Pia Wunder

Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges


Скачать книгу

mit ihren Ersparnissen vom Schrank geholt. Beim Nachzählen hatte sie das Gefühl, dass Geld fehlte, doch sie hatte nicht genau notiert, wie viel wirklich darin war. Auch dies bestärkte sie in ihrer ungewollten Stimmung des Misstrauens.

      Nach Feierabend schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und öffnete den Briefumschlag. Noch bevor sie den Brief herauszog, fiel ihr ein weiches Papiertuch in die Hände. Darin eingewickelt fand sie eine wunderschöne Haarspange für ein Kind. Für ihre gemeinsame, kleine Tochter. Eine Libellenspange.

      Die Freude über das schöne Geschenk wich schnell einer tiefen Angst. Ludwigs Zeilen waren nicht wie sonst unbeschwert und liebevoll. Besorgnis sprach aus seinen Worten. Er berichtete von russischen Truppen, die seine Einheit zurückdrängten. Offiziell sprach man in Posen davon, dass der Endsieg nicht mehr in weiter Ferne schien. Doch Ludwigs Brief sprach eine ganz andere Sprache. Auch wenn er versuchte, seine Worte nicht allzu beunruhigend klingen zu lassen, konnte sie seine Angst förmlich spüren. Wie sehr sie sich danach sehnte, in seinem Arm zu liegen.

      Sein vorerst letzter Brief, der sie im Januar 1945 erreichte, war hingegen völlig klar. Für sie. Seine Worte waren für Außenstehende nicht deutlich. Er sprach davon, dass sie doch schon immer mal Urlaub in Bernstein bei ihren Eltern machen wollte. Und dass seine Tante Klara in Köln sehr gerne einmal ihr kleines Mädchen kennenlernen würde. Es gab keine Verwandtschaft in Köln. Grete erkannte die versteckte Botschaft sofort. Durch die Blume forderte er sie auf, Posen sofort zu verlassen, ihre Tochter in Bernstein abzuholen und mit dem ersten Zug, den sie bekommen konnte, in den Westen zu fahren. Auf der Stelle. Es waren unmissverständliche Zeilen, die ihr eine furchtbare Angst einflößten. Doch sie endeten, wie immer, mit seinem Versprechen, dass er bald bei ihnen wäre.

      Schon am nächsten Tag war Grete ohne ein Wort aus dem Haus der Jakobsens verschwunden. Ihr schlechtes Gewissen war groß, doch nicht annähernd vergleichbar mit der Sorge um ihre Familie. Also hinterließ sie Frau Jakobsen einen Brief, in dem sie sich entschuldigte und ihre Lage erklärte. Im Laden war ohnehin kaum noch ein Käufer zu sehen, denn immer mehr Menschen packten ihr Hab und Gut, um die Stadt zu verlassen. Im letzten Monat schon hatte Grete nur einen Teil ihres Gehaltes ausgezahlt bekommen, weil die Geschäfte schlecht liefen. Ihre Ersparnisse hatte sie in der Nacht in den Bund des Pullovers und einen kleinen Teil in das Futter des Koffers eingenäht. Für Ilse hatte sie extra einen kleinen, roten Koffer gekauft. Am Bahnhof gab sie einen kurzen Brief für Ida auf, der sie über ihre Pläne informierte.

      Der letzte Brief an ihre Eltern war bereits einige Wochen her und so würde sie unangemeldet dort auftauchen. Doch sie war sich sicher, dass ihre Eltern sich über ihren Besuch freuen. Zumindest so lange, bis sie den Grund ihres Kommens erfuhren. Mit ihrem schweren Koffer suchte sie verzweifelt nach einem letzten freien Platz im Zug. Eine kleine Lücke zwischen zwei kräftigen Männern ließ sie hoffen und so nahm sie allen Mut zusammen, die Männer um ihr Einverständnis zu bitten, Platz nehmen zu dürfen. Jeder im Abteil hielt sein Gepäckstück auf dem Schoß fest und beäugte den Nachbarn argwöhnisch. Da Grete überhaupt nur in die Lücke passte, weil sie so zierlich war, gab es keine Möglichkeit für sie, den großen, braunen Koffer hochzunehmen. Den kleinen, roten Koffer legte sie nach oben in die Gepäckablage. Mit einem unguten Bauchgefühl schob sie den schweren Koffer zwischen ihre Beine, die sie für diesen Zweck so weit öffnen musste, wie sie es sonst nie getan hätte. Es ziemte sich nicht. Doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen.

      Während der ganzen Fahrt presste sie die Beine fest gegen den Koffer, um sicherzustellen, dass er an Ort und Stelle blieb. Hin und wieder, wenn ihre Beine eingeschlafen waren, rückte sie mit der Hand den Koffer ein wenig vor oder zurück. Einmal legte sie die Beine auf den Koffer, um sie ausstrecken zu können, doch schnell stieg Unwohlsein in ihr auf und sie stellte ihre Füße zurück auf den Boden. Sie versuchte, ihren Blick entschlossen und selbstsicher erscheinen zu lassen. Alles, was sie besaß, war in diesen beiden Koffern verstaut. Die Fahrt kam ihr vor, wie eine Ewigkeit und sie war erleichtert, als sie zwei Stunden später den Zug verlassen konnte und ihre Füße heimatlichen Boden berührten, der mit einer leichten Schneeschicht bedeckt war.

