Thorsten Reichert

Status Quo


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zögerte einen Moment, weil er sich noch keine Gedanken gemacht hatte, in welchem Maße er seine Frau ins Vertrauen ziehen wollte. Er hatte keine Geheimnisse vor ihr, aber je weniger detailliert er mit ihr über die NSA-Sache sprach, desto besser würde er auch in dieser Sache Arbeit und Privates trennen können. Mit dieser Taktik hatte er die letzten 25 Dienstjahre gut überstanden. Seine Frau wusste meist nur grob, woran er arbeitete und musste keine Angst vor Alpträumen oder hinterlistigen Attacken haben, wenn er mal wieder einer Schlepperbande oder sonstigen Schwerkriminellen auf der Spur war. Seit er in der Abteilung für politische Kriminalität war, hatte das Gefahrenpotential seiner Arbeit abgenommen, doch es war ihm lieber, wenn seine Familie so gut wie möglich von den unschönen Geschichten fern gehalten wurde, die er tagtäglich auf dem Schreibtisch hatte.

      „Schon gut, brauchst es nicht zu erzählen.“

      Seine Frau nahm den Teller aus der Mikrowelle und setzte sich mit ihm an den kleinen Küchentisch.

      „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, beschwichtigte er. „Wir haben diese NSA-Daten bekommen, und ich soll mich da reinarbeiten.“

      „Und, wer hat Kennedy erschossen?“

      Er blickte seine Frau verwirrt an. Sie lachte und nahm sich einen Apfel aus der Obstschale, die in Griffweite auf der Küchenablage stand.

      „Ich dachte, die wollten euch kompletten Einblick geben?“

      „Aber nur in das, was sie bei uns abgehört haben. Ich glaube nicht, dass da etwas zum Kennedy-Attentat dabei ist. Überhaupt glaube ich kaum, dass die NSA weiß, wer Kennedy erschossen hat. Obwohl...“

      Er war kein Freund von Verschwörungstheorien, daher schenkte er den Menschen, die hinter dem Attentat in Dallas eine politische oder geheimdienstliche Verschwörung sahen, keine besondere Aufmerksamkeit. Aber nachdem er nun dabei war, das Ausmaß der NSA-Aktivitäten der letzten 50 Jahre zu erfassen, musste er sich zumindest eingestehen, dass, wenn überhaupt jemand mehr über das Kennedy-Attentat wusste als gemeinhin bekannt war, dass die NSA sicherlich die beste Adresse hierfür war.

      „Um ehrlich zu sein, da steckt weniger drin als man glaubt. Ich soll die Sachen in den nächsten zwei Wochen durcharbeiten und dann ans BKA zurückschicken. Fertig.“

      Das „Fertig“ bezog sich dabei sowohl auf seinen Bericht als auch auf das Gespräch an sich. Mehr musste seine Frau nicht wissen, und mehr wollte sie vermutlich auch nicht wissen.

      „Wie war's beim Arzt?“

      Seine Frau biss in den Apfel und fragte sich vermutlich, ob sie eine ähnliche Geheimniskrämerei über ihre Angelegenheiten betreiben wollte wie ihr Mann über seine. Sie beschloss offensichtlich, es ihm gleich zu tun, wenn sie antwortete knapp „Alles ok“, stand auf und räumte den leeren Nudelteller in die Spülmaschine.

      So funktionierten die Ehegespräche im Hause Johannsen. Man schmiss sich kein Porzellan an den Kopf, wie es bei einem Ehepaar in der Nachbarschaft nicht selten vorkam, man empfing sich nicht wild knutschend an der Haustür, wenn der Ehemann nach einem langen Arbeitstag nach hause kam. Alles lief bei ihnen etwas ruhiger ab. Für Aufregung sorgte ihre Tochter zur Genüge.

