Rose. Ein winziges Handtäschchen lag neben ihr auf der Mauer. Die Frau und ihr seltsames, statisches Verhalten irritierte und faszinierte ihn und so stand er immer öfters auf, lehnte sich an die Brüstung und betrachtete sie. Auch sie hatte ihn, den einzigen Gast des Hotels natürlich wahrgenommen, schaute zu ihm hoch, lächelte freundlich und winkte ihm zu, er möge doch zu ihr herunter kommen. Er winkte zurück und war über die Aussicht in Gesellschaft zu sein und mit jemandem reden zu können ganz froh. Mit dem altersschwachen Fahrstuhl fuhr er ins Erdgeschoss, durchquerte humpelnd die Eingangshalle und den Hof und setzte sich neben sie auf die Mauer. Doch schon nach sehr kurzer Zeit musste er feststellen, dass eine Unterhaltung nicht möglich war. Sie hatten keine gemeinsame Sprache und fanden nur sehr wenige Worte, die sie austauschen und verstehen konnten.
Aber ihr Lächeln funktionierte und mit Mimik und Gestik kam doch eine Art von Konversation zustande. So machte er ihr zum Beispiel vor, wie er sich seine Verletzung geholt hatte und erläuterte, warum er hier und seine Mitreisenden bei den Höhlen waren. Die Beschreibung, wie sehr ihn der ewige Regen der letzten Tage genervt hatte, gelang ihm so gut, dass sie herzlich lachte. Ansonsten sah sie seinen Bemühungen eher höflich interessiert zu und steuerte selbst nur wenig zu dieser Unterhaltung bei, die von zwei Taubstummen hätte geführt werden können. Und so erlahmte seine Gesprächsbereitschaft bald wieder und die Langeweile stellte sich erneut ein, obwohl er ja nun in Gesellschaft war. Eine ganze Weile saßen beide stumm und steif da und warteten, dass irgendetwas geschehen möge. Er hätte dieser Frau, die ihm nicht unsympathisch war, gerne vorgeschlagen, einen gemeinsamen Spaziergang durch den Ort zu machen. Da dies aber nicht möglich war, schlug er stattdessen vor, in der Hotelbar etwas zu trinken. Sie verstand seine Einladung, lächelte und nickte. Beide erhoben sich und gingen, er humpelnd, sie zwei Schritte hinter ihm, über den Hof in Richtung Hoteleingangstür.
In der Halle steuerten sie zuerst den künstlichen Springbrunnen an, blieben dann eine Weile vor dem Aquarium stehen, ließen die lange Theke mit der Rezeption rechterhand liegen und betraten schließlich den Speiseraum, der zu dieser frühen Nachmittagsstunde leer war. Das Mittagessen war beendet, die Tische abgeräumt und nur die fleckigen, roten Tischdecken kündeten von dem „Gelage“, das vor einer Stunde hier stattgefunden hatte. Die Bedienung, eine junge, fette Frau, die sie ob der Störung ihrer Mittagsruhe unwirsch ansah, kam an den Tisch. Er bestellte ein Bier, sie orderte cha und bestätigte sein Vorurteil, dass Chinesen zu jeder Gelegenheit Tee trinken. Sie nippten an ihren Getränken und fuhren fort, sich anzuschweigen und sich trotzdem interessiert anzusehen. Sie war weit davon entfernt eine dieser schlanken, attraktiven Suzy Wongs zu sein, mit geschlitztem Kleid bis an die Hüfte, Seidenhaaren bis an den Hintern und schmachtenden Mandelaugen. Nein, sie sah bodenständig, solide und auch etwas langweilig aus und passte gut in diese herbe Berglandschaft. In gewisserweise erinnerte sie ihn an die Schauspielerin Gong Li, die in einem Film eine handfeste Bäuerin spielte, die mit Charme und Tatkraft ihr hartes Leben meisterte. Gong Li war selbstredend viel schöner und aparter als seine Nachmittagsbekanntschaft, aber auch diese übte einen gewissen Reiz auf ihn aus.
Nach einer Weile kam die Bedienung erneut angewatschelt und stellte eine Frage. Als Gong Li den Kopf schüttelte, räumte sie das Geschirr ab und schaute provozierend und demonstrativ auf ihre winzige Armbanduhr. Ein Zeichen, dass der Ausländer mit seiner Braut endlich verschwinden möge, damit sie ihr Mittagsschläfchen fortführen konnte. Er verstand die Aufforderung, blickte Gong Li fragend an und erhob sich zögernd und unschlüssig. Sie nickte wieder, zog kokett ihre Handschuhe wieder an, die sie abgelegt hatte, den Hut hatte sie aufbehalten und ergriff das Handtäschchen aus blauem Kunststoff mit silberner Schnalle. Dann stand sie ebenfalls auf und hängte sich zu seiner Überraschung bei ihm ein. Ihre linke Hand glitt unter seinen rechten Arm, ihr Unterarm legte sich auf seinen und sie schmiegte sich ganz leicht an ihn und er roch zum ersten Mal ihr süßliches Parfüm. Sie zog ihn, das Tempo und die Richtung bestimmend, ein leicht triumphierendes Lächeln auf den Lippen, zurück in die Empfangshalle. Jetzt ließen sie die Theke links liegen, ignorierten den künstlichen Springbrunnen, warfen nur einen kurzen Blick auf das Aquarium und gingen weiter in Richtung Eingangstür. Dort blieb Gong Li stehen und betrachtete ein paar Minuten lang das Geschehen auf dem weißlich flimmernden Bildschirm des Hotelfernsehers, der seltsamerweise seinen Platz neben der Eingangstür gefunden hatte. Sie kicherte, er verstand nichts von dem, was er sah. Dann standen sie vor dem Aufzug und warteten, bis er hörbar rumpelnd ankam. Während sie warteten, sah er sie amüsiert, aber auch leicht irritiert an und bewunderte ihr zielgerichtetes, entschlossenes Handeln. Er war neugierig, wie es nun weitergehen würde, doch eigentlich war diese Frage rein rhetorischer Natur, denn er wusste sehr wohl, was sie beide wollten und er malte sich aus, was nun in seinem Zimmer geschehen würde. Er war bereit, alle Spielchen mitzumachen.
