Anja Kuemski

Summer of 86


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an und stand sofort auf. Er ging zum Sekretär und holte den Laptop.

      »Im Kino liefen: Männer, Momo und Tod eines Handlungsreisenden.« Schücking stutzte kurz und starrte auf den Laptop, dann räusperte er sich und suchte weiter. » In den Charts standen Songs wie A Question Of Lust von Depeche Mode, Lessons In Love von Level 42, Venus von Bananarama. Hier ist ein Link, wollen Sie sich die Sachen anhören?«

      »Unbedingt.« Kattenstroth lehnte sich zurück, schloss die Augen und hörte eine Weile zu. Die alten Sachen transportierten ihn sofort zurück in seine Teenagerjahre. Die meisten Songs erkannte er schon nach wenigen Tönen, aber die Interpreten wollten ihm oft nicht einfallen. Er öffnete ein Auge und warf einen Blick auf Schücking, der amüsiert die Kommentare zu den Videos las.

      »Kommt Ihnen das auch alles bekannt vor?«

      »Ich habe etwas zurückgezogen gelebt, nicht in einer fernen Galaxie, mein lieber Kattenstroth.«

      »Von wem war das noch mal?«, fragte er, als der nächste Song anfing. Klassischer Synthie-Pop. Er erwartete geradezu, den Nicht-Gesang von Dieter Bohlen zu hören. Stattdessen setzte eine dünne weibliche Stimme ein. “Hätte ich eher Modern Talking zugeschrieben”, murmelte er.

      »Das ist nicht ganz verkehrt. Das wurde von Herrn Bohlen produziert. Der Name der Sängerin lautet CC Catch«, murmelte er und runzelte die Stirn. Kattenstroth hatte ebenfalls das Gefühl, da wäre eine Erinnerung mit verbunden.

      »Warten Sie. CC Catch?«

      Irritiert schaute Schücking ihn an.

      »Dass ausgerechnet diese Musik Sie triggert, wundert mich jetzt aber doch ziemlich.«

      »Tut sie nicht. Nur der Name. Da war was. CC …, Sissi.«

      »Die österreichische Kaiserin?«

       »Nein. Da war dieser Junge …« Kattenstroth starrte Schücking mit weit aufgerissenen Augen an. »Jesus, Maria und Josef! Sie sind Sissi!«

      2. A Kind of Magic

       Juli 1986

      »Henner, kannst du mal eben noch den Anzug von Familie Böckmann abholen? Ich will gleich anfangen, den Großvater herzurichten.«

      Alma Kattenstroth wartete gar nicht erst, bis Johannes mit beiden Füßen im Geschäft stand, da hagelte es schon Aufträge.

      »Mama, kann ich bitte erst mal was essen?«

      »Ja ja. Aber wenn du den Anzug abgeholt hast, kannst du dann auch gleich zum Friedhof fahren, zum Grab von Brindöpke? Ich glaube, dem Floristen ist ein Fehler bei einem der Kränze unterlaufen. Guck mal, was auf der Schleife steht. Ich glaube, die haben Brindöpke mit zwei p geschrieben. Da ist heute Nachmittag die Trauerfeier, das wäre doch zu peinlich.«

      Johannes stöhnte auf und schlurfte mit hängenden Schultern durch den Ausstellungsraum mit den Särgen nach hinten in den Wohnbereich des Hauses Kattenstroth.

      »Und so was nennt sich dann Sommerferien«, maulte er.

      »Was hast du gesagt?«

      Sein Vater kam mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Aufbahrungsraum und steckte sich eine Zigarette an.

      »Bist du schon vom Friedhof zurück? Wo ist der Anzug für Opa Böckmann?«

      Johannes richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schaute seine Eltern vorwurfsvoll an.

      »Heute fangen die Sommerferien an. Ich hatte soeben meinen letzten Schultag. Für immer. Wäre es möglich, dass ich davon auch was habe?«

      Die Eltern tauschten einen erstaunten Blick.

      »Aber natürlich, Junge. Wieso denn nicht? Du sollst doch nur eben …«, begann die Mutter.

      »… den Anzug holen und zum Friedhof radeln. Genau. Und wenn ich damit fertig bin, fällt euch noch was Neues ein, was ich mal eben schnell erledigen könnte. Ich habe Ferien!«

      »Mit anderen Worten, du willst die ganzen sechs Wochen auf der faulen Haut liegen und bis mittags pennen?«, fragte der Vater kopfschüttelnd.

