Thorsten Reichert

Status Quo


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an. Daher beschloss sie, zunächst ihren Magen zu füllen und sich dann ihrer Arbeit zu widmen. Sie ging in die Küche und schaltete das Radio ein.

       Spiegel-Redaktion, Hamburg, Dienstag 17.24 Uhr

      Auf der Schreibtischunterlage waren mit Kugelschreiber fünf Behörden gekritzelt: Bundesinnenministerium, Bundeskanzleramt, BND, BKA, LKA. Die ersten beiden waren doppelt durchgestrichen, die dritte kaum noch lesbar mit dickem Zickzack übermalt, die letzten beiden ebenfalls durchquert, jedoch nur einfach. Grit Junkermann blickte auf die Unterlage. Ob sie es nochmals versuchen sollte beim LKA Hamburg? Oder erst beim BKA? Eine Bundesbehörde machte pünktlich Feierabend, um diese Uhrzeit würde sie da nicht mehr viel erreichen. Sie hatte zu viel Zeit mit Internetrecherche und ziellosem Herumklicken bei Wikipedia vertrödelt, um diese Uhrzeit war kaum zu erwarten, dass sie heute noch einen Recherchedurchbruch erringen würde. Manchmal beneidete sie Friederike, die sich nur abends ins Hamburger Nachtleben werfen musste und am nächsten Tag genug Material für drei Kolumnen hatte. Nicht dass sie keinen Spaß an nächtlichen Vergnügungsoptionen einer Großstadt wie Hamburg hatte, aber sie trennte streng zwischen Privatem und Beruflichem. Diese Trennung würde auch jetzt, um halb sechs abends angebracht sein. Noch eine Stunde produktiv arbeiten, und sie hätte sich eine Verabredung verdient, wie sie gerade in ihren Gedanken ablief. Sie schüttelte sich und riss sich zusammen. Dann nahm sie das Telefon und wählte eine Nummer. Zu ihrer eigenen Überraschung war es weder die Nummer des BKA noch die des LKA Hamburg. Es war Leitners Nummer, ihr Kontaktmann beim LKA Schleswig-Holstein, Kiel, den sie seit Wochen zur möglichen Wiederaufnahme der Barschel-Sache auszuquetschen versuchte. Noch überraschter war sie, als er bereits beim zweiten Klingeln abnahm.

      „Oh, hallo Herr Leitner, Junkermann hier, ich hatte gar nicht erwartet, dass sie noch im Büro sind.“

      „Und deshalb rufen sie mich an, Frau Junkermann?“

      Sein Ton war ironisch, was durchaus nachvollziehbar war. Wenn man jemanden anrief, dann war es eigentlich normal, dass man davon ausging, denjenigen auch zu erreichen.

      „Ja, nein, also ich wollte nur nochmal fragen...“

      „Frau Junkermann, wie oft soll ich es ihnen noch sagen? Es gibt keine neuen Erkenntnisse und damit auch keinen neuen Fall Barschel. Der Mann ist tot!“

      Grit lachte.

      „Das hab ich meinem Chef auch gesagt, aber er hat sich damit leider nicht zufrieden gegeben.“

      „Das Leben läuft nicht immer so, wie Klatschreporter es sich erträumen.“

      „Ich bin keine Klatschreporterin!“, protestierte sie und fügte an: „Wenn ich das wäre, dann würde ich ihnen auflauern, sie in der Kneipe fotografieren und das Ganze mit der Schlagzeile „LKA-Ermittler über Barschel-Affäre zum Alkoholiker geworden!“ veröffentlichen.“

      Er schwieg einen Moment.

      „Soll das eine Art Drohung sein?“

      „Eher ein Scherz, um ehrlich zu sein. Herr Leitner, wir wollen doch alle nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt“, versuchte sie zu beschwichtigen.

      „Nur dass wir beim LKA besseres zu tun haben als Tote aufzuwecken – gerade jetzt.“

      Oha! Einen solchen Satz durfte man einer erfahrenen Journalistin gegenüber niemals sagen, die witterte hinter den letzten beiden Worten sofort eine Story.

      „Ja, klar, kann ich auch verstehen, Herr Leitner. Mit der NSA-Sache und so, ich nehme an, sie arbeiten da eng mit dem BKA zusammen...“

      Jetzt nur kein falsches Wort!

      „So kann man das nicht sagen, ich stecke da selbst auch nicht drin, das bearbeitet ein Kollege von mir...“

      „Achso, dann ist der nach Wiesbaden geflogen?“

      „Nein, er macht das hier im Haus.“

      Sehr interessant. Sie wusste sicher, dass die Dokumente direkt ans BKA gegangen waren, die würden die Akten niemals sofort wieder aus der Hand geben, schon gar nicht in den hohen Norden. Es musste sich um Kopien handeln, das würde bedeuten, dass mehrere Parteien an der Sache arbeiteten. Wenn neben dem BKA das LKA Kiel dran war, dann vielleicht sogar alle anderen LKAs. Das würde bedeuten, dass eine Menge dieser Dokumente im Umlauf waren und ihre Chancen auf eine undichte Stelle auf das bis zu sechzehnfache steigen könnte.

