Anja Kuemski

Summer of 86


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Disco. Tu doch nicht so weltfremd. Ich wette, du würdest da total gerne mal hingehen, traust dich aber nicht, das zuzugeben.«

      »Warum erfordert es Mut, da hinzugehen?«

      Annette winkte ab.

      »Ich geb's auf. Du willst unbedingt bockig wie ein Fünfjähriger deine gesamten Sommerferien in deinem Zimmer verbringen. Davon kriegt man Pickel. Was genau machst du da eigentlich die ganze Zeit?«

      »Das geht dich nichts an.«

      »Aha!«

      »Nichts aha. Wage es ja nicht, mein Zimmer zu betreten.«

      Annette musterte ihn ernst. Dann schüttelte sie den Kopf.

      »Nein, tue ich nicht. Wir haben eine Abmachung und ich halte mich dran. Es sei denn, Rauchschwaden ziehen irgendwann mal durchs Haus. Dann ist die Abmachung null und nichtig.« Sie lächelte ihn versöhnlich an.

      Clemens nickte dankbar und verließ die Küche. Trotz aller Auseinandersetzungen und Probleme, die sie miteinander hatten, konnte er sich immerhin auf Annettes Integrität verlassen. Es gab keine Schlüssel im Hause Schücking, daher konnte er sein Zimmer nicht abschließen. Aber er hatte sich ein paar Dinge aus einschlägigen Spionageserien im Fernsehen abgeschaut, um festzustellen, ob jemand in seiner Abwesenheit in seinem Zimmer gewesen war. Und er dachte dabei nicht nur an Annette.

      *

      »Das ist irgendwie gruselig«, meinte Mareike und verzog das Gesicht.

      Johannes hatte seiner Freundin von den seltsamen Geräuschen auf dem Friedhof erzählt, als sie sich abends im Biergarten trafen. Er machte ein vage zustimmendes Geräusch, dachte aber mehr an den Jungen, der ihn so intensiv gemustert hatte. Komischer Kauz.

      »Willst du das wirklich machen?«, fragte sie über den Rand ihrer Colaflasche hinweg.

      »Was?«

      »Tote Leute anfassen und verbuddeln.«

      Johannes seufzte. »Weiß nicht. Habe ich nie so richtig drüber nachgedacht.«

      Mareike stellte energisch die Flasche ab und beugte sich über den Tisch.

      »Aber das ist doch wichtig! Damit entscheidet sich doch dein ganzes Leben! Man kann doch nicht einfach so durch die Gegend trudeln, wie ein Stück Treibholz im Wasser!«

      Johannes widmete sich seiner Pizza. Warum hatte er seine Bedenken überhaupt geäußert? Er hätte wissen müssen, dass Mareike sich mit Feuereifer darauf stürzen würde.

      »Aber das ist in unserer Familie Tradition. Seit Urzeiten sind die Kattenstroths Bestatter. Behauptet jedenfalls mein Vater.«

      »Na und? Manchmal sind Traditionen nichts anderes als überkommene Rituale, die ihren Sinn verloren haben.«

      »Du meinst, wir sollten die Toten nicht mehr bestatten?«

      »Stell dich nicht so doof an, Henner. Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe. Ich rede davon, dass du nicht verpflichtet bist, etwas zu tun, was du gar nicht willst, nur weil das seit Generationen in eurer Familie so üblich war. Was möchtest du denn?«

      »Keine Ahnung.«

      »Aber irgendetwas musst du doch wollen?«

      Er grinste schief und musterte sie aufreizend langsam von Kopf bis …, nun ja, Tischkante.

      Mareike schüttelte ungläubig den Kopf.

      »Jungs in der Pubertät. Unfassbar.«

      »Gehen wir gleich zu dir?« Er hätte nichts dagegen gehabt, mit dem Gerede aufzuhören. »Bei uns zu Hause kräht meine kleine Schwester ständig herum.«

      »Mir ist heute nicht danach, Henner.« Sie mied seinen Blick. »Ich will mich später außerdem noch mit Steffi und den anderen vom ABAL treffen.«

