Thorsten Reichert

Status Quo


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ihre Arbeit beim BKA begann. Es schien ihr, als hätte er sich seitdem häufiger bei ihr gemeldet, doch das war vielleicht nur Einbildung. Vor einiger Zeit hatte er ihr einen guten Dienst geleistet, als er ihren neuen Laptop so bearbeitet hatte, dass sie sich vor keiner Hacker-Attacke fürchten musste. Egal, wo sie sich damit im Internet einloggte, es war nicht möglich, sich unerlaubten Zugriff auf ihren Computer zu verschaffen. Das war ihr besonders wichtig, weil sie gern ihre Arbeit mit nach hause oder bei schönem Wetter in die nahe ihrer Arbeitsstätte gelegenen Dambachtal Anlagen nahm und dort in der Sonne arbeitete und recherchierte.

      Ihre Gedanken schweiften ab, sie blickte aus dem Fenster auf sonnenbeschienene Dächer, es würde ein schöner Tag werden, ein Parktag. Doch sie würde es nicht wagen, mit einer Festplatte voller hochsensibler Daten in einen öffentlichen Park zu gehen und dort zu arbeiten. Vielleicht könnte sie am Nachmittag, wenn die Sonne auf ihren Balkon scheinen würde, nach hause fahren und dort arbeiten. Sie hatte einen Safe in ihrer Wohnung, es sollte unproblematisch sein, die Festplatte dort zu verwahren. Für den Augenblick musste sie ohnehin erst einmal die Frage lösen, wie sie ihre Arbeit anpacken sollte. Michi war keine Lösung, es würde das Ende ihrer Karriere bedeuten, würde auch nur der Verdacht aufkommen, dass sie einem Fremden Zugriff auf die Festplatte ermöglicht hätte. Die hauseigenen Techniker wären kaum in der Lage, innerhalb weniger Tage ein entsprechendes Suchprogramm zu erstellen, meist musste sie eine Woche oder länger warten, wenn sie eine ähnliche Anfrage an die Technikabteilung gestellt hatte. Die Uhren beim BKA gingen langsamer als bei anderen Polizeibehörden. Fälle, die beim BKA bearbeitet wurden, hatten nur selten die Dringlichkeit eines Mord- oder Einbruchdelikts. Eine Verzögerung von ein oder zwei Wochen war kein Problem, man hatte genug Fälle parallel laufen, um die Zeit sinnvoll nutzen zu können.

      Schließlich beschloss sie, mit ihrem Chef über die Sache zu sprechen. Vielleicht sah er eine Möglichkeit, wie sie ihre Aufgabe effizient strukturieren könnte. Sie wählte seine Nummer und wartete, während es tutete. Nach fünf Sekunden legte sie auf. Er war entweder beschäftigt oder nicht in seinem Büro. Sie verzog den Mund, überlegte und stand schließlich auf.

      „Zeit für einen Kaffee“, sagte sie zu sich selbst und machte sich auf den Weg zum Automaten.

       Spiegel-Redaktion, Hamburg, Dienstag 8.41 Uhr

      „Junkermann, guten Tag. Spreche ich mit dem zuständigen Leiter der Abteilung für politische Kriminalität?“

      „Das ist korrekt, und mit wem spreche ich?“, antwortete eine tiefe, männliche Stimme am andern Ende der Leitung.

      „Grit Junkermann, ich recherchiere im Fall der NSA-Dateneinsicht. Können sie mir...“

      „Dann wissen sie sicherlich, dass ich ihnen darüber keine Auskunft geben kann, Frau Junkermann“, fiel er ihr ins Wort.

      „Sie könnten mir wenigstens sagen, wer der Ansprechpartner für diese Angelegenheit ist und...“

      Wieder kam sie nicht dazu, ihren Satz zu beenden.

      „Frau Junkermann, ich denke, das Gespräch ist an dieser Stelle beendet.“

      Knack. Ihr Gegenüber hatte aufgelegt. Das war das fünfte Gespräch hintereinander, das diesen Verlauf genommen hatte. Bundeskanzleramt, Bundesinnenministerium, LKA Hamburg, BND und nun BKA. Es war deprimierend. Keine Tür wollte sich auch nur einen Spalt breit öffnen, damit sie ihren Fuß dazwischen bekommen könnte. Sie würde an anderer Stelle ansetzen müssen, sich vielleicht von ungewöhnlichen Seiten dem Thema nähern, nicht direkt in medias res. Die wenigen Menschen, die seit einigen Tagen mit den NSA-Daten zu tun hatten, waren sicherlich aufs Schärfste gebrieft worden, niemanden davon zu erzählen, schon gar nicht einer Journalistin. Doch es musste Menschen geben, die weniger direkt mit der Sache zu tun hatten. Mitarbeiter in Ministerien vielleicht, Leute aus diplomatischen Kreisen, mit denen sie als Journalistin schon immer einen entspannteren Kontakt gehabt hatte als mit Leuten der Legislative oder Exekutive. Vielleicht sollte sie im US-Konsulat anrufen und sich als LKA-Mitarbeiterin ausgeben, vielleicht hatte sie Glück und ein auskunftsfreudiger, nichtsahnender Mitarbeiter könnte ihr einen Namen, ein paar Infos oder was auch immer verraten. Sie sah ein, dass diese Idee eher in die Kategorie „Verzweiflungstat“ gehörte, und verwarf sie fürs erste. Sie öffnete den Internet-Browser auf ihrem riesigen, elegant geformten Computerbildschirm und begann, sich noch ein wenig tiefer in die Geschichte von BND und NSA einzuarbeiten. Wenigstens an dieser Stelle stand einem Recherchefortschritt nichts im Weg.

