eine davon in falsche Hände geraten ist.“
Von dieser Seite hatte Johannsen die Sache noch nicht betrachtet. Er hatte die Einsicht in die Abhördaten als überfällige und notwendige Sache gehalten. Dass sie gerade durch das Föderalsystem in Deutschland, durch das die Daten nun als Kopie an die LKAs in allen sechzehn Bundesländern geschickt werden mussten, zu einem Sicherheitsrisiko werden könnte, war ein neuer Gesichtspunkt, den wohl nur wenige vor Augen hatten, als sie die Vereinbarung vor dem Hintergrund des neuen Freihandelsabkommens getroffen hatten.
„Ich lege diese Verantwortung in deine Hände“, fuhr der LKA-Chef fort.
„Je weniger Menschen darauf Zugriff haben, desto besser. Vielleicht ist es am besten, wenn du dich der Aufgabe allein widmest. Am besten am Zweit-PC in deinem Büro, der an kein Netzwerk angeschlossen ist.“
Johannson nickte.
„Ich werde es genau so machen. Der Safe in meinem Büro sollte sicher genug sein für die Aufbewahrung.“
„Natürlich hat diese Sache oberste Priorität, ich werde Leitner fragen, ob er deine Aufgaben in der Zwischenzeit übernehmen kann.“
„Drei Wochen sind ja keine Ewigkeit“, sagte Johannsen, mehr zu sich selbst, als eine Art Selbstvergewisserung, dass seine Familie höchstens drei Wochen lang noch weniger von ihm zu sehen bekommen würde als ohnehin schon.
„Ehrlich gesagt, je früher wir die Festplatte zurück senden, desto besser. Ich will, dass du dich wirklich nur auf die Dinge konzentrierst, die eine strafrechtliche Relevanz haben und die dann auch juristisch verwertet werden können. Alles andere ist nur Verlockung, von den verbotenen Früchten zu kosten.“
Furtwängler brachte es auf den Punkt. So verlockend es war, zu erfahren, was und wen die Amerikaner jahrzehntelang belauscht hatten, dieses Wissen brachte mit ziemlicher Sicherheit nichts ein. Aber wer weiß, vielleicht ließ sich damit ja immerhin manche Frage klären, auf die es bislang keine Antwort gab – und sei es nur die Frage, wer Heide Simonis damals die Stimme verweigert hatte...
„Also, bitte keine Staatsaffären, Martin.“ Es war fast schon gespenstisch, wie Furtwängler manchmal die Gedanken seines Gegenübers zu lesen schien.
„Du kannst dich auf mich verlassen, ich werde mich sofort dran setzen.“
Damit war die Unterhaltung beendet, 14 Minuten nachdem sie begonnen hatte. Johannsen nahm die Festplatte in die Hand und ging zurück zu seinem Büro. Es war kein ungewöhnlicher Vorgang, dass jemand auf den Gängen des LKA mit einer Festplatte zu sehen war, aber er fühlte sich, als würden alle Augen sich auf das kleine Metallgehäuse richten, das er so fest umklammert hielt, dass seine Finger anfingen zu schwitzen. Als er in seinem Büro angekommen war, zeigte die große Uhr an der Wand 10:57 Uhr an. Er verwahrte die Festplatte in dem mit Fingerabdruck und zusätzlicher sechsstelliger PIN gesicherten Safe seines Büros und nahm um Punkt 11 Uhr im Konferenzraum Platz.
BKA, Wiesbaden, Montag 12.48 Uhr
Stefanie Wohlfahrt war deprimiert. Vor vier Stunden hatte sie den Auftrag ihres Lebens erhalten, die Sichtung eines Datenberges an streng geheimen Akten, wie ihn kein Normalsterblicher je zu Gesicht bekommen würde. Einen Vormittag später war ihr klar, dass diese Aufgabe eine Sisyphosarbeit sein würde, bei der noch nicht einmal klar war, was genau das Ziel war, das es zu erreichen galt. Die Daten auf der Festplatte waren in hunderte von Unterordnern einsortiert, ohne erkennbare Struktur. Die einzelnen Dateien hatten keine sinnvollen Namen sondern bestanden aus ellenlangen Zahlen- und Buchstabenkombinationen. Die Dokumente waren weder geografisch noch chronologisch sortiert, hatten keinen Index und waren bunt gemischt. Es gab Szenen aus Überwachungsvideos, Telefonmitschnitte, eingescannte Briefe, Emails, sonstige eingescannte Dokumente, Bilder, Standbilder aus Videos, Abschriften von Telefongesprächen oder Unterhaltungen, abfotografierte, handschriftliche Notizen und jede Menge von der NSA verfasste Textdokumente. Es war, als hätte man sämtliche Dinge, die sich im Laufe eines langen Lebens ansammeln, in eine riesige Kiste geworfen und hätte kräftig geschüttelt. In einem Ordner waren hunderte eingescannte Schwarzweiß-Bilder aus den 60er Jahren zu finden, im nächsten Ordner Emails aus dem Mailkonto des Innenministers der Schröder-Ära, dann ein Ordner voll abfotografierter Gesetzesvorlagen, die wohl nie umgesetzt worden waren. Und als ob das nicht genug Chaos wäre, gab es keinen Ordner, in welchem