Anja Kuemski

Summer of 86


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ausprobiert, ob die Kräfte, die er mobilisieren konnte, ihm noch immer gehorchten. Allerdings hatte es beim letzten Mal den unerwünschten Effekt gehabt, dass er tatsächlich in die Psychiatrie gesteckt worden war. Weil er ihnen keine Erklärung geben konnte für Dinge, die um ihn herum geschahen. Er wusste, dass sie alle von einer Anderswelt umgeben waren, aber niemand sonst konnte sie offenbar sehen. Es gab Kreaturen in der Anderswelt, die furchterregend waren. Aber er glaubte, sie kontrollieren zu können. Diese Wesen hätten Meinhard in Stücke gerissen. Die Vorstellung war durchaus angenehm. Umso wichtiger war es, sie nicht zu stark zu visualisieren. Er konnte seine Kräfte nicht gut kontrollieren, da er viel zu wenig darüber wusste. Er hatte es sich angewöhnt, sie zu unterdrücken, aber manchmal war der Drang sehr groß, ihnen einfach freien Lauf zu lassen und zu sehen, was passierte. Er fühlte sich wie befreit, wenn er daran dachte, dass seine Sicht auf die Welt real war und nicht einem überspannten Hirn entsprangen, wie die Ärzte ihm hatten einreden wollen.

      *

      »Vielleicht hätten wir doch lieber doch noch mal in Männer gehen sollen«, sagte Mareike und blickte skeptisch auf den Pulk von Leuten, der sich vor der Kasse des Movie gebildet hatte.

      Sie hatten sich nicht so recht auf einen Film einigen können, Mareike weigerte sich, Shanghai Police zu sehen, Johannes hingegen war strikt gegen Momo gewesen. Alles andere hatten sie bereits gesehen, also blieb nur Tod eines Handlungsreisenden. Allerdings hatte Johannes nicht damit gerechnet, dass sich so viele Leute den Film ansehen wollten. Er war schon geneigt, zuzustimmen, als er sah, dass die Leute keineswegs an der Kasse Schlange standen, sondern offenbar einen Kreis um zwei Jungen gebildet hatten, die sich gegenseitig belauerten. Einer von ihnen war der blasse Bursche vom Friedhof. Aus der Nähe konnte er sehen, dass er strahlend blaue Augen hatte, beinahe unnatürlich.

      »Nee, warte mal«, sagte er und trat näher. Mareike drängte sich ebenfalls zwischen die Zuhörer. Sie hörten die spöttischen Worte des großen, schlaksigen Jungen in Buntfaltenjeans, die bei dem blauäugigen Blassgesicht offenbar keinerlei Regung provozierten.

      »Der arme Junge«, murmelte Mareike. »Warum hackt der Andere auf ihm herum? Er ist ja schon ganz starr vor Angst.«

      Johannes zuckte mit den Schultern. Er fand eigentlich nicht, dass der Junge ängstlich wirkte, sondern eher so, als müsse er sich zusammenreißen, um dem aufgeplusterten Arschloch nicht derbe die Fresse zu polieren.

      Er hörte hinter sich ein seltsames Fiepen und drehte sich um. Zwei Gestalten drückten sich in einen Hauseingang, er konnte nur etwas schäbige, abgewetzte Kleidung erkennen. Dann jaulte etwas, aber er konnte nicht erkennen, woher das kam. Diese Laute verfolgten ihn nun schon seit gestern. Langsam zerrte das an seinen Nerven. Vielleicht sollte er doch weniger kiffen.

      »Was ist?«, fragte Mareike.

      »Nichts«, erwiderte er und sah, dass der blasse Junge den Kopf schief gelegt hatte, als lausche er ebenfalls. Hatte er das Jaulen auch gehört? Der Junge schmunzelte, als habe er als einziger einen Witz verstanden. Johannes fühlte sich unwohl.

      »Lass uns lieber gehen«, sagte er leise. Aber Mareike drängelte sich nach vorn und stemmte empört die Hände in die Hüften. Oh nein, dachte er. Sie würde sich einmischen. Er fand es einerseits gut, dass sie für ihre Überzeugungen den Mund aufmachte, aber doch nicht bei einem harmlosen Streit, der sie nichts anging.

      »Du bist eine Gefahr für die Menschheit, du gehörst eingesperrt.«

      Aus der Stimme des großen Jungen sprach eindeutig unterschwellige Angst. Vielleicht hatte Blassgesicht ihm tatsächlich schon mal eine gelangt. Aber in dem Fall wäre es echt dämlich, ihn auch noch zu provozieren. In der Tat ging der andere Junge nun auf ihn zu und hob die Hand. Der Kopf des Großmauls zuckte zurück. Aber anstatt ihn zu schlagen, machte der Junge eine Geste, als wolle er ihm die Hand an die Wange legen, beinahe zärtlich, ohne ihn jedoch tatsächlich zu berühren.

