Thorsten Reichert

Status Quo


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dem Boden fortfahren müssen. Nachdem er auf diese Weise den „Schleswig“-Stapel so gut es ging abgearbeitet hatte (die teils und ganz geschwärzten Dokumente hatte er auf ihrem Stapel gelassen und die drei anderen Unterkategorien aufgehoben, so dass es jetzt für die ungeschwärzten Dokumente keine Unterteilungen mehr gab), wurde ihm klar, dass für die „Kiel“ und „Holstein“ Stapel kein Platz mehr für eine chronologische Sortierung war. Das war der Moment, in dem er fluchend im Raum stand, kaum in der Lage, einen Schritt zu gehen, weil fast der gesamte Boden zwischen den Tischen mit bedruckten Blättern bedeckt war. Die Drucker hörten nicht auf, immer neues Material auszuspucken, und sein Ansatz, eine sinnvolle Ordnung ins Chaos zu bringen, schien komplett fehlgeschlagen zu sein. Um ein noch größeres Durcheinander zu vermeiden, stakste er zu den Druckern und montierte die Auffangklappen wieder an, damit die bedruckten Blätter nicht weiterhin chaotisch zu Boden fielen. Dann arbeitete er die am Boden liegenden Haufen so schnell es ging ab und nahm zwischendurch die dicker werdenden Stapel aus den Druckerablagen, um Papierstau zu vermeiden. Er legte diese Stapel unsortiert und mit der bedruckten Seite nach unten auf einen Stapel, um auf diese Weise wenigstens chronologische Ordnung des Ausdrucks beizubehalten. Beim Abarbeiten dieser Stapel stellte er fest, dass er deutlich schneller voran kam als mit den chaotischen Haufen zuvor. Er gab außerdem das Vorhaben auf, sich zwischen den tausenden Seiten am Boden bewegen zu können, ohne versehentlich auf sie zu treten. Er zog seine Schuhe aus und lief strümpfig durch den Raum. Auf diese Weise kam er zügig voran, ohne die Blätter zu verknicken oder Schuhabdrücke darauf zu hinterlassen. Nun hatte er immerhin ein Arbeitstempo, welches den Laserdruckern überlegen war, so dass er zwischen dem gelegentlichen Abholen der neuen Drucke ein paar Minuten hatte, die Dokumente nicht nur zu sortieren sondern auch zu sichten. Für eine Analyse einzelner Blätter blieb jedoch keine Zeit, dazu waren nun auch die letzten Winkel des Raumes – selbst unter den Tischen – mit Blättern bedeckt. Eine neue Sortiermethode musste her. Johannsen nahm den Tacker von der Ablage und begann, die mehrseitigen Dokumente zusammenzuheften. Dann sortierte er auch sie auf die drei chronologischen Ablagen Kiel, Schleswig und Holstein. Auf diese Weise würde er am Ende neben den Stapeln mit geschwärzten Dokumenten nur noch drei Dokument-Reihen haben, eben die chronologisch sortierten Akten zu den drei Ortsnamen. Als den Laserdruckern einmal mehr das Papier ausging, nutzte er diese Zwangspause, um die chronologischen Ablagereihen von ihren bisherigen Ablagen auf die drei – nun freien – Tischreihen umzubeugen. Nach zwanzig Minuten war diese Arbeit abgeschlossen und das bislang letzte ausgedruckte Dokument geheftet und auf seine Position auf den Zeitstrahlen gelegt. Bevor er neues Papier in die Drucker legte, schaute er sich die Inhalte seiner angelegten Desktop-Ordner an. Er war noch immer am Ausdrucken der ersten drei Druckaufträge. Das waren innerhalb der Ordner jeweils ein paartausend Dokumente. Insgesamt befanden sich in den Ordnern mehrere hunderttausend Dateien. Sein Enthusiasmus erhielt einen kräftigen Dämpfer. Hatte er eben geglaubt, dem Chaos Herr werden zu können, so musste er erneut die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkennen. Nach dem Ausdrucken der verbleibenden Dokumente würden sich die Akten bis unter die drei Meter hohe Decke stapeln, abgesehen davon, dass dieser Vorgang geschätzte zwei Monate dauern würde. Dabei handelte es sich nur um eine minimale Auswahl an Dokumenten, nicht etwa um alle für Schleswig-Holstein relevanten Akten. Selbst wenn er den Druckvorgang erheblich beschleunigen und eine Lösung für die Lagerung der Dokumente finden könnte, es wäre unmöglich, sie alle einzeln zu sichten oder gar komplett durchzuarbeiten. Er musste sich damit abfinden, nur einen Bruchteil der Daten berücksichtigen zu können. Müde lehnte er sich gegen einen der Tische und betrachtete den Blätterwald. In dem Moment kam Furtwängler herein.

      „Hier bist du also, Martin. Du machst offenbar Nägel mit Köpfen. Wann hast du denn die ganzen Papiere ausgedruckt?“

      Herbert Furtwängler zeigte sich beeindruckt. Er wusste, dass er in Johannsen einen seiner besten und produktivsten Mitarbeiter hatte, aber dass er nach gut 24 Stunden einen Kellerraum mit ausgedruckten und offensichtlich bereits sortierten Dokumenten finden würde, damit hatte er nicht gerechnet.

