Anja Kuemski

Summer of 86


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sich aufgenommen hatte, war einerseits ein Segen gewesen, aber andererseits auch ein ständiger Quell neuer Probleme. Nicht zuletzt deshalb, weil Schücking große Erinnerungslücken und eine wahrscheinlich grauenvolle Kindheit hinter sich hatte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Stadt offenbar von hundsköpfigen Wesen untertunnelt wurde. Und niemand wusste, ob Schücking sich nicht eines Tages in ein solches Wesen verwandeln würde. Die Alternative war, dass sie beide längst den Verstand verloren hatten und sich diese ganze Sache mit den hundeartigen Ghulen nur einbildeten.

      Kattenstroth war sich nicht einmal sicher, welche Variante ihm lieber gewesen wäre.

       *

      »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein gestörtes Verhältnis zu Hunden entwickeln würde«, klagte Kattenstroth und wartete hinter dem Gartenzaun, bis die Nachbarin mit der sabbernden Dogge um die nächste Straßenecke verschwunden war.

      »Das liegt sicher an Ihrer ersten Begegnung mit einem Hundskopf in unserem Garten neulich«, meinte Schücking und hielt ihm geduldig die Gartenpforte auf.

      »Ach, wirklich?«

      »Ich gebe zu, der Anblick war alles andere als ermutigend. Zu wissen, dass diese Kreaturen unter uns leben, buchstäblich, kann einem schon mal den Schweiß auf die Stirn treiben.«

      »Ich finde es ehrlich gesagt noch deutlich beängstigender, dass Sie behauptet haben, Sie würden sich eines Tages in ein solches Wesen verwandeln.«

      Kattenstroth hatte das Wesen, welches Schücking als Ghul oder Hundskopf bezeichnet hatte, nur kurz gesehen, aber das hatte ausgereicht, um ihn in Panik zu versetzen und nur noch mehr Albträume zu bescheren. Er hatte diese Kreaturen für Fabelwesen aus Horrorromanen gehalten. Wieso wusste der Rest der Welt denn offenbar nichts von deren Existenz?

      Und die Vorstellung, sein Mitbewohner könne eines Morgens am Frühstückstisch anfangen zu jaulen und ihn mit Geifer am Mund gierig über den Rand der Zeitung anstarren, war gelinde gesagt verstörend. Der Albtraum letzte Nacht war sicher nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was ihn erwartete.

      »Wollen Sie noch eine Weile warten, ob die Dogge zurückkommt, oder können wir jetzt ins Café gehen?«

      Kattenstroth musterte Schücking skeptisch.

      »Sie sind echt ein Phänomen. Erst eröffnen Sie mir eher so nebenbei, dass Sie, ebenso wie Ihr Vater, irgendwann zu so einem …«, er ruderte mit den Armen in der Luft herum, auf der Suche nach einem passenden Wort, »zu so einem Wesen mutieren werden und dann verlieren Sie tagelang kein Wort mehr darüber, als wäre nie etwas gewesen.«

      Schücking blickte etwas verloren auf seine handgefertigten Lederhandschuhe.

      »Ich hatte gehofft, wenn ich es nicht mehr erwähne, dann geht es Ihnen besser. Ich höre, dass Sie schlecht schlafen, seit der Ghul in unserem Garten aufgetaucht ist.«

      Kattenstroth hätte wissen müssen, dass seinem Mitbewohner die Albträume nicht verborgen blieben. Schücking war ein sehr aufmerksamer Beobachter.

      »Wie viele von denen mag es denn wohl geben in der Gegend?«

      Schücking zuckte mit den Schultern.

      »Schwer zu sagen. Ich erinnere mich, dass jemand mal sagte, dass sie in Rudeln leben, mehr weiß ich nicht.«

      »Jemand? Etwa die Stimme, die Sie manchmal in Ihrem Kopf hören?«

      Schücking blieb stehen und dachte einen Moment darüber nach, dann nickte er langsam.

      »Ja, könnte sein. Aber ich habe auch eine bildliche Vorstellung davon. Ist sehr vage und verschwommen.«

      »Ich weiß genau, was Sie meinen.«

      Seit dem Albtraum letzte Nacht fühlte Kattenstroth sich von Bildern verfolgt, die er nicht einordnen konnte. Er musste mal als Kind einen Horrorfilm mit ähnlichen Kreaturen gesehen haben. Damals in den 70ern gab es ja jede Menge schlechter Filme dieser Art. Dass Schücking manchmal der Zugriff auf die Realität entglitt, damit hatten sie sich beinahe schon abgefunden, aber dass es ihm nun hin und wieder auch so ging, war beängstigend.

