Pia Wunder

Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges


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Elfriede wirkte zunehmend bedrückt. Na, es wird sich schon legen, wenn sie das Baby erst einmal im Arm hatte, dachte Grete.

      Und tatsächlich. Schnell hatte Elfriede das richtige Bettchen gefunden und wartete darauf, dass man ihr das kleine Mädchen in den Arm legte. Die Schwester gab ihr einen weißen Kittel und bat sie, diesen überzuziehen. Gretes Mutter, die noch einige Zentimeter kleiner als sie selbst war, durfte Ilse aus dem Bettchen holen und herzte sie erst einmal ausgiebig. Ihr Vater hielt sich zurück und deutete auf seine große Enkeltochter. Er wollte ihr nicht zumuten, noch länger zu warten. Und endlich durfte Elfriede auf einem Sessel Platz und die Kleine auf ihren Arm nehmen. Eine Träne lief ihr augenblicklich die Wange hinab. Grete war sich nicht sicher, ob es eine Freudenträne war und fühlte sich zunehmend aufgewühlt. Natürlich war sie immer aufgewühlt, wenn die Familie zu Besuch war. Es war immer ein Tag voller Freude und voller Schmerz, wenn der Abschied nahte. Doch ihr untrügliches Bauchgefühl verriet ihr, dass dies mehr war als eine Freudenträne über das neue Familienmitglied.

      Heute durften sie Ilse in einen Kinderwagen packen und mit ihr spazieren gehen. So schön dieser August-Nachmittag war, ihr Gefühl ließ sie nicht los. Während der ganzen Zeit durfte nur Elfriede den Wagen schieben und immer wieder streckte sie eine Hand in den Wagen, um nach den Fingerchen zu greifen oder Ilse über die Wange zu streichen. Bevor sie sich auf den Rückweg machten, setzten sie sich auf eine Bank im nahegelegenen Park. Es war dieser Park, in dem das junge Leben an einem romantischen Sommertag entstanden war. Völlig unvorbereitet platzte es aus Elfriede heraus: »Dieses Waisenhaus ist so schrecklich. Da kann die Kleine doch nicht bleiben.« Da niemand sonst das Wort ergriff, versuchte Grete, es ihr zu erklären. Ihr etwas zu erklären, das für sie selbst kaum erklärbar war. Ihr Kind wuchs in einem Waisenhaus auf, obwohl es Vater und Mutter und eine große Familie hatte.

      Grete sah ihre eigene Mutter flehend an. Doch diese konnte ihr nicht helfen. Nach einigen Minuten des Schweigens, in denen Elfriede hemmungslos schluchzte angesichts der Vorstellung, ihre Cousine gleich wieder in diesem kalten Haus abzugeben, ergriff ihre Mutter vorsichtig das Wort. »Wir haben uns auch Gedanken gemacht, liebe Grete. Ein Kind braucht Familie. Und ein Kind braucht seine Mutter.« Wahre Worte. Schweigen. »Beides hat es und hat es eigentlich nicht.« Grete wusste genau, was ihre Mutter sagen wollte. Und eigentlich sprach sie ihr aus dem Herzen. Sie wünschte sich so sehr für Ilse, dass sie mehr von ihr und von ihrer Familie hätte. Doch wie sollte das gehen?

      Ihr Bauchgefühl wurde stärker und schmerzlicher, während sie den Worten ihres Vaters lauschte, der bis dahin geschwiegen hatte. Der große, schlanke Mann nahm seine zierliche Tochter in den Arm und versuchte, ihr den Gedanken näher zu bringen, das Kind in die Hände der Familie in Mark Brandenburg zu geben. So sehr, wie er seine eigene Tochter vermisste, ahnte er, welchen Schmerz es für sie bedeutete, ihr Kind so weit weg zu wissen und noch viel seltener sehen zu können. Denn, eins war klar: Grete konnte zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit auf das Gut. Für sie gab es dort keine Arbeit und kein Brot. Außerdem war sie noch in der Verpflichtung gegenüber Jakobsen.

      »Ich danke euch für euer Angebot. Und ich weiß, dass es ihr gut gehen würde. Aber lasst mich bitte darüber nachdenken. Ich kann nicht hier und heute entscheiden. Bitte, versteht das!« Natürlich hatten sie Verständnis für Gretes Verzweiflung, aber sie waren auch sicher, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde. Es wäre ja nur ein vorübergehender Abschied. An diesem Abend gingen alle mit Tränen gefüllten Augen ins Bett. Es waren bittere Tränen des Abschieds und der Verzweiflung.

      Sommer 1942

      Grete tat das einzig Richtige. Sie durfte nicht egoistisch sein und musste an das Wohl ihrer kleinen Tochter denken. Einige Wochen noch genoss sie die Zweisamkeit mit ihrer kleinen Ilse und bereitete sich auf die Reise vor. Tatsächlich hatte sie sich bei Jakobsen durchgesetzt und bekam das ganze Wochenende frei und ihre kleine Aufwandsentschädigung für diesen Monat. Sogar eine Vorauszahlung für den nächsten Monat gab er ihr. Jakobsen wusste Grete gerne in seiner Schuld. Es war absehbar, dass die attraktive, junge Frau nun auch am Wochenende Zeit für ihre Dienste hatte und wenn er ehrlich war, erhoffte er sich schon seit längerer Zeit Dienste der ganz anderen Art von Grete.

