Pia Wunder

Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges


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erstarren. Da sie seine Worte nicht verstand, wusste Grete auch nicht zu reagieren.

      Schließlich fuchtelte er mit dem langen Lauf seines Gewehres vor ihr herum und schien sie aufzufordern, den Hof zu betreten. Sie ging vor ihm her und warf hin und wieder einen angsterfüllten Blick zurück. Stets reagierte er mit der gleichen Geste. Seine Aufforderung, weiterzugehen, bis sie das Herz des Hofes, ihr Zuhause, erreichten. Ihr Elternhaus war erleuchtet. Zu ihrer Verwunderung allerdings auch die Scheune. Um diese Zeit war eigentlich dort schon das Vieh untergebracht und es herrschte Stille. Nicht heute. Das Tor war fast komplett zugeschoben, und so konnte sie nicht sehen, was sich dahinter verbarg. Im Inneren des Hofes befanden sich einige, wenige Männer. Sie waren unter Aufsicht von mindestens 8 Soldaten damit beschäftigt, Holz zu hacken.

      Plötzlich bemerkte sie in der Gruppe der Männer ihren Vater. Ohne nachzudenken lief sie los und stürmte auf ihn zu. Sofort hoben zwei der Soldaten ihre Gewehre und nahmen Grete ins Visier. Sie bemerkte es in ihrer Aufregung gar nicht und fiel ihrem Vater in die Arme. »Papa, wie geht es dir? Wo sind die anderen?« Sie überschlug sich mit ihren Fragen und ließ ihm gar keine Gelegenheit, zu antworten. Er ließ die Axt fallen und schlang die Arme um seine kleine Tochter. »Gott sei Dank, du lebst«, war alles, was er sagen konnte. Das Geschrei der Russen unterbrach sie. Wild gestikulierend wurde er aufgefordert, weiter zu arbeiten. »Geh schnell rein. Deine Mutter ist da.« Als Grete sich nach links wandte, um zur Wohnung ihrer Eltern zu gehen, umfasste ihr Vater ihr Handgelenk, schloss kurz die Augen und deutete auf das Tor zur Scheune für das Vieh. »Dort.«

      Verunsichert machte Grete kehrt und ging auf das Tor zu. Der junge Soldat, der sie erwischt hatte, rief ihr noch etwas nach, was die älteren Soldaten lachend kommentierten. Doch Grete verschwand ohne einen Blick zurück in der Scheune. Und blieb erst einmal auf der Stelle stehen, um sich ein Bild der entsetzlichen Lage zu machen. Dutzende verängstigte Augen blickten sie an. Einige Arbeiter des Hofes samt Frauen und Kindern saßen auf Strohballen. Im hinteren Teil der Scheune hörte sie Kinder weinen. Ilse. Sie hörte auch Ilse weinen. Da war sie sich ganz sicher. Zumindest wusste sie nun, dass ihr Kind noch lebte.

      Hektisch bahnte sie sich einen Weg durch die Scheune, kletterte über Heuballen und lief um Geräte herum. Bis sie endlich ihre Familie in der rechten, hinteren Ecke fand. Sie hatten einige Strohballen kreisförmig angeordnet, so dass sie ein wenig Schutz für die Kleinen boten. So gut es eben ging. Ihre Mutter stieß einen Schrei aus. Ob vor Freude oder Entsetzten konnte man nicht erahnen. Sie sprang auf, um ihrer Tochter entgegenzulaufen, doch eine Verletzung an ihrem Fuß hinderte sie daran. Schnell sprang Grete über den letzten Heuballen und nahm ihre Mutter in ihren Armen auf. Noch niemals zuvor hatte sie ihre Mutter weinen sehen. Hemmungslos ließen beide ihren Gefühlen freien Lauf.

      Erst nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatten, bemerkte Grete, dass ihre Tochter direkt neben ihr stand und ihren Kopf an ihr Bein lehnte. Schnell beugte sie sich herab, hob ihr Kind hoch und drückte es fest an ihre Brust. »Ich lass dich nie wieder allein. Jetzt bin ich bei dir. Mein kleiner, großer Engel.« Ihr Herz erfüllte sich mit einer unfassbaren Wärme angesichts der Umstände. Sie wog die kleine Ilse immer wieder hin und her, bis beide schließlich ruhig auf einem der Strohballen Platz nahmen. Sie setzte Ilse auf ihren Schoß, dem Gesicht ihrem zugewandt. Diese grünen Augen leuchteten trotz allem immer noch wie bei ihrer Geburt. Beide strahlten sich einfach an und lächelten. »Mami.« »Ja, das bin ich. Und du bist mein Engel. Und Papa wird auch bald da sein. Dann wird alles gut!«

      Grete hatte alles um sich herum ausgeblendet. Als sie nun wieder einen Blick für ihre Umgebung hatte, bemerkte sie, wie befremdlich ihr Verhalten auf die anderen Bewohner gewirkt haben musste. Sie waren hier im Viehstall eingesperrt, russische Soldaten mit Gewehren vor der Tür. Einige der Arbeiter wiesen Verletzungen auf. Pepe, einer der Stallburschen, hatte augenscheinlich eine Schussverletzung erlitten. Mehrere Frauen hatten Schrammen im Gesicht, eine gar ein übles Hämatom am linken Auge. Der Krieg hatte Mark Brandenburg und ihren Hof erreicht und sie sprach mit ihrer Tochter über die rosige Zukunft einer heilen Familie.

