Thorsten Reichert

Status Quo


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ihrem inneren Auge erschien, Ikonen ihrer Kindheit. Der Artikel hatte allerdings nichts mit den Zeichentrickfiguren zu tun, sondern berichtete über Immobiliengeschäfte eines Frankfurter Großunternehmers. Aus irgendeinem Grund kam ihr eine eine Szene aus ihrer Kindheit in Erinnerung: Sie saß mit ihren Eltern vor dem kleinen Fernseher und schaute wie so oft die „heute“ Nachrichten. Sie war vielleicht zehn Jahre alt und verstand wenig von dem, was da berichtet wurde, daher freute sie sich immer auf den Wetterbericht am Ende, wenn der Wettermann durch Klicken auf den kleinen Schalter in seiner Hand die Tafeln wechseln konnte. Auf einmal war es aus ihrem Vater laut hervorgebrochen: „Peanuts? Das ist ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit! Die sollen mal einer richtigen Arbeit nachgehen, dann wissen sie, wie viel 50 Millionen Mark sind!“ Selten hatte sie ihren Vater – sonst eher ein ruhiger und introvertierter Handwerker – so aufbrausend erlebt. Er hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden besessen. Erst später hatte sie verstanden, was der Hintergrund der Sache gewesen war. Sie kam ihr jetzt wieder in den Sinn. Es ging um den Milliardenbetrug des Immobilienunternehmers Jürgen Schneider, der unter anderem in Frankfurt gigantische Großprojekte bauen ließ und sich dabei zahlreiche Kredite deutscher Banken erschlichen hatte, indem er Mietprognosen und sonstige Unterlagen schönte. Irgendwann war er aufgeflogen und vor Gericht gestellt worden. Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, die immerhin auch etliche Millionen D-Mark Verlust in der Sache machte, hatte sich dazu hinreißen lassen, die 50 Millionen Mark, die Schneider zahlreichen Handwerker-Unternehmen noch schuldete, als „Peanuts“ zu bezeichnen. Das Wort wurde später zum Unwort des Jahres gekürt, die Deutsche Bank hatte ein massives Imageproblem und von dem damaligen Vorstandssprecher hatte sie seitdem nie wieder etwas gehört. All das war allerdings nicht in dem FAZ-Artikel zu finden. Offenbar war er vor dem eigentlichen Skandal veröffentlicht worden. Da ihr Laptop ohnehin mit dem Internet verbunden war, googelte sie „Jürgen Schneider“ und fand auf seiner Wikipedia-Seite, dass tatsächlich ein kritischer FAZ-Artikel aus dem Februar 1994 der Auslöser des Skandals gewesen war. Offenbar handelte es sich dabei um den ihr vorliegenden Artikel. Er schien eigentlich ziemlich unspektakulär, war nicht reißerisch oder anklagend. Manchmal waren es wohl die kleinen Steine, die eine große Lawine ins Rollen brachten. Dass sich aber die NSA für einen solchen Artikel interessierte, war erstaunlich.

      Stefanie Wohlfahrt klickte weiter durch die Dateien des Ordners und fand keine nennenswerten Dokumente mehr. Sie nahm sich den dritten Ordner vor, welcher die „fade“ Dateien beinhaltete. Die erste Datei darin war ein Tondokument, welches durch Verzerrung unbrauchbar gemacht worden war. Als nächstes öffnete sie ein PDF-Dokument, das eine in Text umgewandelte Kopie eines Briefes enthielt, verfasst vom bayrischen Ministerpräsidenten und adressiert an den Bayrischen Bauernverband. Darin gratulierte Franz-Josef Strauß dem „Bauern des Jahres 1983“ zu der Milchleistung seiner Kühe. Spektakulär. Als nächstes klickte sie auf ein Bild, das eine Gruppe von Männern zeigte, möglicherweise ein Landes- oder Bundeskabinett, nach dem Alter der Männer und ihrem erfahrenen Kamerablick zu schließen. Sie erkannte keinen von ihnen. Die nächsten Dokumente waren Briefe, Emails, Audiodateien, insgesamt mehrere Dutzend Dokumente, mit denen sie nicht viel anfangen konnte. Es hatte keinen Zweck, ohne fremde Hilfe würde sie niemals eine Struktur in die Daten bringen können. Sie dachte an Michi. Seine Fähigkeiten wären ideal für diesen Fall, aber es war unmöglich, ihn in diese Aufgabe einzuweihen. Sie machte sich weitere Notizen auf ihrem Block, schrieb ein paar Dateinamen Zeichen für Zeichen auf das Papier und notierte noch ein paar Fragen, auf die er vielleicht Antworten wüsste. Zumindest ein paar Insider-Infos, wie man mit einer so großen Menge von Dateien clever umging, das wäre schon ein Anfang. Es war gut, dass sie morgen ins Kino gingen, damit hatte sie nun fast 24 Stunde Zeit, weitere Fragen zu sammeln und Recherchen anzustellen, um ihm ihre Situation möglichst genau beschreiben zu können, ohne ihm den Inhalt ihrer Arbeit verraten zu müssen.

