig einen Blick auf die Tasche und Grete ahnte, dass noch etwas in ihr verborgen war. Um ihm nicht die Freude zu verderben, blieb sie geduldig, bis er es nicht mehr aushielt. »Schließ die Augen!«, forderte er sie auf. Lächelnd tat Grete wie ihr befohlen wurde und spürte, wie er die Reste des Essens beiseite räumte. Dann nahm er neben ihr Platz. Er legte seinen Arm um sie. »Gib mir deine Hand!« Sie tat wieder wie befohlen. Jetzt fiel es auch ihr schwer, ruhig zu bleiben. Die Aufregung stieg ins Unermessliche. Er legte etwas Weiches in ihre Hand. »Augen auf!« Seine Stimme überschlug sich fast.

      Als sie die Augen öffnete, sah