      »Wollen Sie lieber wieder nach Hause gehen?«, fragte Schücking.

      Kattenstroth schüttelte vehement den Kopf.

      »Etwas Bewegung macht vielleicht den Schädel frei.«

      Sie setzten ihren Weg zum Café in der Hagenbruchstraße fort.

      Aber Kattenstroth konnte das Thema einfach nicht abhaken. Da Schücking offenbar nicht von allein darüber reden würde, musste er eben nachfragen, bis er etwas mehr verstand, was um sie herum vor sich ging.

      »Das war nicht Ihre erste Begegnung mit diesen Ghulen, oder?«

      »Ich war mir eine Weile nicht sicher, deshalb habe ich nichts gesagt. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass ich welche mit meinem Vater zusammen gesehen habe, als ich noch sehr klein war.«

      Kattenstroth wusste nicht, ob es klug war, beim Stichwort Vater nachzuhaken. Aber wenn der alte Mann zu einem Ghul mutierte und Schücking das auch irgendwann tat, musste er mehr wissen.

      Er öffnete die Tür des Cafés und hielt sie Schücking auf. Sie suchten sich einen Tisch aus, an dem sie in Ruhe ihr Gespräch fortsetzen konnten.

      Von ihrem Haus in der Lessingstraße bis hierher war es ein angenehmer, kurzer Spaziergang, den sie inzwischen regelmäßig unternahmen. Da Kattenstroth nur stundenweise arbeitete und Schückings Arbeit seiner Meinung nach ziemlich obskur war und ihn selten zwang, das Haus zu verlassen, fiel ihnen daheim oft die Decke auf den Kopf. Anfangs hatte Kattenstroth gedacht, er würde sich eingeengt fühlen. Schücking konnte sehr anstrengend sein. Aber erstaunlicherweise kamen sie sehr gut miteinander aus. Er hatte sich an das Leben in ihrer Zweier-WG gewöhnt. Sofern nicht gerade Ghule durch den Garten schlichen.

      »Ihre Nichte Alina hat mir gesagt, Ihr Vater lebe in einem Altenheim. Stimmt das denn nicht?«, fragte Kattenstroth, nachdem sie sich am Frühstücksbuffet bedient und Getränke bestellt hatten.

      »Doch, doch. Nun, gewissermaßen. Es ist ein extrem teures und sehr privates Pflegeheim.«

      »Und ist er jetzt ein …« Kattenstroth wedelte mit den Händen in der Luft herum. Er konnte das Wort nicht laut aussprechen, weil es das noch viel realer gemacht hätte.

      »Ist er. Nicht gänzlich natürlich. Ich glaube nicht, dass die Pflegekräfte bereit wären, sich um ihn zu kümmern wenn sie einen richtigen Ghul betreuen sollten. Egal, wie viel man ihnen bezahlt. Mal abgesehen davon, dass es zu Verletzungen und Todesfällen kommen würde.«

      »Die fallen Menschen an?«

      »Wenn sie sich stark genug fühlen, im Rudel, ja.«

      »Aber Ihr Vater ist schon alt, über 80.«

      »Und weil er kein reiner Ghul ist, hat sein Gehirn die Verwandlung nicht gut verkraftet. Er hat den Verstand eines Hefepilzes.«

      Kattenstroth musterte Schücking besorgt. Der lachte amüsiert auf.

      »Was? Denken Sie, ich werde mich gleich hier zwischen Rührei und Käsebrötchen verwandeln wie der Hulk?«

      »Ich hoffe nicht.«

      »Nein, diese Veränderungen gehen sehr, sehr langsam vor sich.«

      »Heißt das, Ihr Vater ist das Ergebnis einer Paarung von Mensch und …?«

      »Das heißt es.«

      »Demzufolge wären Sie aber dann nur zu einem Viertel …?«

      »Ich sehe, Sie klammern sich an dasselbe Fünkchen Hoffnung wie ich.«

      Kattenstroth nickte nachdenklich und blickte aus dem Fenster. Zwei Straßen weiter war noch immer das Sam’s, da hatte er früher viel Zeit mit seinen Kumpels verbracht.

      Aus den Lautsprechern dudelte leise ein Lied, das eine Coverversion eines älteren Hits war. Er dachte darüber nach, kam aber nicht drauf.