Thorsten Reichert

Status Quo


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gewichen, dass nicht etwa nur die ohnehin nicht hoch angesehene NSA ihre Nase in alle deutschen Angelegenheiten steckte, sondern dass die deutschen Geheimdienste im Auftrag ihrer Regierung fleißig bei der Schnüffelei mitmischten. Hatte ihr Weltbild („Wir sind gut, die anderen werden es auch noch“) bis heute früh noch ein schönes Leben gehabt, welches nur hier und da im Lauf ihrer BKA-Ermittlungen ein paar kleine Macken erfahren hatte, so war es im Lauf der letzten Stunden komplett in sich zusammen gebrochen. Was sich hinter deutschen Geheimdienst-Vorhängen abspielte, das sprengte all ihre Vorstellungskraft, dabei hatte sie gerade erst begonnen, an der Oberfläche zu kratzen. Wütend zog sie das USB-Kabel aus ihrem PC und schloss die Festplatte in ihrem Büro-Safe ein. Was sie jetzt brauchte, war ein gemischter Salat und ein heißes Bad, um ihr emotionales Gleichgewicht wieder zu finden.

       Fehmarnwinkel, Kiel, Montag 21.34 Uhr

      Martin Johannsen saß im Auto und fädelte eben auf die vierspurige Straße ein, über die er in weniger als zehn Minuten zwischen Zuhause und Arbeitsplatz pendeln konnte. Seine Gedanken kreisten noch immer um die endlosen Trefferlisten in den Spähdaten. Das Gerede im Radio nervte ihn, so dass er gegen seine Gewohnheit den sonst sehr von ihm geschätzten Sender NDR Info abschaltete. Er brauchte Ruhe, um den Tag verarbeiten zu können. Noch wusste er nicht genau, was es zu verarbeiten galt. Es war ihm, als hätte jemand ihm eine Black Box vorgesetzt, ohne zu sagen, wie man sie ausliest und warum man sie ihm überhaupt anvertraut hatte. Ging es hier um Verbrechensbekämpfung? Um Aufklärung? Um Kriminalitätsprävention? Sollte er politische Intrigen aufklären oder Daten für die deutschen Geheimdienste aufarbeiten? Gehörte er zu den wenigen Auserwählten, denen man eine der heikelsten Missionen der deutschen Geschichte anvertraut hatte, oder war er eine menschgewordene Sackgasse für Daten, die man einfach nur unter den Teppich kehren wollte? War seine Aufgabe, etwas zu finden oder gerade nichts zu finden? Und wie könnte er überhaupt etwas in diesem Datendschungel finden, wenn alles vollkommen chaotisch und verwirrend sortiert und an entscheidenden Stellen noch geschwärzt worden war? Was erlaubte sich die NSA eigentlich, ihnen komplette Akteneinsicht zu versprechen und dann seitenweise schwarze Balken zu setzen?

      Nachdem er seiner Frau angekündigt hatte, dass es später werden könnte, hatte er noch eine Stunde mit dem Versuch zugebracht, eine Struktur innerhalb der Daten zu finden, dann war er vom vielen Klicken, Navigieren, Öffnen, Schließen und auf den Monitor Starren so genervt gewesen, dass er sich drei Laserdrucker organisiert und den Techniker gebeten hatte, sie an seinen Büro-PC anzuschließen. Er hatte sich einen Ordner auf seinem Desktop angelegt und damit begonnen, relevante Bild- und Textdokumente dorthin zu kopieren und von dort an den Laserdrucker zu senden. Im Gegensatz zu seinem Sohn war er ziemlicher Computer-Laie, erfahren genug, um Office, Mailprogramm, Internet und Suchfunktion bedienen zu können, aber trotz allem eher ein Freund analoger Technik. In seinem Büroschrank lag noch immer die gute, alte Adler Schreibmaschine, mit der er sich seit je her wohler gefühlt hatte als mit einer modernen PC-Tastatur. Anders als seine Kollegin beim BKA hatte er das Suchprogramm, welches auf der Festplate war, nicht entdeckt und bislang nur über die Suchfunktion des Windows Explorers nach Schlagwörtern gesucht. Da sämtliche Dateinamen aus scheinbar sinnlosen Zeichenkombinationen bestanden, bestanden seine Trefferlisten aus Treffern, welche innerhalb der Dateien gefunden worden waren. Er hatte zunächst die Suchbegriffe „Kiel“, „Schleswig“ und „Holstein“ eingegeben, und hunderttausende Textdokumente gefunden, in welche eines dieser Stichworte enthalten war: Emails, Word-Dokumente, eingescannte und in Text umgewandelte Briefe. Das war für den Anfang genug, um die drei Laserdrucker die Nacht über zu beschäftigen. Da die Drucker nur ca. 400 Blatt fassen konnten, würde nach gut 1.000 Seiten Schluss sein, Johannsen schätzte, dass er damit weniger als 0,1% der bislang im Druck-Ordner befindlichen Daten ausgedruckt hätte. Es würde immerhin reichen, ihn den Dienstagvormittag über zu beschäftigen, während die Drucker weitere Dokumente drucken würden. Sicherheitshalber hatte er sich vom Techniker sechs Extrapatronen Toner geben lassen, allerdings würde er für den Austausch der Kassetten wohl wieder auf dessen Hilfe zurückgreifen müssen.