      Plötzlich bemerkte sie, dass sie ihren Koffer nicht mitgenommen hatte. Bevor sie allerdings wieder hinaus gehen wollte, fragte sie ihre Mutter nach allen Familienmitgliedern. Sie vermisste Marie und ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Ihre Mutter versicherte ihr, dass es Marie gut ginge. Sie wurde von den Soldaten damit beauftragt, sich weiterhin um die ganzen Kinder des Hofes zu kümmern. Im Gegensatz zu den anderen Frauen auf dem Hof genoss sie ein erträgliches Leben hier. Die meisten mussten in aller Frühe die Kühe melken und Arbeit auf dem Feld verrichten. Niemand aus ihrer eigenen Familie war ernsthaft verletzt. Nur ihr Vater war den Anstrengungen seiner ungewohnt harten Arbeiten kaum gewachsen, versuchte aber sein Bestes, um durchzuhalten.

      Ilse sah mit Schrecken, dass ihre Mutter aufstand und sprang sofort hoch. »Keine Angst, Kleines. Ich hole nur meinen Koffer. Bin gleich wieder da. Für dich habe ich ein Geschenk mitgebracht.« Ein Strahlen machte sich auf dem Gesicht des Kindes breit und erwartungsvoll nahm sie wieder auf dem Strohballen Platz. Zwischenzeitlich war es spät geworden und die Augen gewöhnten sich nur schwerfällig an die Dunkelheit. Der Wachposten hob gleich aufmerksam sein Gewehr, als Grete durch das Tor kam. Sie sah dem älteren Mann freundlich in die Augen und sagte »Koffer«. Gleichzeitig malte sie mit den Händen die Umrisse ihres großen Koffers in der Luft nach, in der Hoffnung, er würde ihr Anliegen verstehen. Sein Gesichtsausdruck ließ es nicht erkennen.

      Also ging sie schließlich zielstrebig, wenn auch vorsichtig, auf die Stelle zu, wo sie dachte, ihren Koffer abgestellt zu haben. Nichts. Sie sah sich um und rief noch einmal dem Soldaten zu: »Koffer?« Wieder malten ihre Hände einen Koffer in die Luft. Bis sie schließlich seitlich, an der Außenwand der Scheune ihren geöffneten Koffer liegen sah. Wütend bemerkte sie, dass der komplette Inhalt wohl ausgeschüttet, durchsucht, und am Ende wieder lieblos hineingeworfen worden war. Gleich wich ihre Wut einer Angst. Angst, dass man ihr Geld gefunden hatte, das sie so fein säuberlich in das Futter eingenäht hatte. Sicher nicht die ausgefallenste Idee. Ihre Befürchtung bestätigte sich. Das Futter war aufgeschnitten und ihr mühsam erspartes Geld war weg. Am liebsten hätte sie vor lauter Wut geschrien und wäre dem Verbrecher an den Hals gesprungen.

      Sie wusste, dass es nicht hilfreich sein würde, hier und jetzt ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Schließlich tröstete sie sich damit, dass sie den größten Teil des Geldes noch an ihrem Körper trug. Am besten wäre es wohl, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten und auf eine Chance zu warten, mit ihrer Familie fliehen zu können.

      Ihr Blick ging weiter umher, bis sie im Schneematsch auch den kleinen roten Koffer fand, der den schönen, grünen Schal enthielt, den sie für Ilse gestrickt hatte. Mühsam schleppte sie den großen Koffer in die Scheune und holte anschließend auch den kleinen. Ilse musste die Augen schließen. Vor wenigen Tagen hatte die Kleine ihren 3. Geburtstag und nun endlich konnte Grete ihr das Geschenk überreichen. Schon beim Anblick des roten Koffers war Ilse sofort verliebt. Sie wollte ihn gar nicht mehr weglegen. Ging damit in der Scheune umher, so dass sich schließlich auch die anderen Familien ein Lächeln nicht verkneifen konnten und sich mit ihr freuten. Selbst angesichts der Tatsache, dass ein Koffer in diesen Tagen nicht unbedingt ein Freudenzeichen bedeutete. Doch alle genossen die Unbeschwertheit dieses hübschen Mädchens. Der Schal, den sie schließlich noch darin fand, war nur noch ein nettes Beiwerk.

      Irgendwann am Abend kam ihr Vater in die Scheune. Erschöpft sah er aus. Schon einmal hatte er einen Krieg miterlebt. War in Gefangenschaft geraten und hatte schwer verletzt überlebt. Er war froh, dass der Gutsherr ihm auf diesem Hof solch eine erträgliche Arbeit und ein gutes Zuhause für seine Familie gegeben hatte. Was mit dem Gutsherrn und seiner Familie geschehen war, wusste er nicht. Die russischen Soldaten hatten sie nach der Belagerung des Hofes mit dem Auto weggebracht. Er versuchte, die Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Immer hatte er dafür gebetet, nicht noch einmal einen Krieg erleben zu müssen. Um sich selbst sorgte er sich nicht. Zu viel hatte er schon überstanden. Aber um seine Familie machte er sich große Sorgen. Bis auf Ida waren nun Gott sei Dank alle hier um ihn vereint. Die Kinder schliefen bereits im Schutz der Strohballen auf den wenigen Decken, die sie ergattern konnten.

      Schließlich erschien auch Marie und schloss ihre Schwester dankbar in die Arme. Bevor auch die Erwachsenen ihr Lager auf den Strohballen errichteten, saßen sie eng beieinander,