      Bernstein, Januar 1945

      Auch wenn der Grund für ihre Reise besorgniserregend war, freute Grete sich unbändig darauf, ihre Tochter in die Arme schließen zu können. Nie wieder würde sie Ilse allein lassen. Sie war vollen Mutes, nach ein paar Tagen bei ihren Eltern gut erholt und vorbereitet auf die Reise in den Westen zu gehen und hier ein neues Leben zu beginnen. Entgegen Ludwigs Wunsch würden sie allerdings einen kleinen Umweg machen und Ida in Stettin abholen. Zu dritt würden sie alles gut überstehen. Jetzt war Grete froh, dass ihre Tochter mittlerweile 3 Jahre alt und somit diese große Reise besser bewältigen konnte als noch vor einem Jahr.

      Überrascht war Grete von der ungewohnten Stille auf dem Bahnsteig. Fast gespenstisch leer war der Bahnhof. Da ihr diese Stille zunehmend Unwohlsein bereitete, machte sie sich eilig daran, den schweren Koffer in die eine und den kleinen roten Koffer in die andere Hand zu nehmen, und sich schnellstmöglich auf den Weg zum Hof zu begeben. Nicht nur ihre Beine taten weh nach der langen, unbequemen Fahrt. Immer wieder musste sie den schweren Koffer in die andere Hand wechseln. Erst jetzt wurde ihr klar, dass ein Koffer nicht wirklich gut geeignet war für ihr Vorhaben. Doch sie ging davon aus, dass mit der Ankunft auf dem Hof auch Transportmittel zur Verfügung standen und ihr den Weg erleichtern würden.

      Auf halber Strecke musste Grete sich erleichtern. Sie nahm die Koffer mit in das Gebüsch abseits der kleinen Straße und hockte sich hin. Aus der Ferne hörte sie ein Auto herannahen. Ausgerechnet jetzt. In der Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit bemühte sie sich, ihr Bedürfnis schnell zu beenden und an die Straße zu eilen. Aussichtslos. Schließlich versuchte sie, wenigstens die Aufmerksamkeit des Fahrzeugs auf sich zu lenken. Das Auto kam näher, war fast neben ihr. Grete hatte schon einen Arm gehoben. Im letzten Augenblick konnte sie den Wagen sehen. Und seine Besatzung. Russische Soldaten.

      Das Herz blieb ihr stehen und sie wagte nicht, sich zu bewegen. Hatten die Soldaten ihren Arm bemerkt? Wie versteinert verharrte sie noch einen Augenblick, obwohl auch ihr Bedürfnis schlagartig versiegt war. Der Wagen fuhr weiter. Nicht auszumalen, was ihr hier als Frau allein im Wald mit einer Gruppe Soldaten widerfahren wäre. Blitzartig erschien Jakobsen und sein lüsterner Gesichtsausdruck vor ihren Augen. Schnell schüttelte sie diese Erinnerung ab und richtete ihre Kleidung. Sie musste so schnell wie möglich den Hof ihrer Eltern erreichen. Doch sie würde es nicht wagen, weiter auf der Straße zu gehen.

      Mit dem schweren Koffer bahnte die zierliche Frau sich ihren Weg durch Büsche und die kalten Wälder. Ein Stück des Weges an den Seen entlang war ungeschützt und so konnte sie nur hoffen, dass ihr kein weiteres Auto begegnete. Mit zerkratzten Händen und einem Riss in ihrem warmen Mantel erreichte sie schließlich den Hof. Es dämmerte bereits, daher freute sie sich, die Lichter in den Fenstern der Arbeiterwohnungen zu sehen. Eine heiße Suppe wäre jetzt ein Gottesgeschenk. Oder zumindest ein heißer Kaffee. Sicher würde sich ihre Mutter gleich um sie kümmern. Lachen war vom Hof zu hören und Musik. Ungewöhnliche Musik.

      Sie hielt inne. Versuchte, die Eindrücke einzuordnen. Sie waren nicht so vertraut wie sonst. Von ihrem geschützten Standort an der Mauer des Gutshofes beobachtete sie für einen kurzen Augenblick das Geschehen. Bis ein Wagen gestartet wurde. Im Augenblick, wo sie ihn sah, fuhr ihr erneut ein Schrecken in die Glieder. Das war nicht das Auto, mit dem ihr Vater sie abgeholt hatte. Grete duckte sich hinter der Mauer und wartete. Panik stieg in ihr hoch, je näher das Auto kam. Sie erkannte, dass es der gleiche Wagen war, der vor einer halben Stunde an ihr vorbeigefahren war. Sie hielt die Luft an und schloss die Augen, in der Hoffnung, dass sie im Vorbeifahren nicht bemerkt wurde. Das Motorengeräusch wurde leiser und Grete traute sich endlich wieder, Luft zu holen und sich aufzurichten, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

      Zu Tode erschrocken drehte sie sich um und sah direkt in die Augen eines russischen Soldaten. Er amüsierte sich über die verängstigte junge Frau und verstärkte seine Wirkung noch, indem er seine Waffe auf sie gerichtet hielt. Grete bekam kein Wort heraus, sie hatte Todesangst so nahe bei ihren Eltern und ihrem Kind. Nicht nur Angst um ihr eigenes Leben. Sie wusste ja nicht einmal, ob ihre Familie noch lebte. Der Soldat war selbst noch ein relativ junger Mann und