nicht kräftig geschwärzt worden war. Manche Bilder zeigten nur komplettes Schwarz, in vielen Dokumenten waren einzelne Zeilen, ganze Abschnitte und teilweise sogar das gesamte Dokument in der bekannten Weise dick durchgestrichen, so dass eine Rekonstruktion des Originaltextes unmöglich war. Die NSA verstand unter „Offenlegung der Akten“ offenbar etwas grundlegend anderes als das BKA. Die einzig gute Nachricht war, dass eine Software beilag, mit welcher man die Daten durchsuchen konnte. Sie erlaubte das Eingeben von „Tags“, um zum Beispiel alle für Rheinland-Pfalz relevanten Daten herauszufiltern, oder die Eingabe eines speziellen Suchbegriffes. Stefanie Wohlfahrt tippte testweise „BKA“ ein und erhielt nach kurzer Suche knapp hinderttausend Treffer. Sie klickte auf eines der Resultate und öffnete damit ein internes Memorandum des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 1988 zum Thema „Systematisches Doping in der DDR?“. In den unten angegebenen Tags stand neben DDR, Doping, Bundesinnenministerium und einigen anderen auch Bubka. Daher also das „BKA“. Offenbar konnte die Suchsoftware nicht unterscheiden zwischen einem Tag und einer Buchstabenfolge innerhalb eines Tags. Sie gab „Bundesinnenministerium“ ein und erhielt mehr als 150.000 Treffer. Aus Spaß probierte sie noch einige andere Suchbegriffe und fand heraus, dass „deutsch“ und „bund“ mit gut 20 Millionen bzw. knapp 30 Millionen Treffern zu den wohl häufigsten Schlagwörtern in den Abhördokumenten gehörten. Erst jetzt machte sie sich langsam die gigantische Menge an Daten klar, die sie da vor sich hatte. Der Begriff Sisyphosarbeit brachte das nicht einmal ansatzweise zum Ausdruck. Sie hatte hier solch unfassbare Mengen an Daten vor sich, dass sich darin die Tagebücher Adolf Hitlers verbergen könnten, ohne je von ihr gefunden zu werden. Um sicher zu gehen, gab sie „Hitler“ ein und fand immerhin noch einige tausend Treffer. Ein rasches Überfliegen der Trefferliste legte nicht nahe, dass seine Tagebücher dabei waren. Sie gab „Hitler“ & „Tagebücher“ ein und erhielt diesmal nur noch 178 Treffer. Der nächste Versuch, „Hitler“ & „Tagebücher“ & „1983“ erzielte noch 86 Treffer, darunter Kopien der Stern-Artikel und der BKA-Stellungnahme vom 6. Mai 1983, in welcher die Tagebücher als Fälschung entlarvt worden waren. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass dies in ihrer Ausbildung einmal Thema gewesen war, eine der glorreichsten Stunden ihres heutigen Arbeitgebers. Der letzte Treffer in der Liste war ein Tondokument, welches ein Telefonat zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Chefredakteur des Sterns beinhaltete. Sie doppelklickte, und der Mediaplayer öffnete sich. Zu hören war allerdings nur extrem verzerrtes Rauschen. Sie zog das Dokument auf den Desktop und öffnete es mit einem Spezialprogramm, welches sie oft nutzten, um aus Abhörbändern Geräusche herauszufiltern oder die Abspielgeschwindigkeit zu manipulieren. Doch egal was sie versuchte, sie hörte nur ein Geräusch, das ihr Ohrenschmerzen bereitete. Der Pegel des Dezibelmessers schlug voll aus. Es sah so aus, als sei das Gespräch bewusst verzerrt worden, ähnlich wie etliche Textdokumente mithilfe der schwarzen Balken unbrauchbar gemacht worden waren. Sie musste schmunzeln, als sie sich vorstellte, dass der Herr Doktor Kohl bei diesem Anruf vermutlich nicht allzu gut gelaunt war und dass es deshalb vielleicht besser war, den Wortlaut nicht hören zu können.
Eine halbe Stunde und ein paar Dutzend Bild- und Tondokumente später hatte Stefanie Wohlfahrt die Gewissheit, dass sich jemand bei der NSA ziemliche Mühe gegeben hatte, besonders interessante Dokumente oder Passagen unkenntlich zu machen. Die ganze Datenöffnungs-Geschichte war eine einzige, sinnlose Farce. An sechzehn Computern in allen Ecken Deutschlands saßen in diesem Moment LKA-Mitarbeiter und vergeudeten ebenso wie sie ihre Zeit mit dem ziellosen Eingeben von Tags und Suchbegriffen. Sie schloss den Windows Explorer, klemmte die USB-Festplatte ab und erstellte eine Rundmail an alle LKAs. Darin bat sie um Rückmeldung bis Ende der Woche, ob in den Akten kriminalistisch relevante Daten gefunden worden wären und bis wann eine Rücksendung der Festplatte absehbar sei. Sie las die Email noch zweimal durch, korrigierte einen Rechtschreibfehler, überlegte kurz, ob ihr Ton zu oberlehrerinnenhaft klang und fand, dass ihr das eigentlich ziemlich egal war, dann klickte sie auf „Senden“.