      „Das ist erst der Anfang“, entgegnete Johannsen. „Ich hatte die Menge der Daten doch ein wenig unterschätzt, das hier ist nur ein winziger Bruchteil aller Daten.“

      Er deutete mit einer runden Armbewegung in den Raum. Im Licht der Neonröhren wirkten die Tische voller Akten wie eine Altpapierablage. Er fragte sich, ob die chronologische Sortierung angesichts etlicher Lagen an Dokumenten sinnvoll gewesen war.

      „Denkst du, du kommst mit der vorgesehenen Zeit hin?“, fragte Furtwängler und ergänzte: „Soll ich dir Leute zum zuarbeiten geben?“

      „Lass mal“, lehnte Johannsen ab. „Ich werde ein paar Nachtschichten einlegen, dann passt das schon.“

      Innerhalb der letzten Stunden hatte er sich bereits mit dieser Aussicht abgefunden. Zwar hatte er auch bereits überlegt, ob er zumindest für solche Dinge wie das Ausdrucken und Sortieren der Akten jemanden einbeziehen sollte, doch die überwiegende Arbeit würde von nun an ohnehin im Lesen und Verarbeiten der Dokumente bestehen, das konnte ihm niemand abnehmen.

      „Hauptsache du bist am Sonntag beim Turnier in Hamburg dabei. Ich habe angerufen und die Sekretärin gebeten, mich wie im letzten Jahr mit Steinheimer in einen Flight zu stecken. Du weißt schon, der ehemalige US-Konsul, ich möchte unbedingt, dass ihr euch mal kennen lernt.“

      Martin Johannsen war im Moment nicht nach Golf zumute, aber er hatte bereits vor Wochen zugesagt, mit seinem Chef bei dem Benefiz-Turnier in der Hansestadt teilzunehmen. Es war eine Menge Prominenz dabei, was bei ihm normalerweise einen gewissen Unwillen auslöste, weil er sich zu den Golfern zählte, die sich lieber dem Spiel widmeten als dem „Who is who“. Doch nach Furtwänglers Berichten von seinen Begegnungen mit James Francis Steinheimer hatte er tatsächliches Interesse daran, den Ex-Diplomaten einmal persönlich kennen zu lernen.

      „Sonntag ist fest eingeplant“, nickte er. „Am Wochenende wird ohnehin nicht viel Zeit für Arbeit bleiben, Julia hat Reitturnier, da muss die Familie anwesend sein.“

      „Ausnahmezustand, was?“, lachte Furtwängler. Er wusste, dass Johannsens Tochter derzeit ihre schwierige Phase hatte und dass Reiten für sie oberste Priorität genoss.

      „Ich sorge dafür, dass du hier unten zu jeder Tages- und Nachtzeit ungestört walten kannst, um das Wochenende ausgiebig genießen zu können. Wenn du was brauchst...“

      Den Rest des Satzes konnte sich Johannsen denken. Er nickte und sah seinem Vorgesetzten hinterher, als dieser zur Tür ging und sie hinter sich schloss. Nun war er wieder allein in seinem selbstgewählten Verlies, umgeben von streng geheimen Akten, von denen er noch immer keine Ahnung hatte, was in ihnen steckte. Es wurde Zeit, das herauszufinden. Er ging die drei Tischreihen entlang und betrachtete die Dokumente. Seine Idee, sie chronologisch zu sortieren, war nahe liegend aber möglicherweise nicht ideal gewesen. Eine thematische Sortierung hätte vielleicht mehr Sinne ergeben, aber er hatte keine Ahnung, wie er mithilfe der Metadaten eine thematische Einordnung hätte vornehmen können. Er nahm ein Dokument vom Ende des „Schleswig“ Zeitstrahls und betrachtete es. Der Inhalt war eine Email aus dem Jahr 2009, in welcher der Gerichtspräsident in Schleswig eine interne Mitteilung an seine Mitarbeitenden verfasst hatte. Ein vollkommen wertloses Blatt Papier. Johannsen ließ es zu Boden fallen. Er nahm das nächste Dokument, zwei zusammengeheftete Blätter mit einem Brief des Bischofs von Schleswig an seinen Kollegen in Hamburg. Wertlos. Er ließ es zu Boden fallen und nahm das nächste Dokument. Nachdem er zehn Akten durchgelesen und achtlos zu Boden geworfen hatte, wurde ihm klar, dass er einen Aktenvernichter brauchte, und zwar einen guten. Er suchte in benachbarten Kellerräumen und fand immerhin einen rollbaren Kunststoffcontainer, den er als vorläufigen Papierkorb benutzen konnte. Das LKA besaß eine eigene Abteilung für Aktenvernichtung, er musste den vollen Korb also nur gelegentlich von einem Mitarbeiter abholen und dorthin bringen lassen.

      Nach einer halben Stunde hatte sich der „Schleswig“ Zeitstrahl deutlich gelichtet. Ungefähr jedes zehnte Dokument schien es wert, weiterhin dort aufbewahrt zu werden, alles weitere war im Papiercontainer gelandet. Johannsen griff nach einer der wenigen, übrig gebliebenen Akten und las sie nochmals durch. Es handelte sich um ein internes Dokument des Bundesnachrichtendienstes aus dem Jahr 1987. Der Inhalt war minimal:

      „Operation Hammelsprung gescheitert.