      »Ach, lass mal den Jungen, Alwin. Nach den Ferien fängt ja der Ernst des Lebens für ihn an. Obwohl ich es besser gefunden hätte, wenn er noch aufs Gymnasium gewechselt wäre. Mit dem Abitur kann man doch viel mehr anfangen.«

      »Wozu braucht der Junge denn Abitur? Der wird ab sofort Bestatter und übernimmt mal den Laden.«

      »Oh, Laden ist ein gutes Stichwort. Wenn du vom Friedhof kommst, könntest du da eben noch schnell in den Laden springen und …«, begann die Mutter, wurde dann aber von Säuglingsgeschrei unterbrochen. Seufzend legte sie die Kladde auf dem Tisch ab, in der sämtliche Termine vermerkt wurden, und begab sich hinauf ins Kinderzimmer.

      Johannes dankte seiner kleinen Schwester im Geiste für das gute Timing und warf sich seinen Rucksack wieder über die Schulter. »Anzug und Friedhof. Danach habe ich Ferien.«

      Er verschwand aus dem Haus, bevor dem Vater noch weitere Botengänge einfielen, die der Junge doch mal eben schnell erledigen konnte. Er hasste diese Formulierung. Alles war immer nur mal eben schnell zu erledigen. Dass in der Summe von ganz viel ‘nur mal eben schnell' gar nichts mehr mal eben und erst recht nicht schnell war, sahen sie natürlich nicht ein. Dann hieß es wieder, er sei einfach faul und würde sich noch umgucken, wenn er erst einmal erwachsen wäre und selber eines Tages das Bestattungsunternehmen führte.

      Johannes hatte nie einen einzigen Gedanken daran verschwendet, das nicht zu tun. Weder er selbst noch irgendjemand sonst hatte je angezweifelt, dass er die lange Familientradition fortsetzen würde. Wer sonst hätte es auch tun sollen? Aber nun hatte er eine Schwester bekommen. Sehr überraschend für die ganze Familie war Alma Kattenstroth mit 40 noch einmal Mutter geworden. Das hatte den Haushalt ziemlich auf den Kopf gestellt und Johannes hatte deutlich mehr Pflichten übernehmen müssen, als zuvor abgesprochen. Klein Kerstin war ein lautes Kind, daher war er nicht böse, wenn diese Pflichten ihn aus dem Haus führten. Aber Johannes war sechzehn. Und da hatte man nun mal andere Interessen, als unbezahlter Handlanger für einen Bestatter zu sein, erst recht, wenn es sich um den eigenen Vater handelte.

      Johannes radelte zuerst zum Sennefriedhof, um sich diesen dämlichen Kranz mit Schreibfehler auf der Schleife anzuschauen. Er malte sich aus, wie der teure Verblichene aus dem Grab stieg und vehement protestierte, dass das ja gar nicht sein korrekter Name sei und er von Rechts wegen also noch leben müsste. Solche schrägen Ideen würde er sich in Zukunft wohl besser verkneifen.

      Die Wahrheit war, dass Johannes sich noch nicht bereit dafür fühlte, ab sofort Bestatter zu werden. Er hatte seit ein paar Tagen ernsthaft erwogen, doch noch auf das Gymnasium zu wechseln und Abitur zu machen, einfach, um Zeit zu schinden. Das Erwachsenwerden kam auf einmal sehr plötzlich. Dabei hatte er sich doch noch gar nicht richtig ausgetobt. Offenbar gingen seine Eltern davon aus, dass er in den nächsten Wochen von einem kiffenden Teenager zu einem seriösen Bestatter mutierte. Johannes sah das nicht so.

      Er parkte sein Fahrrad am Eingang des Friedhofs und schloss es ab. Eilig bewegte er sich durch die Reihen der Gräber bis zu einer frisch ausgehobenen Grabstätte, um die herum bereits zahlreiche Kränze ausgelegt waren. Er ging einen nach dem anderen durch und las die kurzen Grußworte auf den Schleifen. Kein einziger Schreibfehler. Was auch immer seine Mutter da zu sehen geglaubt hatte, hier war kein Fehler zu entdecken. Na toll. Den Weg hätte er sich sparen können.

      Ein lautes Rascheln und Fiepen ließ ihn herumfahren. Auf jedem Friedhof gab es eine Menge Getier, aber er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, seinen zukünftigen Arbeitsplatz mit Ratten teilen zu müssen.

      Wieder raschelte es. Das Fiepen ging in ein leises Wimmern oder Jaulen über. Definitiv keine Ratte. Zögernd machte Johannes ein paar Schritte in die Richtung, aus der er die Geräusche vernommen hatte, und blickte sich nach allen Seiten um. Aber es war niemand zu sehen außer ihm und einem Jungen im dunklen Anzug,