      Tag 2

       BKA, Wiesbaden, Dienstag 7.59 Uhr

      Eine Minute vor 8 Uhr betrat BKA-Ermittlerin Wohlfahrt ihr Büro. Sie hatte schlecht geschlafen, doch ihre emotionale Aufgewühltheit hatte sich ein wenig gelegt. Ihre Aufgabe war nicht, sich ein moralisches Urteil über ihre Fälle zu bilden, sondern ihre Arbeit schnell und ordentlich zu erledigen. Da diese Arbeit für die nächsten Wochen ausschließlich aus der NSA-Sache bestand, hatte sie heute keine Termine, keine Treffen, Sitzungen oder sonstige Dinge, die sie von ihrer Aufgabe ablenken könnten. Sie schaltete ihren Büro-PC ein und rief ihre Mails ab. Neben einigen internen Nachrichten, die sie ignorieren konnte, lagen zwei Rückmeldungen von Landeskriminalämtern im Posteingang. Das ging ja schnell, sie hatte nicht vor Ende der Woche mit den ersten Antworten gerechnet. Das LKA Berlin schrieb in einer knapp gefassten Nachricht, dass sie wichtigeres zu tun hätten als sich durch einen unendlichen Datenwust zu wühlen, in dem ohnehin nichts steckte, was man nicht längst wusste oder vermutete. Sie könne die Festplatte Ende der Woche wieder haben. Das LKA Baden-Württemberg schrieb, dass es vollkommen aussichtslos sei, die Menge an Daten in dieser kurzen Zeit abzuarbeiten. Man wolle die Aufgabe ernst nehmen und hätte daher beschlossen, ein Team von Fachleuten zusammenzustellen, welches Anfang der kommenden Woche ihre Arbeit aufnehmen und die Daten strukturiert sichten und durcharbeiten würde. Es sei zum momentanen Zeitpunkt nicht möglich, die Dauer einer solchen Arbeit abzuschätzen, der Verfasser der Nachricht ginge aber nicht davon aus, dass dies innerhalb eines Jahres möglich sei. Stefanie Wohlfahrt seufzte. Das war zu erwarten gewesen. Einige LKAs würden eine solche Gelegenheit nutzen wollen, sich so lange durch die Daten zu arbeiten, bis sie ihre Vorbehalte gegen amerikanische Geheimdienstarbeit endgültig bestätigt sähen und am Ende noch eine juristische Auseinandersetzung mit den USA heraufbeschwören könnten. Die Anweisung lautete aber, solchen Impulsen nicht nachzugehen, sondern lediglich eine grobe Sichtung der Daten vorzunehmen und den Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Sie überlegte kurz, ob sie eine entsprechende Antwort verfassen sollte, entschied sich dann aber, die Mail an ihren Chef weiterzuleiten, damit dieser sich mit den Kollegen in Baden-Württemberg in Verbindung setzen könnte. Gerade die Schwaben, dachte sie. Die nahmen mit ihrer sprichwörtlichen Gründlichkeit natürlich alles besonders genau. Ihr Chef Mayer sollte sich mit denen rumschlagen und sie einnorden. Mit einem kurzen Vermerk leitete sie die Mail an ihn weiter und holte anschließend die Festplatte aus ihrem Safe. Sie musste sich nun ein System überlegen, nach dem sie vorgehen würde, überlegte sie, während sie die Harddisk an ihren PC anschloss. Die Suchmaske, welche die NSA den Daten beigelegt hatte, war vollkommen ungeeignet, um sinnvolle und zielführende Resultate zu erzielen. Mit den Datei- und Ordnernamen war überhaupt nichts anzufangen, zumindest solange es nicht irgend einen Schlüssel gab, mit dem man ihre Ziffernkombinationen entschlüsseln konnte. Sie bräuchte eine eigene Such- oder Sortiersoftware, welche die Daten in eine chronologische, geografische oder thematische Struktur bringen würde, mit Unterkategorien wie „Videos“, „Tonbänder“, „Bilder“, „Texte“ usw. Das wäre eigentlich die ideale Aufgabe für Michi, dachte sie. Leider war die Sache viel zu heikel, um ihren Nerd-Kumpel dort hinein zu ziehen. Michi war ihr in den letzten Jahren einige male sehr nützlich gewesen, als er ihr bei technischen Fragen geholfen oder für sie Daten zugänglich gemacht hatte, die sie mit ihren beschränkten Mitteln nicht hätte bekommen können. Sie hatte ihn nie danach gefragt, ob er dabei ausschließlich legale Methoden genutzt hatte, bei seinen ausgeprägten Computerkenntnissen hätte sie sich aber nicht gewundert, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre. Sie hatte daher nur seine Hilfe in Fällen erbeten, in denen sie es moralisch für angemessen erachtete, dass man notfalls juristische Gratwanderungen vollführte, um ein besonders verwerfliches Verbrechen aufklären zu können. In ihrem jetzigen Fall ging es nicht um Triebtäter, Frauenhandel oder Drogen. Ein Überschreiten moralischer oder juristischer Grenzen, um den Fall zu beschleunigen, würde ihrem Arbeitsethos widersprechen. Sicherlich, das Programmieren einer besseren Suchmaske wäre alles andere als illegal, doch sie müsste dazu eben einem Menschen Zugriff auf die Festplatte gewähren, dem sie – wären sie nicht seit vielen Jahren befreundet – in jeglichster Form misstrauen würde. Michi war das genaue Gegenteil von ihr. Während sie in der Schule jeden Tag für ihre guten Noten büffeln musste, war ihm alles in den Schoß gefallen. In sämtlichen naturwissenschaftlichen Fächern hatte er eine 1, ohne auch nur ein einziges Mal für eine Klausur gelernt zu haben. In anderen Fächern war es ihm egal, ob er eine 4 oder 5 im Zeugnis stehen hatte, sein Notendurchschnitt reichte dank seiner ausgeprägten mathematischen Ader für eine Versetzung und schließlich zu einem bestandenen Abitur, alles andere war ihm egal gewesen. Schon in der Oberstufe hatte er mit einem Kumpel einen Hacker-Wettbewerb laufen, bei dem sie sich Zugriff auf die damals noch kaum geschützten PCs der Schulleitung verschafft hatten – zumindest hatte er das behauptet. Sie glaubte es ihm aufs Wort, vermutlich war das einer der Gründe, warum in deinem Abitur-Zeugnis in Notendurchschnitt von 2,1 gestanden hatte. Mit einer 1 in Mathe und Physik war das nicht zu erklären, wenn jemand sonst nur unterdurchschnittliche Noten abgeliefert