Anja Kuemski

Summer of 86


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hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht und das Radio eingeschaltet. Aber seit Mel Sondocks Hitparade nicht mehr kam, war der Mittwochabend musikalisch betrachtet eine echte Nullnummer geworden. Als Ersatz hatte er BFBS Radio 1 auserkoren, aber es war einfach nicht dasselbe. Er hätte hinunter ins Wohnzimmer gehen können, um sich gemeinsam mit seinem Vater Die Profis anzuschauen, die sah er eigentlich ganz gerne, wenn sein Vater nicht bei jeder Actionszene gemeckert hätte, wie brutal und unrealistisch das doch alles wäre. Schlimmer war es eigentlich nur, mit der Mutter Dallas zu gucken. Nein, dazu war er nicht in der Stimmung.

      Im Radio wurde Underground von David Bowie gespielt und seine Laune besserte sich sofort erheblich. Ausgerechnet da fing der Sender an zu rauschen und zu knistern.

      Genervt rollte sich Johannes auf die Seite und fing an, am Sendersuchlauf herumzudrehen. Aber je feiner er justierte, desto seltsamer wurden die Verzerrungen. Jaulen, Krächzen und Fiepen war zu hören, beinahe so, wie die Geräusche auf dem Friedhof am Nachmittag. Johannes stand auf und öffnete das Fenster, um zu hören, ob das vielleicht von draußen kam. Aber außer dem normalen Straßenlärm war da nichts. Das Jaulen und Fiepen kam eindeutig aus dem Radio. Vielleicht lag das Problem beim Sender. Er würde abwarten, ob der Moderator etwas dazu sagte.

       Als das Lied endete, hörten abrupt auch die Störungen auf. Musste wohl an der Schallplatte im Sender gelegen haben. Warum dasselbe Geräusch auf dem Friedhof und im Sender der britischen Streitkräfte auftauchen sollte, hinterfragte er nicht. Dazu kiffte er zu oft. Mit einem schiefen Grinsen blickte er auf den Joint, der im Aschenbecher neben dem Bett vor sich hin qualmte.

      3. Boys Don't Cry

      Als Clemens am späten Nachmittag das Wohnzimmer betrat, machte Annette einen erneuten Versuch.

      »Wie wäre es mit Kino?«

      Sie hatte die Tageszeitung auf dem Couchtisch ausgebreitet und deutete einladend auf das halbseitige Kinoprogramm.

      »Aber sicher, wenn ich den Film aussuchen darf?«

      »Gern.« Sie strahlte ihn an.

      Mit frechem Grinsen deutete er auf das Bild einer barbusigen Frau, der man trotz einer Übermenge an Druckerschwärze die schlecht gespielte Ekstase deutlich ansah.

      »Club Intim.«

      Annette verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.

      »Und was, wenn ich das durchziehe? Ich bin volljährig. In meiner Begleitung darf der kleine Clemens in den Erotikfilm. Was würdest du dann machen, hm?«

      Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie legte nachdenklich den Kopf schief.

      »Oder ist das als Informationsveranstaltung gedacht? Müssen wir ein Aufklärungsgespräch führen? Soll ich dir eine BRAVO kaufen?«

      Clemens reagierte darauf gar nicht erst. Weder interessierte ihn der billige Sexfilm noch das Zentralorgan seiner pickeligen Klassenkameraden. Er überflog die anderen Filme. Momo, Männer, Asterix. Nein, nein, nein. Für so etwas würde er keine sieben Mark Eintritt ausgeben. Tod eines Handlungsreisenden. Er hatte darüber gelesen. Nicht, dass er viel übrig hatte für dröge Literaturverfilmungen, aber er hatte eine kaum eingestandene Schwäche für John Malkovich, seit er ihn in Killing Fields gesehen hatte. Was er seiner Schwester gegenüber aber niemals zugeben würde. Er wusste selber nicht genau, was das bedeutete. Wahrscheinlich gar nichts. Manchmal mochte man eben einen Schauspieler oder Musiker. Er mochte schließlich auch David Bowie, ohne dass das irgendwie anrüchig gewesen wäre. Ihm war durchaus bewusst, dass Bowie lange den Ruf als Elternschreck besessen hatte. Nicht bei ihnen zu Hause allerdings. Da gab es andere Schrecken.

      »Wie wäre es mit Indiana Jones und das Geheimnis des verborgenen Tempels?«, schlug Annette vor. »Oder lieber E.T.? Außerirdische sind doch vielleicht eher dein Geschmack. Stehen 16-jährige Jungs nicht auf Science Fiction?«

      »Science Fiction? Annette, das ist ein Kinderfilm«, sagte er entgeistert. »Du solltest mal was für deine Bildung tun und dir die Literaturverfilmung von Arthur Miller anschauen.«

      Annette warf erwartungsgemäß einen skeptischen Blick auf das Kinoprogramm.