      »Ich kann nichts dafür, wenn du mit deinen Gefühlen für mich nicht umgehen kannst, Meinhard.« Er ließ die Hand noch ein wenig zögerlich in der Luft verharren und lächelte traurig.

      »Was?« Der große Junge stieß die Hand beiseite. »Du Schwuchtel, fass mich ja nicht an.«

      »Also, jetzt reicht es aber!« Mareike drängte sich in die Mitte des Kreises und baute sich vor dem großen Jungen auf. »Es ist doch offensichtlich, dass du seine Gefühle verletzt hast. Und ihn dann noch so vor allen Leuten zu beschimpfen! Schämen solltest du dich!«

      In der Menge war zustimmendes Gemurmel zu hören, aber auch Enttäuschung, denn mit einer Schlägerei war nun wohl nicht mehr zu rechnen.

      Johannes sah, wie der blasse Junge sich unauffällig aus der Mitte des Kreises zum Rand bewegte, während Mareike nun erst richtig aufdrehte und zu einem Vortrag darüber ansetzte, wie wichtig es war, zu seinen Gefühlen zu stehen.

       Als der blasse Junge wenige Schritte entfernt von ihm aus der Menge heraustrat, sah Johannes ein zufriedenes Grinsen auf dessen Gesicht. Er musste neidlos anerkennen, dass das eine fabelhafte schauspielerische Leistung gewesen war. Besser als der Film, der ihm nun erspart bleiben würde.

      4. On My Own

      »Was hast du denn heute vor?«, fragte die Mutter, als Johannes am späten Vormittag in die Küche kam.

      Da er bei dieser Frage sofort einen Hintergedanken vermutete, ließ er sich schnell etwas einfallen.

      »Bin gleich mit Mareike verabredet. Wir wollen zum Hücker Moor radeln.«

      »Ach, das ist ja nett. Da war ich früher auch oft mit deinem Vater. Sehr romantisch.« Sie schaute Johannes vielsagend an.

      Er lächelte gequält und hoffte, sie würde ihm die Einzelheiten ersparen. Er wollte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern auch mal in seinem Alter gewesen waren und nichts als Sex und Kiffen im Kopf hatten. Dass er und seine kleine Schwester ja irgendwie zustande gekommen sein mussten, übersah er dabei großzügig. Eltern waren einfach keine sexuellen Wesen.

      »Sag mal, Henner, mit der Mareike, ist das nun was Festes?«

      »Keine Ahnung. Haben wir nicht drüber geredet.«

      »Aber so etwas muss man doch besprechen.«

      »Mama, wir sind sechzehn, wir werden nicht heiraten, falls du schon auf Enkelkinder hoffst. Und ja, wir hatten bereits Sex.«

      Alma Kattenstroth begann, hektisch den Küchentisch abzuwischen.

      »So genau wollte ich es nun auch nicht wissen. Hauptsache, ihr passt auf.«

      »Um nicht überraschend schwanger zu werden, so wie du?«, spottete Johannes, schnappte sich einen Apfel aus dem Obstkorb und verschwand schnell aus der Küche.

      Seit er das erste Mal eine Freundin erwähnt hatte, sah seine Mutter sich hin und wieder in der Pflicht, ihn in peinliche Gespräche zu verwickeln. Meistens ließ sie ganz unauffällig irgendeinen Flyer auf seinem Schreibtisch zurück und hoffte, er würde sich dann selbst informieren. Aber als es um das erste Mal ging und um Aids, da konnte sie nicht anders, sie musste sicherstellen, dass er wusste, wie man Kondome benutzte. Er wurde heute noch rot, wenn er an das hilflose Gestammel dachte, das sie offenbar für angemessen gehalten hatte, um ihm das Problem vor Augen zu führen.

      Sein Vater hatte es sich leicht gemacht und dazu gar nichts gesagt, in der Gewissheit, Alma würde es schon richten. Aber natürlich hatte Johannes längst Bescheid gewusst, denn dazu hatte man schließlich Kumpels. Mareike war erfahrener gewesen als er, was es einfacher gemacht hatte. Und auch wenn er sich abgeklärt und unbeeindruckt gab, so musste er sich doch eingestehen, dass er sie schon ziemlich gern hatte und sich wünschte, dass es mit ihnen etwas Dauerhaftes würde. Aber als echter Kerl redete er natürlich nicht über seine Gefühle. Das war etwas für Mädchen. Vor allem für solche, die sich diese grauenvollen schwarz-weißen Poster an die Wand hängten, mit halbnackten Männern, die ein Baby auf dem Arm hatten. Bei ihm hing noch immer das Plakat von Arminia Bielefeld aus der Saison 83/84. Goldene Zeiten.

      Er