ihn nicht zur Ruhe kommen. Aber dies geschah nicht und schließlich schlief er ein.
Als er erwachte, war er immer noch benommen und konnte die Erlebnisse der Nacht nicht zuordnen. Waren die Frauen tatsächlich zu ihm gekommen oder hatte er sich das alles nur eingebildet? Hat ihn das Wunschdenken, der animalische männliche Trieb genarrt? Das Tageslicht fiel durch den offenen Zelteingang und die Kinder saßen um das Feuer herum, das nun hell loderte. Von den Erwachsenen befand sich keiner im Zelt. Er stand auf, zog sich an und trat ins Freie. Es hatte aufgehört zu schneien, die Morgensonne stand schon ein Stück über den Bergen und ein schöner, klarer Tag kündigte sich an. Er sah, wie seine Gastgeber in einiger Entfernung von dem Zelt mit ihren Yaks und Schafen beschäftigt waren, zum Glück war der Hund bei ihnen. Er beschloss, sich sofort auf den Weg zu machen, ohne Frühstück und ohne langes Abschiednehmen. Einen Moment lang erwog er, etwas Geld da zu lassen, kam dann aber zu dem Schluss, dass seine nächtlichen Erlebnisse real gewesen waren und er für die Übernachtung ausreichend bezahlt habe und so legte er nur ein paar Kekse und eine Tafel Schokolade neben die Feuerstelle. Er versuchte den Kindern die Wange zu streicheln, diese wichen aber erschreckt zurück. Den Erwachsenen rief er ein paar Worte des Dankes zu und ging dann zu seinem eingeschneiten Auto. Er würde es sicher schaffen, den Pass zu überqueren, die Sicht war klar und auf der Straße lag weniger Schnee, als er befürchtet hatte. Erst als er ganz nahe an sein Fahrzeug herangekommen war, bemerkte er, dass sich etwas verändert hatte. Das Auto war kleiner geworden, alle vier Reifen waren zerstochen.
Die Chinesin
Er liebte es, zu reisen. Meistens allein, manchmal in Gesellschaft, aber immer möglichst weit weg, zu exotischen Orten und auf der Suche nach ungewöhnlichen Erfahrungen und Erlebnissen. Bei einer dieser Reisen, einer Fahrt mit einer kleinen Gruppe in einem robusten Minibus durch das südöstliche China, hatte er ein solches Erlebnis, als sie gezwungenermaßen ein paar Tage in den Bergen verbringen mussten. Der Reiseplan sah einen Besuch der berühmten Yandong-Höhlen mit ihren frühen buddhistischen Wandmalereien vor. Diese Höhlen befinden sich in einem abgelegenen, schwer zugänglichen Tal und die letzte, anstrengende Wegstrecke kann nur zu Fuß von der kleinen Stadt Shancheng aus zurückgelegt werden. Heftiger Dauerregen machte jedoch einen Strich durch ihre Pläne. Er verhinderte nicht nur den Besuch der Höhlen, sondern blockierte auch durch Erdrutsche die einzige Straße, die Shancheng mit der Außenwelt verbindet. Sie waren froh, überhaupt heil in dem einzigen Touristenhotel der Gegend angekommen zu sein und mussten sich nun in Geduld üben, bis das Wetter besser, die Höhlen besuchbar und die Straße wieder passierbar sein würde.
Laut Reiseführer lag die Stadt sehr schön am Südhang eines weiten Tales und der Blick von dem etwas außerhalb gelegenen Hotel auf die gegenüberliegenden, schneebedeckten Berge wurde ganz besonders gerühmt. Dies konnten sie jedoch nicht bestätigen, weil die ganze Umgebung im grauen Nebel des schier unaufhörlichen Regens absoff. Shancheng selbst war ein äußerst langweiliges Nest, besonders bei diesem Wetter, das alles Leben von der Straße in die Häuser verbannte. Von ihren sporadischen, kurzen Spaziergängen durch die engen, menschenleeren Gassen kehrten sie frustriert, frierend und vor Nässe triefend in das Hotel zurück, in dem sie nur eine Nacht verbringen wollten und das nun zu einem Gefängnis für eine unbestimmte, wenn auch hoffentlich überschaubare Zeitspanne geworden war.
Bedingt durch die Unbilden des Wetters hatten sie reichlich Gelegenheit den morbiden, sozialistischen Charme ihrer Unterkunft zu genießen, die dunklen Räume mit Plastikblumen auf den Tischen, die bunten Farbdrucke an den Wänden, die desinteressierte Gelangweiltheit des Personals und die gewöhnungsbedürftige Gleichförmigkeit der an sich lobenswerten chinesischen Küche. Weiteres Ungemach bereiteten die Spannungen, die sich in diesem Mikrokosmos aufbauten und die Tristesse ihres Zwangsaufenthalts beträchtlich verschlimmerten. Zuerst saßen sie noch in scheinbar fröhlicher Runde zusammen, zeigten demonstrativ Galgenhumor, erzählten von ihren diversen Reisen zu all den Plätzen dieser Welt, die man gesehen haben musste, bevor man starb oder erregten sich über politische und gesellschaftskritische Ansichten ihrer Gefährten. Doch es zeigte sich bald, dass die Gemeinsamkeiten kaum ausreichten, einige total verregnete Tage mit ungewissem Ende in einem abgelegenen, trostlosen chinesischen Kaff zu überstehen. So versiegte allmählich ihr Gesprächsstoff, das Interesse an den Mitmenschen und ihren Geschichten erlahmte und sie gingen sich immer mehr auf den Geist. Sie saßen nun allein oder in kleinen Grüppchen in der Empfangshalle, stierten auf den künstlichen Springbrunnen in der Mitte des Raums, beobachteten die traurigen Fische in dem veralgten Aquarium oder lungerten im Speisesaal herum, der auch als Bar fungierte und tranken lauwarmes Bier, süße Chrysanthemenlimonade oder heißen Tee. Die Höhepunkte des Tages waren trotz ihrer qualitativen Mängel die Mahlzeiten, bei denen etwas Leben aufkam und zu denen auch hie und da Leute aus der Stadt kamen und für etwas Abwechslung sorgten.