      »Nee, das klingt dröge. Willst du das etwa gucken?«

      »Wir können uns ja offenbar nicht auf einen Film einigen. Damit ist das Thema wohl erledigt, oder?«

      Er faltete die Zeitung zusammen, nicht jedoch, ohne sich vorher noch einmal zu vergewissern, wann der Film anfing. Er hatte keine Probleme damit, allein ins Kino zu gehen. Dann musste er den Film hinterher wenigstens nicht noch in allen Einzelheiten besprechen. Er konnte es nicht leiden, wenn alles und jeder immer bis ins letzte Detail analysiert werden musste. Manche Dinge waren viel besser im Verborgenen aufgehoben.

      Um kurz vor acht stand Clemens an der Kasse des Movie und kaufte ein Ticket. Der Andrang war mäßig, ganz wie er erwartet hatte.

      »Ach nee, dafür hat der Streber Zeit? Muss er denn nicht lernen?«, fragte eine spöttische Stimme hinter ihm.

      Clemens erkannte die Stimme und wusste sofort, dass nur er gemeint sein konnte. Er überlegte, ob es klüger wäre, so zu tun, als fühle er sich nicht angesprochen, aber das war erfahrungsgemäß kein probates Mittel, um diesen Vollidioten loszuwerden. Den besorgten Blick der Kartenverkäuferin quittierte er mit einem beruhigenden Lächeln, dann drehte er sich aufreizend langsam um. Mit ironisch hochgezogener Augenbraue musterte er seinen Widersacher, der mit seiner hellblauen Bundfaltenjeans und einem türkisfarbenem Jackett eine absolut lächerliche Figur machte.

      »Meinhard, du hier? Guckst du dir den Film an, um hinterher behaupten zu können, du hättest das Buch gelesen?«

      Die beiden Begleiterinnen seines Klassenkameraden schnappten hörbar nach Luft. Clemens kannte sie nicht, nahm aber an, dass sie eher wegen John Malkovich als wegen Meinhard hier waren, denn sie rückten ein Stück von ihm ab, wohl in der Annahme, dass es eine Schlägerei geben würde. Clemens quittierte das mit einem Grinsen.

      »Da geht er hin, dein weiblicher Schutzschild. Es reicht eben nicht, eine Frau ins Kino einzuladen, damit sie sich schützend vor dich stellt, Meinhard.«

      »Mach dich nicht lächerlich, du Psycho.«

      Clemens rollte übertrieben mit den Augen.

      »Lass dir mal was Neues einfallen. Deine Platte hat einen Sprung.«

      »Stimmt doch. Du bist krank im Kopf. Man hätte dich von der Schule schmeißen müssen, du bist gemeingefährlich. Stattdessen versetzen sie dich sogar, obwohl du fast das komplette Schuljahr nicht da warst. Wen hat dein Alter denn geschmiert dafür?«

      Auch das überging Clemens kommentarlos. Dass sein Vater inzwischen in einer privaten Pflegeeinrichtung lebte, sollte ja niemand wissen. Dass ihm unterstellt wurde, er habe seine Versetzung gekauft, störte ihn weniger. Er wusste ja, dass es nicht stimmte.

      Inzwischen hatte sich ein kleiner Kreis aus Neugierigen um sie herum versammelt. Die männlichen Kinobesucher sahen so aus, als seien sie freudig überrascht, dass der Besuch eines langweiligen Intellektuellenfilms, in den ihre Freundinnen sie unbedingt mitschleppen wollten, sich vielleicht doch noch als unterhaltsam erweisen könnte. Clemens hatte nicht die Absicht, es zu einer Schlägerei kommen zu lassen. Aber er wusste, dass Meinhard das auch unter allen Umständen vermeiden würde.

      »Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen?«, spottete Meinhard und blickte sich Beifall heischend um. »Müssen die Männer mit der Zwangsjacke kommen, um dich abzuholen? Da hinten ist eine Telefonzelle, ich kann sie anrufen. Das wäre mir glatt drei Groschen wert.«

      Clemens wusste, dass sein beharrliches Schweigen von allen Anwesenden als Schwäche ausgelegt wurde. Er selbst betrachtete es jedoch als seine größte Stärke. Nichts zu sagen, würde Meinhard irgendwann zu einer unüberlegten Reaktion verleiten, mit der er die Zuschauer gegen sich aufbrachte. Sie würden Clemens das Problem vom Hals schaffen, ohne dass er