       LKA Schleswig-Holstein, Kiel, Dienstag 8.54 Uhr

      Als Martin Johannsen sein Büro betrat, roch es streng nach Toner. Er hatte die Tür wie üblich geschlossen und die Klimaanlage ausgeschaltet, als er gestern Abend nach hause ging. Auf eigenen Wunsch hin hatte er ein Büro ohne Fenster. Er wollte sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren und die Flächen der Wände für das Anbringen von Dokumenten, Brain Charts oder ähnlichem nutzen können, daher war ihm eine Klimaanlage lieber als ein Panoramablick über Kiel, den einige seiner Kollegen genießen konnten. Die Laserdrucker hatten ihre Papierkassetten leer gedruckt, insgesamt wohl gut tausend Seiten. Entsprechend roch es in dem knapp 30 Quadratmeter großen Raum. Johannsen schaltete die Klimaanlage auf Maximum und legte neues Papier in die Drucker. Sofort nahmen sie ihre Arbeit wieder auf. Damit es nicht zum Papierstau kommen könnte, hatte er die Auffangklappen für das bedruckte Papier abgenommen, so dass die Ausdrucke zu Boden gefallen und sich dort auf drei Haufen gesammelt hatten. Während die Drucker wieder auf Hochtouren liefen, nahm er sich einen der Haufen und legte ihn auf einen Ablagetisch in der Mitte des Raumes. Er hatte bei den Druckaufträgen darauf geachtet, dass Metadaten mit ausgedruckt wurden, also Name des Dokuments, Gesamtzahl der Seiten, aktuelle Seitenzahl, Druckdatum und einige weitere Daten. So konnte er mehrseitige Dokumente relativ leicht zusammensetzen, auch wenn sie in dem 400-seitigen Haufen nicht in exakter Druckreihenfolge lagen. Er begann, die Dokumente zu sortieren, ohne einen allzu konkreten Plan zu haben, welche Kriterien er dabei ansetzen sollte. Der Haufen, den er vor sich hatte, war der Druckauftrag des Suchvorgangs „Schleswig“ gewesen. Alle Dokumente in diesem Haufen hatten etwas mit Schleswig zu tun, entweder mit der Stadt oder dem Bundesland. Er sortierte alle komplett geschwärzten Dokumente auf einen Haufen, alle teilgeschwärzten auf einen zweiten und alle komplett lesbaren auf einen dritten. Nach wenigen Seiten unterteilte er diesen dritten Haufen nochmals in Emails, eingescannte Briefe und sonstige Textdokumente. Nach einer Viertelstunde hatte er fünf relativ gleich hohe Stapel vor sich. Noch wusste er nicht genau, was er damit wollte, aber eines war ihm klar geworden: Um alle Dokumente sinnvoll ordnen zu können, brauchte er Platz. Viel Platz. Er prüfte, dass die Drucker genug Papier hatten und die Ausdrucke noch keine Zeichen nachlassenden Toners zu sehen waren, dann schloss er sein Büro ab und nahm den Fahrstuhl in den Keller. Es gab dort abhörsichere Konferenzräume und Abstellkeller, die außer zur Lagerung von Papier oder Computern nicht genutzt wurden. Johannsen fand einen Raum, der sicherlich 60 Quadratmeter groß war und außer ein paar niedrigen Aktenschränken, einer handvoll rechteckiger Tische und alten Bürodrehstühlen nichts enthielt. Er bugsierte die Stühle auf den breiten Kellerflur, stellte die Tische zu drei langen Reihen zusammen und nahm die Poster von den Wänden, auf denen für Workstations, „neue“ Computersysteme und Büromöbel der 80er Jahre geworben wurde. Solche Poster waren vor 30 Jahren in gewesen, man war begeistert von der Vorstellung, dass eine Workstation 16 Megabyte Hauptspeicher haben konnte, eine angesichts der 80 Kilobyte, die auf eine damals übliche „Floppy Disk“ passten, unvorstellbar große Zahl. Für Martin Johannsen hatten diese Dinge nie besondere Bedeutung besessen. Er war erst mit Windows XP in das digitale Zeitalter eingestiegen, als innerhalb des LKA die endgültige Umstellung auf Intranetz, Email und digitale Signaturen vollzogen wurde. Vom Telefon, das an der Wand neben der Tür angebracht war, rief er den Techniker an und bat ihn, ihm einen Computer und ein Dutzend 1000er-Packungen Druckpapier in den Raum zu bringen. Außerdem solle er sich um die nutzlosen Bürostühle auf dem Gang kümmern. Als er wieder in seinem Büro war, hatten die Drucker bereits die nächste Ladung Papier verbraucht. Er beschloss, den Druckvorgang im Keller fortzusetzen. Die drei ausgedruckten Haufen stapelte er in einen dreistockigen Beistellwagen, um sie in seinen Kellerraum transportieren zu können. Unten traf er auf den Techniker, der bereits damit beschäftigt war, den PC anzuschließen. Er hatte ihn auf die hüfthohen Aktenschränke gestellt, die sich an der langen Wand