du, ich hätte wirklich kein Problem damit, wenn du mal ein Mädchen mit nach Hause brächtest.«
Er sagte nichts, sondern wartete auf den nächsten Satz, der unweigerlich kommen würde. Sie führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal.
»Oder einen Jungen«, sagte Annette erwartungsgemäß. »Wirklich, ich wäre da total tolerant.«
»Wie großzügig.«
Sie schob die Zeitschrift wieder zu ihm herüber.
»Wenn du dir nicht sicher bist, wer denn überhaupt dein Typ ist, dann hilft es vielleicht, da mal drin zu blättern.«
Es war offensichtlich, dass sie nicht locker lassen würde, also nickte er stumm und fing an zu blättern. Dan Harrow, Madonna, Boy George, Thomas Anders. Nichts davon interessierte ihn. Er kam zu den Aufklärungsseiten, überflog sie ebenfalls, auch das interessierte ihn nicht im Geringsten. Aus dem Augenwinkel sah er Annettes Enttäuschung. Die großen Brüste von Samantha Fox fand er auch nicht aufregend, die Ratgeberseite von Dr. Sommer befasste sich mehr oder wenig ausschließlich mit Eltern-Problemen. Hatte er nicht. Nicht mehr. In dieser Hinsicht war seine Schwester auf jeden Fall pflegeleichter. Neue Kinofilme, irgendwelcher Action-Mist. David Bowie, der Songtext zu Underground. Unwillkürlich las er den englischen Text, dabei kannte er ihn auswendig. Er hatte ihn ständig im Kopf. Eine Endlosschleife.
It's only forever
Not long at all
Das Foto war lächerlich. Die Zottelhaare, die übertriebene Dramatik, er war skeptisch, was den Film anging, bisher hatte er nichts Gutes darüber gehört. Aber der Song. Der Song …
Lost and lonely
That's underground, underground
Daddy, daddy get me out of here
Er dachte an das Gefühl, das ihn gestern Abend vor dem Kino ganz unvermittelt gepackt hatte. Macht. Er konnte Kräfte um sich scharen, die ihm viel Macht verliehen. Er hatte es gespürt. Er hätte Meinhard vernichten können. Aber da war auch viel Angst dabei gewesen. Er konnte die Kräfte vielleicht nicht wieder loswerden, wenn er sie einmal gerufen hatte. Da war diese Stimme, die ihm befahl, er müsse es beherrschen. Aber er wusste nicht einmal, was 'es' überhaupt war.
Heard about a place today
Nothing ever hurts again
»Clemens? Ist alles in Ordnung?«
Er schüttelte sich wie ein nasser Hund.
»Soll ich Dr. Ellermann anrufen? Hast du deine Tabletten genommen?«
»Ja«, log er und blätterte weiter, ohne wirklich wahrzunehmen, was er sah.
Er nahm die Tabletten nicht gern, sie machten ihn müde und geistig träge. Mit den Tabletten hörte er die Stimmen nicht. Aber das machte ihm erst recht Angst. Nur weil man etwas nicht hörte, hieß das nicht, dass es nicht da war. Außerdem müsste er schon eine ganze Packung Pillen schlucken, um die Hufspuren rund um das Haus nicht zu bemerken, das Jaulen und Fiepen, das nächtliche Kratzen von Klauen an der Tür zur Veranda.
Dr. Ellermann hatte sich sehr dafür interessiert, als er ihm in der Kinderpsychiatrie vor einigen Jahren das erste Mal davon erzählt hatte. Clemens war davon ausgegangen, dass der junge Arzt sich mit ihm als Patienten profilieren wollte. Aber inzwischen gab sich Dr. Ellermann eher familiär und freundlich, offenbar hatte er auch seine Eltern schon gekannt. Daran konnte Clemens sich nicht erinnern und es machte ihn misstrauisch.
Er schlug die Zeitschrift zu und blickte seine Schwester fragend an.
»Muss ich das jetzt öfter unter Aufsicht machen? Meinst du, ich werde so doch noch ein normaler Teenager?«
Es gelang ihm nicht, seine eigene Angst und Unsicherheit gänzlich aus seiner Stimme zu verbannen.
»Nein, Clemens. Ich will dir doch nur helfen. Ich weiß, dass Papa …, dass ihr beide Probleme miteinander hattet. Und Mamas Tod hat dich verständlicherweise sehr mitgenommen. Ich will dir nur zeigen, dass es nicht zu spät ist, um die verlorene Zeit aufzuholen.«
»Verlorene Zeit? Du meinst, das halbe Jahr in der Klapse?«
Annette wischte die Frage mit einer unwirschen Handbewegung beiseite.
»Ich meine, dass es dir schadet, dich so abzukapseln. Der Kontakt mit Gleichaltrigen ist wichtig für dich. Was ist denn mit Meinhard? Warst du nicht mal mit dem befreundet?«
»Nein.«
»Doch, ich bin mir ganz sicher, der hat dich früher zu seinen Geburtstagspartys eingeladen.«
»Kann sein. Ich erinnere mich nicht.«
Seine Gedächtnislücken waren Annette bekannt, er benutzte sie gern als Ausrede, wenn er Themen aus dem Weg gehen wollte.
»Aber dann ruf ihn doch mal an. Seht ihr euch denn nicht mehr in der Schule?«
»Doch.«
»Na also.«
»Na also, was?«
»Dann könntet ihr doch mal etwas miteinander unternehmen.«
»Ich wüsste nicht, was.«
»Zum Beispiel könntest du mit ihm ins Kino gehen anstatt alleine.«
»Vielleicht möchte ich das aber lieber alleine machen?«
»Genau das meine ich doch. Du willst immer alles alleine machen. Das ist nicht gut, Clemens. Mit anderen zusammen macht das doch mehr Spaß.«
»Mir aber nicht.«
Annette warf mit einer hilflosen Geste die Arme in die Luft.
»Meine Güte! Dann geh halt ins Kloster!«
Er nickte langsam.
»Daran hatte ich auch schon gedacht.«
Annette beugte sich über den Tisch und musterte ihn ernst.
»Wenn das wirklich das ist, was du willst, dann zieh es durch. Aber vorher will ich, dass du dich wenigstens ein einziges Mal amüsierst. So richtig. Du kannst dich betrinken, rumvögeln, fang 'ne Schlägerei an. Was auch immer. Ich passe schon auf dich auf. Morgen Abend. Einverstanden?«
Clemens zögerte. Er ging davon aus, dass er es hassen würde, aber neugierig war er schon. Einmal nicht aufzufallen, einmal so zu sein, wie alle anderen, einmal normal.
Er nickte.
»Ich überlege es mir.«
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