Anja Kuemski

Summer of 86


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Johannes schaute schnell zu dem Jungen hin, aber der hatte sich nicht bewegt. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten zwischen den Büschen verschwinden, die um eines der großen Familiengräber gepflanzt waren. Johannes umrundete den Grabstein. Vor kurzem hatte offenbar jemand frische Blumen abgelegt, die nun zertrampelt waren. In der aufgewühlten Erde konnte Johannes Abdrücke von Tierpfoten erkennen. Er vermutete, ein Hund habe das angerichtet, was immerhin zum Jaulen und Fiepen passte. Obwohl die Abdrücke eher wie Hufe und nicht wie Pfoten aussahen. Ziegen? Wohl kaum.

      Er warf einen letzten Blick zu dem anderen Jungen hinüber und stellte fest, dass dieser ihn anstarrte. Allerdings war sich Johannes nicht sicher, ob auf dem Gesicht des Jungen eher Ablehnung oder Sorge zu erkennen war. Merkwürdig. Sollte er ihn ansprechen? Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er noch den Anzug abholen musste und anschließend verabredet war. Immerhin waren doch Ferien! Er würde möglichst viel Zeit mit Mareike verbringen. Die Aussicht, sechs Wochen lang mit seiner Freundin Freizeitaktivitäten unternehmen zu können, ließ ihn breit grinsen. Das würden großartige Ferien werden. Er zwinkerte dem anderen Jungen fröhlich zu und machte sich auf dem Weg zu seinem Fahrrad.

      *

      »Wie war der letzte Schultag?«

      Annette Schücking blickte ihren Bruder skeptisch an, als er seine Ledermappe sorgfältig auf dem Küchenstuhl abstellte und sich dann daran machte, Kaffee zu kochen.

      »Wie immer. Musst du nicht arbeiten?«

      »Oh, was für eine nette Begrüßung. Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie sehr man vom eigenen Bruder geschätzt wird.«

      Clemens stellte die Dose mit dem Kaffeepulver unnötig geräuschvoll auf der Anrichte ab und drehte sich zu seiner Schwester um.

      »Führt dieses Geschwafel noch zu irgendetwas? Willst du etwas von mir?«

      »Warst du auf dem Friedhof?«

      »Wieso fragst du?«

      Annette seufzte, wie es nur ältere Schwestern konnten, bevor sie ihren jüngeren Brüdern einen Vortrag hielten, um den diese nicht gebeten hatten.

      »Schau, Clemens, ich verstehe ja, dass du um Mama trauerst. Aber du musst dich wirklich nicht verpflichtet fühlen, jeden Tag an ihr Grab zu gehen. Sie würde es dir nicht verübeln, wenn du nicht jeden Tag kommst.«

      »Woher weißt du das? Plaudert ihr manchmal nett miteinander?«

      »Sei nicht albern, Clemens. Ich will dir doch nur helfen.«

      Er hätte ihr gern an den Kopf geworfen, dass er ihre Hilfe weder brauchte noch wollte. Aber das stimmte nicht. Sie war sein Vormund. Wenn es seiner Schwester mit ihm zu bunt wurde, dann konnte sie dafür sorgen, dass er in ein Heim kam. Das musste er unter allen Umständen verhindern. Also gab er sich zerknirscht und ließ die Schultern hängen.

      »Ich weiß. Aber ich habe das Gefühl, ich vergesse sie viel zu schnell.«

      »Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Das ist normal. Du bist erst sechzehn. Mama würde wollen, dass du nach vorn schaust und dein eigenes Leben lebst.«

      »Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagte er halbherzig. Ihr zuzustimmen war erfahrungsgemäß der schnellste Weg, sie loszuwerden.

      Er goss sich eine Tasse Kaffee ein, räumte alle Utensilien wieder weg und putzte über die Anrichte. Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass Annette ihn kopfschüttelnd beobachtete. Was konnte er dafür, dass andere Jungs in seinem Alter schlampig und unordentlich waren? Er bevorzugte es, alles beim nächsten Mal wieder so vorzufinden, wie es sein sollte.

      Mit seinem Kaffee in der Hand wollte er die Küche verlassen, aber Annette war noch nicht fertig.