      „Vielleicht sollte ich mich mal direkt mit ihm in Verbindung setzen?“

      Es war eher eine Andeutung, keine direkte Frage. Aber sie war wohl direkt genug, um Hans-Gerhard Leitner vorsichtiger zu machen.

      „Mehr kann ich ihnen dazu wirklich nicht sagen, Frau Junkermann. Das ist selbst in unserem Hause eine ziemlich geheime Angelegenheit. Mein, äh, Kollege lässt da nichts anbrennen. Ich kann ihnen nur raten, in der Sache keine sinnlose Zeit zu vergeuden. Warum schreiben sie nicht über wichtige Themen wie den Hunger in Afrika?“

      Die gleiche Frage hatte sie sich in den letzten Wochen schon mehrfach gestellt.

      „Nochmal zurück zu Barschel: Gibt es eine finale Stellungnahme des LKA zu dem Fall oder gilt er als 'nicht abgeschlossen'?“

      „Weder noch. Alles, was es dazu zu sagen gibt, wurde bereits vor Jahrzehnten gesagt und geschrieben. Wir haben da keine Geheimnisse vor ihnen, machen sie keine faulen Hunde scheu.“

      Sie war sich ziemlich sicher, dass dieses Sprichwort ursprünglich anders lautete, fast ebenso sicher wie, dass es eine Menge Geheimnisse gab, welche das LKA einer Spiegel-Journalistin wie ihr niemals anvertrauen würde. Das Telefonat hatte ihr aber zwei hilfreiche Erkenntnisse geliefert: Es gab vermutlich mehr Anlaufstellen für ihre NSA-Recherche als sie befürchtet hatte, und es war an der Zeit, all ihre Barschel-Recherchen endlich einmal in eine sinnvolle Struktur zu bringen, um sich einen Überblick über den Fall und den damit verbundenen möglichen Artikel zu verschaffen.

       LKA Schleswig-Holstein, Kiel, Dienstag 18.10 Uhr

      An der Pinnwand hingen Dokumente aus dem Kieler Innenministerium, dem Landeshaus, dem Regierungspräsidium Schleswig, dem LKA Kiel und von weiteren Behörden des Landes. Martin Johannsen blickte auf die bedruckten Papierbögen und musste gestehen, dass die NSA ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Keines dieser Dokumente war öffentlich, auf einigen hatte dick „GEHEIMSACHE“ gestanden. Selbst in der in Text umgewandelten Kopie war dieses Wort in Kapitalen geschrieben, als solle es wie eine Trophäe den Schwierigkeitsgrad hervorheben, unter dem ein Geheimdienst an solche Akten gelangte. Die Tatsache, dass die Dokumente an der Pinnwand hingen, wies darauf hin, dass Johannsen sie als interessant einstufte. Doch keines zeigte sich auch nur ansatzweise so geheimnisvoll wie das allererste. Ein Memorandum des Innenministeriums, in dem das LKA um Mithilfe bei der Überwachung eines schmierigen Industriellen gebeten wurde, war sicherlich nicht ganz legal, aber es bot keinen Anlass, der Sache weiter nachzugehen; vor allem aber war es in sich schlüssig und ließ keine Fragen offen. Das Bart-Dokument dagegen hing in der Mitte der Pinnwand mit einem inzwischen dick gemalten roten Fragezeichen, das den Blick auf sich zog. Johannsen hatte eben damit begonnen, auf der Festplatte nach „Bart“ zu suchen, doch die Suchergebnisse sprengten wieder einmal jeglichen Rahmen. Versuchsweise Klicks auf einzelne Treffer brachten ihn nicht voran, er fand entweder geschwärzte Dokumente oder nutzlose Akten, die nichts mit Schleswig-Holstein oder gar einer Operation Hammelsprung zu tun hatten. Was er brauchte, war eine Suchmaske, mit der er gezielt nach Schlagwörtern oder Kombinationen von Schlagwörtern suchen konnte. Solange er die nicht hatte, war seine Arbeit nicht viel mehr als ein blindes Vorantasten.

      Sein Mobiltelefon klingelte. Es war Hans-Gerhard Leitner.

      „Martin, wo steckst du denn, dein Büro ist seit gestern verwaist – hast du die Arbeit mit nach hause genommen?“

      Sein Freund und Kollege klang verunsichert. Es war nicht Johannsens Art, andere im Ungewissen zu lassen, er arbeitete sonst immer transparent und hielt seine Kollegen auf dem Laufenden. Er hatte zwar seit heute früh sein Telefon auf den Apparat in seinem Kellerraum umgeleitet, doch Besucher seines Büros wussten nicht, wo sie ihn finden könnten. Er wollte nicht, dass jemand unangemeldet in seine