       Fehmarnwinkel, Kiel, Dienstag 21.47 Uhr

      „Dad, bist du morgen nachmittag dabei?“

      Jürgen Johannsen saß neben seinem Vater auf dem Sofa und schaute das „heute Journal“. Er interessierte sich nicht besonders für Politik, aber es war ein häufiges Ritual, gemeinsam die Spätnachrichten zu schauen, ehe sein Vater ihn darauf aufmerksam machte, dass er am nächsten Morgen früh raus und zur Schule musste und es daher Zeit war, zu Bett zu gehen. Sein Vater war nie besonders streng mit ihm gewesen, daher sah er keine Notwendigkeit, sich wie Julia gegen ihn aufzulehnen. Wenn sein Vater meinte, er solle zu Bett gehen, dann konnte er, wenn er wollte, noch stundenlang im Internet surfen, ohne dass er befürchten musste, dass seine Eltern in sein Zimmer kommen und mit ihm schimpfen würden. Außerdem war sein Vater in Ordnung. Er hatte ihm die Freude an Tennis und Golf nahe gebracht und damit einen Grundstein für seine derzeitige Freizeitgestaltung gelegt, wobei Tennis eindeutig die erste Geige spielte. Jürgen hatte es inzwischen in die zweite Mannschaft seines Vereins geschafft und war mehrmals die Woche beim Training und auf dem Platz. Jeden Mittwochnachmittag aber spielte er Golf. In seinem Heimatclub war mittwochs Herrenrunde, er war ebenso wie sein Vater und einige seiner Kollegen regelmäßig dabei. Während sein Handicap sich inzwischen der magischen 10,0 Marke näherte, lag das seines Vaters seit Jahren bei gut 20. Kein Wunder, verbrachte sein Dad jede freie Minute mit Arbeit und viel zu wenig Zeit auf dem Golfplatz. Aber das war seine Entscheidung, Hauptsache er hatte überhaupt ein Hobby, das nicht wie bei anderen Vätern aus Briefmarken sammeln oder Zeitung lesen bestand.

      „Ich glaube nicht, Jürgen. Ich sitze im Moment an einer Sache, die mich ziemlich gefangen nimmt.“

      In den Nachrichten lief gerade ein Bericht über das noch immer nicht aufgelöste Gefangenenlager Guantanamo Bay. Wohl deshalb hatte Martin Johannsens Unterbewusstsein ihm diese etwas überdeutliche Formulierung in den Mund gelegt. Aber sie war nicht falsch. Seine Gedanken kreisten um kryptische Dateinamen, ausgedruckte DIN A4 Seiten und viele Fragen, die ihm dazu durch den Kopf gingen.

      „Ist das wegen der NSA-Sache?“

      Er blickte seinen Sohn überrascht an.

      „Hat Mareike dir etwas erzählt?“, fragte er besorgt.

      „Nee, ich beherrsche das Einmaleins ganz von allein“, lachte Jürgen. „Wenn die Sache gerade auf allen Kanälen läuft und du von einem Tag auf den anderen an einer neuen Sache arbeitest, dann muss man kein Hellseher sein, um zu kapieren, was da läuft.“

      Seinen klaren Verstand hatte er von ihm geerbt, dachte Martin Johannsen.

      „Es wäre mir sehr recht, wenn du dies Dinge für dich behältst“, sagte er streng.

      „Dad, alles was ich wissen will, ist, ob du morgen beim Herrennachmittag dabei bist.“

      Mit einem abschätzenden Seitenblick fügte er hinzu: „Die Übung würde deinem Spiel jedenfalls gut tun.“

      Da hatte er einen Nerv getroffen. Seit dieser Saison lief es gar nicht bei seinem Golfspiel. Er war beruflich zu sehr eingespannt, fand kaum Zeit zum Trainieren und musste bei den wenigen handicap-wirksamen Golfrunden mit ansehen, wie sein Handicap Zehntel für Zehntel nach oben wanderte.

      „Ich spiele am Sonntag ein Benefiz-Turnier in Hamburg, vielleicht können wir am Samstag zusammen üben. Ich könnte einen Coach für mein kurzes Spiel brauchen“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Sein Sohn verdrehte die Augen.

      „Dad, Samstag ist Julias Turnier, außerdem muss ich morgens zum Tennis, da wird keine Zeit für Golf bleiben.“

      Julias Reitturnier, das hatte er ganz vergessen.

      „Ich hoffe mal, dass du das dick in deinen Kalender eingetragen hast!“

      Seine Frau war eben ins Zimmer gekommen und setzte sich neben ihm aufs Sofa. Er gab ihr einen Kuss auf ihre Wange.

      „Ganz dick mit drei Ausrufezeichen“, flunkerte er.

      „Das will ich sehen“, murmelte Jürgen, genervt von der Art, wie seine Eltern in letzter Zeit miteinander umgingen. „Wäre schön, wenn du morgen dabei bist, Dad. Gute Nacht.“

      Damit stand er auf und ging auf sein Zimmer. In den Nachrichten lief eben ein Hintergrundbericht über das neue Freihandelsabkommen. Es wurde die Frage aufgeworfen, wie Deutschland sich von den Amerikanern so über den Tisch