In dieser an sich schon traurigen Situation hatte er das Pech, bei einem seiner Spaziergänge auf dem nassen, unregelmäßigen Kopfsteinpflaster einer steilen Gasse auszurutschen und sich den Fuß zu verknacksen. Die Verletzung war nicht schlimm, aber dennoch schmerzhaft. Er humpelte, musste sich schonen und zog es vor, allein in seinem Zimmer zu bleiben und die ätzende Langeweile auszuhalten. Dieses Zimmer lag im ersten Stock und er hätte vom Balkon aus den berühmten Blick auf das Tal genießen können, aber unter den gegebenen Umständen konnte man ihn allenfalls in den kurzen Perioden der Aufklarung ahnen. So blieb ihm nur, den umfriedeten Hof des Hotels zu beobachten, in dessen Mitte eine pyramidenförmige Säule mit einem roten Stern auf der Spitze stand. Doch im Hof spielte sich nur selten etwas Bemerkenswertes ab. Manchmal ging jemand vom Personal in eines der Nebengebäude, zu den Essenszeiten konnte man die Restaurantbesucher kommen und gehen sehen. Neue Hotelgäste, die für etwas mehr Abwechslung hätten sorgen können, kamen natürlich wegen der Straßenblockade nicht. Ein Lichtblick wäre noch der Hofhund gewesen, ein schmutzig gelber Mischling, der nachts oft jämmerlich heulte, doch der hatte unter einer Plane einen halbwegs trockenen Platz gefunden und rührte sich nicht fort.
Am Sonntag änderte sich dann das Wetter und damit auch die Stimmung der Gruppe schlagartig. Der Regen hatte schon in der Nacht aufgehört und der Blick am frühen Morgen auf die frisch gewaschene Landschaft war in der Tat phantastisch und nährte die Hoffnung, dem Gefängnis am nächsten Tag entkommen zu können. Der Reiseleiter hatte zudem beim Frühstück angekündigt, heute die verschobene Wanderung zu den Höhlen zu machen und so redeten sie schon beim Frühstück wieder miteinander, akzeptierten die faden Dampfnudeln mitsamt der pampigen Soyasuppe, scherzten und lachten und waren zufrieden. Da der Ausflug den ganzen Tag in Anspruch nehmen würde, hatte die Küche Lunchpakete vorbereitet, kalten Reis, weiches Gemüse, harte Eier und marinierte Hähnchenschlegel. Kurz nach dem Frühstück trafen sie sich in der Halle, perfekt gekleidet und mit all den Dingen ausgestattet, die zum Wandern notwendig sind wie Kamera, Fernglas und Nordic-walking-Stöcken. Alle waren froh und gut gelaunt, bis auf ihn, der sich wegen seines immer noch geschwollenen, schmerzenden Fußes an dem Ausflug nicht beteiligen konnte und zwangsläufig einen weiteren einsamen Tag im Hotel überstehen musste. Diese Aussicht und der Verzicht auf den Besuch der Höhlen, auf den er sich natürlich gefreut hatte, ärgerte ihn, aber er hatte keine andere Wahl und so nahm er reichlich scheel die aufrichtig gemeinten Beileidsbezeugungen der Mitreisenden entgegen.
Nun, da er allein und das Wetter schön war, stellte er einen Stuhl auf den kleinen Balkon seines Zimmers, nahm sich ein Buch, das er von einem Mitreisenden ausgeliehen hatte und begann zu lesen. Doch schon nach einigen Seiten stellte er fest, dass ihn die Geschichte überhaupt nicht interessiert, ja er ärgerte sich, dass man solch einen Mist überhaupt als Reiselektüre einpacken konnte. Statt zu lesen, genoss er die langersehnte Sonne, verlor sich im Anblick der vorbeiziehenden Wolken am klaren, tiefblauen Himmel, verfolgte ihre Schatten, die durch das Tal eilten und stellte sich vor, auf einem der blendend weißen Schneeberge zu sitzen und Lama Anagarika Govindas Buch „Der Weg der weißen Wolken“ zu lesen.
Irgendwann im Laufe des Vormittags, als er aufstand und über die Betonbrüstung des Balkons auf den Hof schaute, fiel ihm die Frau auf, die auf der niedrigen Umgrenzungsmauer zur Straße saß. Es war eine etwas rundliche und, wie ihm schien, nicht mehr ganz junge Frau, die einfach nur da saß und nichts tat. Sie hatte offensichtlich viel Zeit und an diesem Tag nichts Besseres vor, denn als er nach dem Mittagessen wieder auf den Balkon kam, saß sie