      Solange seine Frau und der Sohn im Haus waren, konnte er nicht riskieren, bei einer Annäherung erwischt zu werden. In den Ferien jedoch waren beide zur Familie an die Mecklemburgische Seenplatte gefahren. Unter dem Vorwand, das Geschäft in diesen Zeiten nicht schließen zu können, blieb er allein zu Hause. Er verabschiedete Grete, die sich mit ihrer Tochter auf den Weg zu den Eltern machte, ungewöhnlich verständnisvoll. »Wann bist du wieder zurück?« »Auf jeden Fall am Sonntagabend. Ich weiß noch nicht genau, wann der Zug ankommt, aber Sie brauchen nicht auf mich zu warten. Ich werde leise sein und direkt schlafen gehen, damit ich am Montag ausgeruht bin und Ihnen helfen kann.« Grete war überrascht angesichts seiner scheinbaren Anteilnahme. Doch sie war zu aufgewühlt, dem viel Bedeutung beizumessen.

      Die zweistündige Zugfahrt verging wie im Flug. Während die malerische Landschaft rund um Bernstein mit den sieben Seen an ihr vorbeizog, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie schön ihre Heimat eigentlich war. Heimat. War es das für sie? Sie wurde mit Ida hier geboren und verbrachte den größten Teil ihrer Kindheit hier. Sie fühlte sich hier zuhause und Ilse würde es genau so gehen. Es war ein Gefühl von Ferien bei ihren Eltern. Das war ein sehr schönes Gefühl. Zwei Tage konnte sie mit ihrer ganzen Familie genießen, bevor sie dann den Gutshof vorerst allein verlassen musste.

      Während der gesamten Fahrt hielt sie Ilse fest in ihrem Arm. Die Kleine schmiegte sich an sie und schien es zu genießen, ihrer Mutter so nahe zu sein. Mit wachen Augen sah sie ihre Mutter an. Und wie jedes Mal, wenn Ilse sie zu fragen schien, was gerade passierte, flüsterte Grete ihr zuversichtlich zu: »Alles wird gut.« Das Gesicht ihres kleinen, rot gelockten Mädchens strahlte Vertrauen aus. Grete glaubte fest daran, dass sie ihre Tochter nicht enttäuschen würde.

      Gedanklich hatte sie sich schon auf einen Fußmarsch von einer guten Stunde vorbereitet, da der Gutshof etwas abseits des kleinen Bahnhofs lag. Zu ihrer Überraschung wurde sie jedoch von ihrem Vater empfangen. Er hatte sich den Wagen des Gutsbesitzers ausgeliehen. Drei von Maries Kindern waren mitgekommen und hüpften fröhlich winkend auf dem Bahnsteig herum, bis der Zug endlich zum Stillstand kam. In diesem Augenblick rannten sie zur Tür des Waggons, um sie zu öffnen. Grete stand mit der Kleinen auf dem Arm und einer großen Tasche in der anderen Hand darin und wartete. Doch die Kleinen hatten nicht die Kraft, die schwere Tür zu öffnen und mussten sich gedulden, bis ihr Großvater kam, um ihnen zu helfen.

      »Wie schön, dich zu sehen.« Ihr Vater umarmte sie und die Kleine behutsam. »Wie groß sie geworden ist.« Ilse lächelte ihren Großvater an. Ihr Blick ließ sein ohnehin großes Herz erweichen. Er konnte sich erst von seinem Enkelkind lösen, als ihre Cousinen und Cousins an Grete hochsprangen, um das rothaarige Baby zu sehen, von dem hier seit Wochen schon die Rede war. Dann nahm er ihr die schwere Tasche ab. Grete kniete sich nieder, damit die Kinder ihre Cousine endlich sehen konnten. Eins der Mädchen schob Ilses Mützchen etwas nach oben, um die Haare sehen zu können. Dabei schnürte das Band der Mütze den Hals ein, so dass Grete schnell eingreifen musste, damit die ungestümen Kinder sie nicht verletzten. »Kommt, lasst uns ins Auto gehen, dann kann ich ihr das Mützchen ausziehen. Hier draußen ist der Wind zu frisch.«

      So schnell es ging, sprangen die Kinder ins Auto und stellten sich auf die Sitzbank, um einen besseren Blick erhaschen zu können. »Jetzt ist aber Schluss.« Grete erschrak bei den harten und lauten Worten ihres Vaters. »Wenn irgendetwas hier schmutzig wird, dann ziehe ich euch den Hosenboden lang.« So kannten die Kinder ihren Großvater nicht. Aber sie wussten, dass der Gutsherr sehr streng war und deshalb war in dieser Beziehung auch mit ihrem Opa nicht zu spaßen. Schnell nahmen sie auf dem Rücksitz Platz und warteten brav, bis Grete der Kleinen die Mütze abgenommen hatte. Sie hielt ihr Mädchen in die Höhe, so dass die Kinder es hinten gut sehen konnten. Ilse jauchzte vor Freude, als die Mutter sie hoch hob. Die Kinder waren so perplex, dass sie wie betäubt mit offenen Mündern sitzen blieben. Aber das Strahlen in den Augen des Babys war ansteckend und spiegelte sich in ihren eigenen Augen wider.