      Johannes unterdrückte einen Anfall von Eifersucht. Nicht nur, dass seine Freundin für seinen Geschmack viel zu viel Zeit mit diesem dämlichen Aktionsbündnis für ein atomfreies Leben verbrachte, sie vermied es auch zu erwähnen, dass dort nicht nur ihre Freundin Steffi aktiv war, sondern vor allem auch Kolle. Und der war für Johannes ein rotes Tuch. Weshalb Mareike ihn nicht erwähnte. Was Johannes nur noch misstrauischer machte. Er war ein paar Mal zu diesen Treffen mitgekommen, aber das ganze Öko-Geschwafel hatte ihn aggressiv gemacht. Es war okay, wenn Mareike ihm einen 'Atomkraft, nein danke'-Button an die Jeansjacke steckte, es war auch noch akzeptabel, wenn sie manche Dinge aus Überzeugung tat, wie zum Beispiel einen Teil ihres Taschengeldes an Greenpeace zu spenden. Es wurde zu einem Problem, wenn das Geld dann nicht reichte, damit sie für ein paar Tage nach Frankreich fahren konnten, wie sie es mal vorhatten. Seine schlechte Stimmung, als er das hörte, hatte sie mit einem Vortrag über Prioritäten quittiert, von denen er offenbar die falschen hatte.

      Es war nicht so, dass er ihr nicht grundsätzlich zustimmte, was den Schutz der Umwelt und die Gefahren der Atomkraft anging, aber er war sechzehn. Da sollte man sich nicht mit Becquerel und Halbwertzeit befassen müssen, sondern mit Partys und Sex. Stattdessen gab es verstrahlte Nahrungsmittel und Aids. Johannes fühlte sich von der Welt um seine Pubertät betrogen.

      »Wir können ja morgen ins Kino gehen«, sagte Mareike versöhnlich.

      Er verkniff sich die Frage, ob Steffi und Kolle dann auch dabei wären.

      »Nur wir zwei«, fügte sie hinzu und lächelte.

      »Ich bin wohl ziemlich leicht zu durchschauen, was?«

      »Ja. Aber das ist nichts Schlechtes«, fügte sie eilig hinzu. »Ich finde es gut, wenn ein Junge sich nicht verstellt, um den Macho zu spielen oder sich irgendwie geheimnisvoll zu geben. Du bist eben …« Sie blickte über die anderen Gäste des Biergartens hinweg, offenbar auf der Suche nach dem passenden Wort. Johannes war sich ziemlich sicher, dass er mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein würde.

      »Schlicht gestrickt?«, schlug er vor.

      »Reell«, erwiderte sie. »Bodenständig und handfest. Ich mag das. Sonst wären wir ja wohl kaum zusammen.«

      Johannes nickte und stand auf. »Dann komme ich morgen zu dir. Am Nachmittag? Meine Eltern haben morgens bestimmt jede Menge Aufträge für mich.« Er verzog das Gesicht.

      Mareike stand ebenfalls auf und küsste ihn flüchtig.

      »Bis morgen.«

      Auf dem Weg nach Hause summte Johannes ein Lied vor sich hin, was sich bei genauerer Betrachtung als Midnight Lady entpuppte. »Ach du kacke«, murmelte er und blickte sich erschrocken um, ob ihn jemand gehört haben könnte. Das fehlte ihm noch, dass seine Kumpel dachten, er würde so ein Softie werden, nur weil er jetzt mit Mareike fest zusammen war. Als Nächstes würde er sich noch dabei ertappen, diese dämlichen Pierrot-Poster an die Wand zu kleben. Grauenvoll. Er schüttelte sich. Das passte eher zu dem Jungen vom Friedhof, fand er. Der hatte in seinen feinen Klamotten so ausgesehen, als wäre er genau der Typ, von dem viele Mädchen in seiner Klasse schwärmten. Empfindsam, gepflegt und modebewusst. Alles, was Johannes nicht war. Aber immerhin gab es auch Mädchen, die es nicht so wichtig fanden, welche Marken er trug. Im Gegenteil, Mareike würde ihm einen langen Vortrag halten, wenn er auf einmal mit einem Benetton-Pulli ankäme.

      »Na, schon zurück?« Seine Mutter hatte Baby Kerstin auf dem Arm, die zur Abwechslung mal nicht schrie, sondern fröhlich glucksend nach allem griff, was ihr in die kleinen Finger kam. Johannes hätte ihr gern vermittelt, dass sie nie wieder im Leben eine so einfache Welt vorfinden würde und daher gefälligst zufrieden sein sollte. Er hielt ihr einen Finger hin und zog ihn weg, sobald sie danach griff.

      »Mareike hat noch was vor mit ein paar Freundinnen«, erklärte er ausweichend und kitzelte seine kleine Schwester, die vor Freude laut quiekte. Als sie seinen Bruce-Springsteen-Button zu fassen kriegte und fast von der Jeansjacke riss, hörte der Spaß aber auf.

      »Ich gehe in mein Zimmer.«

      »Mach die Musik nicht so laut«, mahnte die Mutter.

      »Das