      Er hatte die drei Druckaufträge gestartet und dann sein Büro abgeschlossen, nachdem er die Festplatte wieder in seinem Safe verwahrt hatte. Jetzt saß er in seinem Auto und schaltete die Zündung aus. Er hatte keine Ahnung, wie er nach hause gekommen war, seine Gedanken waren voll und ganz bei seiner nachmittäglichen Beschäftigung gewesen, sein Unterbewusstsein hatte mal wieder volle Arbeit geleistet, ihn sicher in seine Garage zu manövrieren.

      Als Martin Johannsen die Haustür aufschloss, wurde er von der lauten Stimme seiner Tochter empfangen, die aus dem Obergeschoss rief:

      „Ihr seid echt total krank, ich fass das einfach nicht!“

      Im Flur begegnete er seiner Frau, die sichtlich genervt einen Müllsack zur Tür trug.

      „Du kommst gerade recht, Deine Tochter hat mal wieder ihre fünf Minuten...“

      In solchen Momenten hatte er das Gefühl, dass ein Arbeitstag im Büro zu lange war, um mit den innerfamiliären Entwicklungen Schritt halten zu können. Er hatte keine Ahnung, worum es ging oder warum seine Tochter ihn und seine Frau als krank bezeichnete. Sein Kollege Leitner hatte kürzlich gemeint, das sei in diesem Alter normal, aber für Johannsen schien es durchaus nicht normal, wenn seine Tochter sich ihren Eltern gegenüber so respektlos verhielt. Vielleicht war das ein Zeichen, dass er zu altmodisch war. Für ihn gehörte es sich, dass man sich gegenseitig die Tür aufhielt, in den Mantel half oder „Gesundheit“ sagte, wenn jemand niesen musste. Er hatte in seinen wilden Jahren einige Male eine Tracht Prügel einstecken müssen, als er sich seinem Vater gegenüber respektlos verhalten hatte. Er war dadurch nicht zu einem gewalttätigen Menschen geworden, sondern war dankbar, seine Lektion gelehrt bekommen zu haben. Da seine Frau körperliche Erziehung nicht duldete, hatte er bei seinen eigenen Kindern versucht, sie durch vorbildhaftes Verhalten und gutes Zureden zu respektvollen Menschen heranwachsen zu lassen, doch das war ihm bereits bei seinem älteren Sohn Jürgen nur bedingt gelungen, bei Julia schien diese Taktik vollkommen ins Leere zu laufen.

      „Was ist denn los?“, fragte er, während er seiner Frau in die Küche folgte.

      „Julia will ihr eigenes Pferd und kann kein „nein“ akzeptieren. Es gibt noch ein paar Nudeln, soll ich sie dir in die Mikrowelle schieben?“

      Er war immer wieder erstaunt, wie seine Frau innerhalb eines Satzes das Thema wechseln konnte, ohne auch nur Luft geholt zu haben. Er blickte auf den Teller mit Nudeln und Käsesoße, den sie aus dem Kühlschrank geholt hatte und fragte: „Wie kommt sie denn auf einmal darauf, ein eigenes Pferd haben zu wollen?“

      „Martin, das geht doch schon seit Monaten so. Heute hat Ingrid im Stall wohl erzählt, dass sie ihr Pferd verkaufen will...“

      „Warum das denn?“, fiel er seiner Frau ins Wort. Ingrid war eine Bekannte aus dem Reitstall, soviel wusste er immerhin. Dass es Frauen gab, die sich freiwillig von ihrem Pferd trennen würden, war nach den Erfahrungen, die er bislang mit dem Thema gemacht hatte, erstaunlich.

      „Sie zieht nach Hamburg und will ihr Pferd nicht mitnehmen. Frag mich nicht, ich stecke da auch nicht drin.“

      Sie schob den Nudelteller in die Mikrowelle, ohne nochmals nachzufragen.

      „Jedenfalls hat sie Julia gefragt, ob sie das Pferd kaufen will, und die ist natürlich jetzt Feuer und Flamme.“

      „Wenn sie ihr eigenes Geld verdient, kann sie damit machen, was sie will. Bis dahin wird sie sich mit den Entscheidungen ihrer Eltern zufrieden geben müssen.“

      Martin Johannsen liebte klare Gedankengänge und stringente Argumentationen. Seine Tochter würde das eines Tages zu schätzen wissen, auch wenn sie jetzt seine Hartnäckigkeit verfluchen sollte. Es war ihm wichtig, nicht in jeder Auseinandersetzung gleich nachzugeben.

      „Du kannst ja versuchen, ihr das schonend beizubringen“, sagte seine Frau mit einem nicht zu überhörenden Unterton, der ihre heimliche Freude verriet, die sie bei der Vorstellung an das bevorstehende Gespräch hatte.

      „Das besprechen wir in Ruhe am Wochenende, Julia sollte sich unter der Woche ohnehin mehr auf die Schule konzentrieren.“

      Er versuchte,