      »Du willst doch nicht die ganzen Sommerferien in deinem Zimmer verbringen, oder?«

      »Hatte ich nicht gerade eben erwähnt, dass ich nach der Schule auf dem Friedhof war?«

      »Ich meinte, außer dem Friedhof. Was machen denn die anderen Jungs aus deiner Klasse so in den Ferien?«

      »Woher soll ich das wissen?«

      »Habt ihr euch nicht darüber unterhalten?«

      Dieses Mal war es an Clemens, schicksalsergeben zu seufzen.

      »Annette, wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich gehöre nicht gerade zum erlauchten Kreis meines Jahrgangs. Niemand erzählt mir, was er oder sie im Urlaub macht. Und um ehrlich zu sein, bin ich echt froh darüber, denn es interessiert mich nicht die Bohne.«

      »Ach komm, es wird doch wohl irgendjemanden in deinem Jahrgang geben, mit dem du redest.«

      Clemens zuckte mit den Schultern. Es störte ihn nur äußerst selten, als verschrobener Außenseiter zu gelten. Meistens hatte er mit den Interessen seiner Mitschüler ohnehin nichts gemeinsam. Und sie waren allesamt viel zu neugierig. Es reichte schon, wenn Annette ihn ständig löcherte, das musste er nicht auch noch in der Schule haben.

      »Was ist denn mit dem netten Jungen von den Füchtenschnieders? Mit dem hast du dich doch immer ganz gut verstanden, oder nicht?«

      Clemens starrte seine Schwester fassungslos an. Wie konnte sie so zielsicher bloß jedes Fettnäpfchen finden?

      »Meinhard und ich gehen uns aus dem Weg«, sagte er kurz angebunden.

      »Aber warum denn?«

      »Das ist meine Sache. Sonst noch was?«

      Annette schien ernsthaft darüber nachzudenken.

      »Ich nehme an, es wäre meine Pflicht, die Frage nach deinem Zeugnis zu stellen. Aber ich weiß, dass du ausgezeichnete Noten bekommen hast, also spare ich mir das.«

      Clemens wartete wortlos ab, wohin das führen würde.

      »Du hast doch ausgezeichnete Noten bekommen, nicht wahr?« Sie wirkte ein wenig besorgt. »Diese ganze Sache mit dem verlorenen Schuljahr, die spielt keine Rolle mehr, richtig?«

      Wortlos öffnete Clemens seine Ledermappe, holte das Zeugnis heraus und reichte es seiner Schwester. Sie überflog es rasch und atmete erleichtert aus.

      »Dein Vertrauen in meine geistigen Kapazitäten ist doch nicht so groß, was?« Er steckte das Zeugnis wieder ein.

      »Niemand würde dir einen Vorwurf machen, wenn du nach dieser …«, sie machte eine allumfassende Geste, »nach dieser Sache mal einen Durchhänger hättest.«

      »Doch, ich. Annette. Ich würde mir einen Vorwurf machen. Außerdem verblödet man nicht, nur weil man trauert.«

      »Aber man ist abgelenkt.«

      Clemens wusste nicht, wie er seiner Schwester verständlich machen sollte, dass sein Gehirn so nicht funktionierte. Dass es in seinem Kopf anders aussah, als bei den meisten Menschen, war ihm schon lange bewusst. Es zu erklären, hatte stets nur Spott oder Unverständnis hervorgerufen. Daher zuckte er als Reaktion nur noch müde mit den Schultern und schlurfte Richtung Tür.

      »Wie wäre es, wenn du am Wochenende mitkommst?«

      Clemens blieb stehen und schaute seine Schwester entgeistert an. Auf so eine absurde Idee war sie noch nie gekommen. Offenbar hatte sie das Gefühl, ihn zu vernachlässigen.

      »Steht eine Kontrolle vom Jugendamt an oder warum legst du dich so ins Zeug?«

      Annette schob schmollend ihre Unterlippe vor, was Clemens mit einem unbeeindruckten Augenrollen quittierte.

      »Das ist gemein. Ich will doch nur, dass du dich mal ein bisschen amüsierst.«

      »Indem ich mit meiner älteren Schwester ausgehe? Hast du Drogen genommen? Wie kommst du auf so einen abwegigen Gedanken?«

      »Du sollst ja nicht mit mir allein ausgehen. Wir wären zu fünft oder zu sechst. Aber wenn es dir lieber ist, können wir auch etwas zu dritt unternehmen, nur du, Michaela und ich.«

      »Aha.«

      »Wir wollen am Samstag