Sie betreten das Zimmer mit den dunklen Holzdielen und den grell-bunten Tapeten. In der Mitte steht ein großes Himmelbett, auf dem eine blau-rote Steppdecke liegt. An der Wand befindet sich eine Anrichte mit einem großen Spiegel, Schmink- und Schreibtisch in einem, daneben steht ein mit Schnitzwerk verzierter Holzschrank. Neben dem Bett auf dem Fußboden liegt sein Koffer, sorgfältig abgeschlossen wie immer, wenn er das Hotelzimmer verlässt. Die Tür zum Balkon ist geöffnet. Dort steht noch der Stuhl mit dem langweiligen Buch. Sie löst sich von seinem Arm und schaut sich, halb neugierig, halb wissend um. Geht um das Bett herum zu der Anrichte und betrachtet sich eine Weile sehr aufmerksam im Spiegel. Schließlich legt sie das Handtäschchen auf das Bett, zieht die Handschuhe aus, legt sie sorgfältig daneben, nimmt danach den Hut ab und legt auch den auf das Bett. Zum ersten Mal sieht er die beiden neckischen, kurzen Pferdeschwänzchen, die ihm einen Tick zu jung für eine Frau ihres Alters vorkommen, die ihr aber ein gewisses unschuldiges Aussehen verleihen. Nun setzt sie sich selbst auf das Bett, nimmt das Handtäschchen, öffnet es, kramt darin und zieht einen Lippenstift heraus. Sehr sorgfältig fährt sie die Konturen ihres kleinen Mundes nach. Sie verreibt die grellrote Farbe, indem sie die Lippen mehrfach hin und her bewegt und aufeinander presst. Zum Schluss holt sie noch ein Döschen aus dem Täschchen und trägt mit einem winzigen Wattebausch Rouge auf die Wangen. Auch das Rouge ist von kräftiger Farbe und sie sieht nun aus wie eine Konkubine aus einer Pekingoper.
Er ist die ganze Zeit neben der Tür stehen geblieben und hat interessiert ihre Verschönerungsarbeit verfolgt. Nun, da sie fertig ist, aufsteht und sich ihm zu wendet, erwartet er, dass sie anfangen möge sich auszuziehen, sich auf das Bett zu legen oder auf ihn zuzukommen. Doch was nun folgt, erstaunt und irritiert ihn erneut, denn sie fordert ihn mit einer unmissverständlichen Handbewegung auf, seine Hose auszuziehen. Er schaut sie ungläubig an, obwohl ihm natürlich klar ist, dass Gong Li nicht nur wegen des Schminktischs auf sein Zimmer gekommen ist. Aber die direkte Art und Weise wie diese so simpel, so ländlich und unbedarft wirkende Frau die Initiative ergreift, wie sie ihre Vorstellung von dem Tête-à-Tête durchsetzt, ja ihn regelrecht instrumentalisiert, verwundet ihn. Sie, eine Chinesin, die in Sachen Sex doch eher als zurückhaltend und phantasielos gelten, weiß ganz genau, was sie will. Sie wiederholt ihre Aufforderung und unterstreicht sie mit ihrem asiatisch bestätigenden Nicken. Er zögert, öffnet aber dann den Gürtel und lässt die Hose zu Boden fallen. Dann steigt er, etwas umständlich die Füße schüttelnd aus dem Hosenknäuel. Sie lächelt ihn an und macht mit der rechten Hand, zwei, drei kreisende Bewegungen. Mach weiter, na los doch. Er fasst sich an die Unterhose, dann fällt ihm aber ein, dass er ja noch seine Schuhe, seine Socken und sein Hemd anhat. Er bückt sich, nestelt an den Schuhbändern, zieht einen Schuh aus, dann den Socken, dann den anderen Schuh und den anderen Socken. Zwischendurch schaut er von unten, aus einer komischen, lächerlich wirkenden gebückten Haltung auf die ruhige, selbstsichere Frau, die neben dem Spiegel steht, abwartend, fordernd, lächelnd.
Nachdem er sich wieder aufgerichtet hat, befördert er Schuhe, Socken und Hose mit ein paar Tritten in eine Ecke des Zimmers und knöpft sich dann das Hemd auf, langsam, provozierend, wie bei einem Striptease. Er lässt es zu Boden gleiten und schickt es den anderen Kleidungsstücken nach. Nun trennt ihn nur noch die Unterhose von der natürlichsten aller Erscheinungen, nur sie schützt ihn noch. Aber wovor eigentlich? Vor ihren abschätzenden Blicken, weil er, wie sie deutlich sehen würde, noch nicht bereit ist oder vielleicht auch gar nicht bereit werden würde? Er ist verunsichert und ungeduldig und sagt ihr, sie solle nun auch anfangen, sich auszuziehen, wohl wissend, dass sie seine Worte nicht verstehen, aber ihren Sinn durchaus begreifen könne. Wieder nickt sie, wieder dieses stereotype Nicken, bewegt sich